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Produktdetails
  • Verlag: Manutius
  • ISBN-13: 9783934877085
  • ISBN-10: 3934877087
  • Artikelnr.: 09964873
  • Herstellerkennzeichnung
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001

Ich forsche nur in den Zwischenräumen
Ohnsorgtheater: Heinz Dieter Kittsteiner deutet das Komma von Sanssouci / Von Patrick Bahners

Im "Rechtshistorischen Journal" hat Heinz Dieter Kittsteiner 1999 der Historikerzunft vorgeworfen, daß sie ein Tabu über die Geschichtsphilosophie verhängt habe. Die Ganzheitsbegriffe kehrten als undurchschaute "Hintergrundmetaphern" zurück, um sich für ihre Verbannung zu rächen. So sei Hans-Ulrich Wehler, als er die "Lebensbilanz" seines Lehrers Theodor Schieder zog und zu dem Ergebnis kam, die lange "Lernphase" nach 1945 müsse stärker zu Buche schlagen als die kurze Verirrung des Fachmanns für Volkstumskämpfe, in die Theodizee-Falle gestürzt: "Das größtmögliche Übel des Jahrhunderts mußte gegen seine Absicht mitwirken, damit aus einem deutschen Historiker dann doch noch etwas ganz Ordentliches werden konnte."

Wehler drehte in seiner Replik den Methodenspieß um: Kittsteiner, der sich am kulturhistorischen Methodenstreit mit einem einzigen "schlanken Beitrag" beteiligt habe, sei der "Aufstieg vom Allgemeinen zur konkreten Forschung offenbar fremd geblieben". Eine Herausforderung war Wehlers letztes Wort: "Wie wäre es mit einem konkreten Stück Kittsteinersche Kulturgeschichte, auf der Höhe des gegenwärtigen Reflexionsniveaus selbstredend und geschichtsphilosophisch vom Meister selbst inszeniert, damit man endlich einmal, über den postulatorischen Duktus hinaus, in einen Leistungsvergleich eintreten könnte?"

Zwei Jahre später liegt es vor uns, das konkrete Stück. Und wieder ist es nur ein schlanker Beitrag. Ein Buch zwar, aber nur ein Strich im Regal. Doch in dieser Form ist die Studie dem Gegenstand kongenial, dem Komma von SANS, SOUCI. In seinem Anti-Wehler hatte Kittsteiner Max Weber zitiert: "Was Gegenstand der Untersuchung wird, und wie weit diese Untersuchung sich in die Unendlichkeit der Kausalzusammenhänge erstreckt, das bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen." Welche Wertidee kann den Forscher bestimmen, der das Komma, das in der Inschrift auf dem Mittelrisalit der Fassade des Schlosses Friedrichs des Großen zu Potsdam die beiden Wörter SANS und SOUCI trennt, zum Gegenstand einer Abhandlung macht?

Vorderhand ist nicht zu erkennen, in welcher Beziehung ein Satzzeichen, das keine Bedeutung hat, sondern in seiner Funktion aufgeht, zu welchem Wert auch immer stehen sollte - zumal im vorliegenden Fall schon als zweifelhaft gelten muß, ob es überhaupt eine Funktion hat. Es macht ja noch nicht einmal einen Punkt. Einen Punkt gibt es zwar auch, hinter dem Wort SOUCI, und alle Erklärungen, die Kittsteiner für die Existenz des Kommas in Erwägung zieht, sollen sich auch am Punkt bewähren. Wenn zum Thema aber der Beistrich wird, der dem Wertvollen und Ideenreichen eben nur beigegeben wird, dann kann man dafür auf den ersten Blick nur eine denkbar allgemeine Wertidee in Anschlag bringen: den Gedanken, daß alles, was existiert, der Forschung würdig ist.

Von dieser Wertidee läßt sich sagen, daß der Fortgang der Untersuchung sie bestätigt. Befriedigt kann der Verfasser feststellen: "Da grundsätzlich alles erforscht wird, gibt es auch eine ,Geschichte der Interpunktion im Deutschen'." Was ist Forschung? Entgegen Wehlers popularphilosophisch-optimistischer Theorie vom "Aufstieg" des Forschers vom Allgemeinen zum Konkreten ist Forschung die Absenkung des Einzelnen in tieferliegende Zusammenhänge. Jede Aussage eines Forschers muß begründet, auf einen allgemeineren Satz zurückgeführt werden. Wo findet man das Tiefe? Unten. Forschung erkennt man daran, daß sie auf Fußnoten gegründet ist.

Diese Operationalisierung des Satzes vom zureichenden Grund (der, gelehrt von Wolff, den Friedrich zurückholte, eine doppeldeutige Rolle in einer der von Kittsteiner erwogenen Komma-Begründungen spielt) treibt Kittsteiner so weit, daß er auch einen Grund für den Umstand angibt, daß er über das Komma etwas wissen wollte. Fußnote 134: "Alle Menschen sind von Natur aus eifrig bemüht ums Wissen. Aristoteles, Metaphysik." Hier biegt sich der Spaten um: Der Forscher ist auf den Granit seiner Wertidee gestoßen.

Als einen Forschungsbericht bezeichnet Kittsteiner sein Werk, und triumphal demonstriert er die Autonomie dieses gelehrten Genres. Die Erträge der Forschung (und wäre diese Rezension ein Literaturbericht mit Fußnoten, so verwiese jetzt eine Anmerkung auf die gleichnamige verdienstvolle Reihe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, wie eben in Kittsteiners Forschungsbericht zum Hinweis auf die wunderbaren Wege der Forschung der Verweis auf die andere, nicht minder verdienstvolle Darmstädter Reihe gehört) - die Erträge der Forschung Kittsteiners also sind nicht zu trennen vom Bericht über ihre Erwirtschaftung. Popper führt Kittsteiner im Munde, um stillschweigend die Unterscheidung von context of discovery und context of justification als unhaltbar zu erweisen.

Denn löst man die Hypothesen über das Komma aus dem Forschungsbericht, aus dem syntaktischen Zusammenhang sozusagen, wirken sie sogleich abstrus. Das Komma heißt französisch virgule, von lateinisch virgula, Stäbchen. OHNE STÄBCHEN SORGEN? Kittsteiner hat das Gerücht ausgegraben, als Kronprinz sei Friedrich Opfer eines ärztlichen Kunstfehlers geworden, dessen Ergebnis er überinterpretiert habe. Aber würde selbst der philosophischste der Könige Grund haben, an der Fassade seines Lustschlosses seiner Machtlosigkeit zu gedenken? Sollte man nicht OHNE STÄBCHEN OHNE SORGEN erwarten? Zu diesem Satz gelangte man nur, wenn man die Inschrift zweimal läse. Die Gültigkeit derselben Leseanweisung wäre zu unterstellen, damit die zweite Lesart Sinn ergäbe, die auf eine unglücklicherweise erst nach dem Schloßbau im diplomatischen Verkehr Europas belegte Geheimschrift zurückgreift. Auf Empfehlungsschreiben soll das Komma den Calvinisten und der Punkt den Deisten bezeichnet haben. OHNE CALVINISMUS OHNE SORGEN DURCH DEISMUS. Welchen Grund gäbe es für die Lizenz der doppelten Lektüre? Höchstens, daß das Metallstäbchen dem Schloßbesucher erst beim zweiten Hinsehen auffällt.

Diesen prima facie aberwitzigen Hypothesen wächst durch den Bericht über ihre Entstehung eine merkwürdige Plausibilität zu oder doch der täuschend echte Widerschein, das Simulacrum der Plausibilität - gerade weil der Bericht streng genetisch verfährt, alle Abwege und Umwege verzeichnet. Die Thesen klingen weit hergeholt, denn sie sind es. Die Fundstellenchronik retuschiert nichts, verzeichnet auch den "Schnipsel, der nur in einer Fotokopie auf mich gekommen ist, bei der leider die rechte untere Ecke umgeknickt ist, so daß nun die Rückseite des Zeitungsausrisses, nicht aber das Ende des mich interessierenden Textes kopiert ist". Jeder Mitforscher wird an dieser Stelle ausrufen: Wahrlich, so sieht eine Forscherwerkstatt aus! Das Selbstgespräch, das der Forscher mit seinen Fußnoten führt, ist keine Technik der Selbstdisziplinierung. Im Gegenteil wird er von der Welle seiner eigenen Hypothesenbildung fortgerissen. In Fußnote 120 versagt er es sich noch, über die Namensähnlichkeit von Katte und de Catt zu räsonnieren, hundert Fußnoten später bekennt er dann doch, es habe ihn stutzig gemacht, daß der Erfinder der Geheimschrift, Vergennes, wie das Stäbchen heiße: "Wäre hier nicht eine prästabilierte Harmonie" der beiden Komma-Theorien "zu erforschen?"

Für Kittsteiners Forschung liefert die Theodizee die Vordergrundmetapher. Daß nichts sinnlos gewesen sein kann, ist die gemeinhin geheime, von Kittsteiner offenbarte Prämisse der Geschichtswissenschaft. Nicht vorgesehen ist die Möglichkeit, daß auf dem königlichen Befehl gar kein Komma gestanden, daß sich eine böswillige Fliege auf dem Papier niedergelassen haben könnte. Daß die Betrachtung des unverrückbar Konkreten die allgemeinsten Schlüsse über Triebe und Glauben des Schloßherrn an den Tag bringt, der an der Fassade seine Signatur hinterlassen hat, das ist keine Hypothese mehr, sondern das Bild, zu dem der Forschungsbericht sich rundet. In einem Aufsatz über Kants Theorie des Geschichtszeichens hat Kittsteiner einen Satz aus Benjamins Passagen-Werk zitiert: "Der Grübler, dessen Blick, aufgeschreckt, auf das Bruchstück in seiner Hand fällt, wird zum Allegoriker." Daß Friedrich das Geheimnis seiner Existenz vor aller Welt so aufgeschrieben hat, daß es niemand lesen konnte, ist wahr als Allegorie des Philosophenkönigslebens.

Wenn aber das Komma, das zwischen SANS und SOUCI eine Zäsur setzt, ein Innehalten markiert, das nur dem Atemholen dient, wenn diese Sinnlücke den Grübler aufschreckt, dann wird der Forschung der Feueratem nicht ausgehen, bis, wie es in Fußnote 243 ein anderer Satz des Passagen-Werks sagt, "die ganze Vergangenheit in einer historischen Apokatastasis in die Gegenwart eingebracht ist". Die apokatastasis panton, die Rettung aller, war ein häretischer Gedanke, der am Hofe Friedrichs I. schon gedacht worden ist. Bis ins Preußenjahr 2001 wartete er auf seine Erlösung durch Säkularisierung. Niemand wird verdammt, war die Verheißung des Origenes, nichts wird vergessen, ist die Botschaft seines Jüngers Kittsteiner. Wieso schenkte Gott dem Forscher die Sorgfalt? Damit er ohne Sorge sei.

H. D. Kittsteiner: "Das Komma von SANS, SOUCI." Ein Forschungsbericht mit Fußnoten. Manutius Verlag, Heidelberg 2001. 92 S., Abb., geb., 29,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Patrick Bahners liest das schmale Büchlein als Produkt einer Herausforderung. Kittsteiner hatte sich mit dem Historiker Hans-Ulrich Wehler angelegt und für eine Neubeschäftigung mit der Geschichtsphilosophie gestritten. Geschichtsphilosophisch fündig geworden ist Kittsteiner nun ausgerechnet am denkbar kleinsten Objekt, dem Komma, das, aus welchem Grund auch immer, in der Potsdamer Schlossinschrift zwischen das Sans und das Souci geraten ist. Dieser "welche Grund auch immer" ist justament das, was Kittsteiner interessiert. Er bietet mögliche Erklärungen - die Bahners "prima facie aberwitzige Hypothesen" nennt - und schreibt dann, wie er, forschend, an sie geraten ist: und so, im Mitberichten über ihre Entstehung, erhalten sie, meint Bahners, plötzlich "eine merkwürdige Plausibilität". Einzig der eine denkbare, aber eben sinnlose Grund, "dass sich eine böswillige Fliege auf dem Papier niedergelassen haben könnte", ist in Kittsteiners historischem Universum, in dem, geschichtsphilosophisch eben, alles seinen Grund haben soll, "nicht vorgesehen". So Bahners. Ob er jedoch Scherz treibt oder es Ernst meint mit seinem Lob für die Kittsteinersche Rettungstat, das wird in der schelmischen Rezension nie ganz klar.

© Perlentaucher Medien GmbH"