sondern sich mit einer alten Ölsardinenkonserve überm kleinen Feuer zu behelfen wissen. Erhart Kästner reiste mit Wehmut gegen den Fortschrittsstrom der Zeit. Er fand sanfte rebellische Worte für den Verfall der Gegenwart - das "Weltbanale" -, während er die zeltgroßen Erinnerungsflecken eines wahren Lebens umkreiste.
In den linken intellektuellen Erregungen der Bundesrepublik stand er wie ein Pfadfinder: Er hielt die Mitte zwischen Heidegger und Bloch ein, zwischen Sein und Spur. Einer der schönsten Buchtitel der Bundesrepublik lautet: "Aufstand der Dinge". Eine letzte Utopie in den von Modernisierungsschüben durchrüttelten und in den langen Gängen der Institutionen versandenden siebziger Jahren: Es werden nicht die Arbeiter, sondern die versklavten Dinge sich eines Tages befreien und das Joch des weltweiten Verwertungsinteresses abschütteln. Das Prinzip Flohmarkt.
Erhart Kästner wurde heute vor hundert Jahren, am 13. März 1904, in Augsburg geboren. Ein Jahr vor seinem Tod, am 3. Februar 1974, war im Insel Verlag der "Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen" erschienen. Das Buch war in den Augen seines Verfassers nur ein antizyklisches Resümee, ein Alterswerk. Kästner überließ sich keinen Hoffnungen, damit noch starke Resonanz zu erzielen. Doch es kam anders. Mehrere tausend Exemplare waren rasch verkauft, und das nicht nur dank der treuen Lesergemeinde, die ihn seit seinem ersten Buch begleitete. Der Kästner-Leser war einer, der sich lieber etwas im bürgerlich-bedächtigen Abseits der Stille und der Nachdenklichkeit hielt, als mit der Mode zu flirten und zu rennen. Einer, der sich am Arm des freundlichen Erdenbruders vom heiligen Geist unterhängte, den er als einen souveränen Begleiter auf den schmalen Wegen der wenigen schätzte, während er der Meute der blinden Experten, alle am Gängelband des Wissens, eher mit Mißtrauen nachblickte.
Kästner hatte Germanistik bei Korff, dem Verfasser der mehrbändigen Studie "Geist der Goethe-Zeit", studiert. Er absolvierte darauf eine Ausbildung als Bibliothekar an der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden. Die Bücherliebe bekam hier im Archiv Hand und Fuß. Im Jahr 1934 wird er Leiter der Handschriften-Abteilung, 1936 und 1937 weilt er, der zur Bewunderung alter Meister fähig ist, als Sekretär bei Gerhart Hauptmann. 1940 wird er zum Kriegsdienst in der Wehrmacht einberufen. Ein Jahr darauf kommt er nach Saloniki-Athen zum Luftgaukommando SO II, in dessen Auftrag er ein Buch über Griechenland schreibt. Es folgt ein zweiter Auftrag für ein Buch über die griechischen Inseln. Kästner fährt nach Samos, Chios, Lesbos, Kreta, Rhodos, Leros, Kalymnos, Kos und Patmos. Auf Rhodos wird er von den Engländern gefangengenommen und in ein Gefangenenlager in der ägyptischen Wüste gebracht.
Sonne, Sand und Sterne: Erhart Kästner schreibt in der Wüste sein "Zeltbuch von Tumilat", das im November 1947 - im Februar des Jahres war er aus der Gefangenschaft entlassen worden - bei Insel erscheint, seinem Hausverlag. Der Verleger Siegfried Unseld wird an Erhardt Kästners Grab eine Rede halten. Das Besinnungstagebuch über das unbehauste einfache Dasein und die Wahrheiten der Kunst legte den Grundstein für die Kästner-Gemeinde, die in den Ruinen saß.
Kästner hat rege am literarischen Leben der Bundesrepublik in den fünfziger und sechziger Jahren teilgenommen, hat Literaturpreise erhalten und bei deren Vergabe mitgewirkt, so als Paul Celan 1958 mit dem Bremer Literaturpreis und zwei Jahre später der junge Uwe Johnson für sein Buch "Mutmaßungen über Jakob" mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet wurde. Schon 1950 rühmte er Heideggers Vortrag über "Das Ding".
Er hielt die Verbindung zu dem Philosophen, der in den frühen Jahren der Bundesrepublik wegen seiner berüchtigten Rektoratsrede an der Universität in Freiburg im Jahr 1933 nicht von allen Seiten mit offenen Armen empfangen wurde. In seinem Brief an Hermann Mörchen vom 15. Mai 1958 findet sich dazu eine fatale Bemerkung: "Was Sie sonst von Heidegger zu erzählen wissen, interessiert mich aufs höchste. Die Kluft zu Jaspers finde ich angemessen, die gegen Löwith, Adorno und was noch weiter remigriert ist, halb richtig, halb tut es mir leid." Woher kommt dieses letzte "was"?
Von 1950 bis 1968 arbeitete Kästner als Direktor die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, der er neuen Glanz bescherte. Heute steht Helwig Schmidt-Glintzer der Bibliothek vor. Er hat zum hundertsten Geburtstags Kästners eine kleine Auswahl aus dessen wenigen, recht überschaubaren Schriften vorgelegt, eine freundliche Gabe, in der auch jener Brief an Hermann Mörchen abgedruckt ist. Im wiederum sehr schmalen Briefwechsel mit Heidegger, der als Buch erschien, mußte Kästner gegen Lebensende zur Kenntnis nehmen, daß dem verehrten Philosophen die Nähe, die Kästner selbst zu ihm zu spüren meinte, nicht ganz angemessen schien. Martin Heidegger quittierte den "Aufstand der Dinge" und die dort vorgetragene Kritik an den modernen Wissenschaften mit der Bemerkung, es sei darüber doch von ihm, Heidegger, tiefer nachgedacht worden.
Erhart Kästner: "Man reist, um die Welt bewohnbar zu finden". Lebensbilder und Bewunderungen. Zusammengestellt und herausgegeben von Helwig Schmidt-Glintzer. Mit einem Essay von Arnold Stadler. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2004. 240 S., geb., 14,90 [Euro].
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