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Durchgesehene und erweiterte Neuausgabe
Michel Leiris wird gerade wieder neu entdeckt: als Kronzeuge kolonialer Raubkunst. Tatsächlich wird man kaum einen Autor finden, der die fragwürdigen Praktiken bei der Aneignung von Objekten durch Ethnografen in Afrika - Rettung durch Raub - so freimütig aus der Täterperspektive schildert. Die Ethnologen haben ihn nach diesen Enthüllungen zuerst als unseriösen »Literaten« verunglimpft, um Phantom Afrika (1934) später zum Vorbild für eine experimentelle Ethnografie in der ersten Person zu erklären. Aus heutiger Sicht bietet das von Surrealismus und…mehr

Produktbeschreibung
Durchgesehene und erweiterte Neuausgabe

Michel Leiris wird gerade wieder neu entdeckt: als Kronzeuge kolonialer Raubkunst. Tatsächlich wird man kaum einen Autor finden, der die fragwürdigen Praktiken bei der Aneignung von Objekten durch Ethnografen in Afrika - Rettung durch Raub - so freimütig aus der Täterperspektive schildert. Die Ethnologen haben ihn nach diesen Enthüllungen zuerst als unseriösen »Literaten« verunglimpft, um Phantom Afrika (1934) später zum Vorbild für eine experimentelle Ethnografie in der ersten Person zu erklären. Aus heutiger Sicht bietet das von Surrealismus und Psychoanalyse inspirierte Tagebuch des Sekretärs der legendären, staatlich finanzierten Forschungs- und Sammlungsreise von Dakar nach Djibouti (1931-1933), der ersten und größten dieser Art, vielleicht noch grundlegendere Einsichten in die Paradoxien der Feldforschung im kolonialen Zeitalter. Denn der Surrealist mit Tropenhelm ist vor allem eins: schonungslos. Genauso wie die Methoden der Wissenschaftler seziert er seine Widersprüche und Obsessionen, dokumentiert seine exotistischen und kolonialistischen Vorstellungen. Zum Antikolonialisten wurde Leiris erst durch diese Erfahrung. So wird der Leser Zeuge, wie ein weißer europäischer Mann, der sich in Afrika auf die Suche nach Grenzerfahrungen macht, am Ende vor allem seine inneren Dämonen kennenlernt - nicht die schlechteste Voraussetzung, um die Geister und die Poesie der »Anderen« zu erforschen.

In den 1980er Jahren Kultbuch der bundesrepublikanischen Ethnoboom-Generation, war die deutsche Übersetzung von L'Afrique fantôme seit Langem vergriffen. In dieser u. a. um Leiris' Briefe an seine Frau erweiterten Neuausgabe wird das so singuläre wie epochale Zeugnis der Widersprüche des Kolonialismus zwischen Gier nach Besitz und Sehnsucht nach Besessenheit nun endlich wieder verfügbar.
Autorenporträt
Michel Leiris wurde 1901 in Paris geboren. Er identifizierte sich in den 1920er Jahren mit der kulturellen und politischen Revolte der Surrealisten, zuerst in der Gruppe um André Breton, dann an der Seite von Georges Bataille. Nach seinem Studium der Ethnologie (1933¿1938) arbeitete er bis 1971 im Musée de l¿Homme. Reisen führten ihn auf die Antillen, nach China und nach Kuba. Als Autobiograph und Ethnograph, Dichter und Essayist begeisterte er sich für subversive Wortspiele, den Jazz, die Malerei, den Stierkampf wie für die Oper und war zudem ein früher Kritiker von Kolonialismus und Rassismus. 1950 erschien »Ethnographie und Kolonialismus«, die erste kritische Analyse der kolonialen Verstrickung des Faches. Nach Phantom Afrika (1934) spaltete er sein Werk, verfasste die ethnographischen (vor allem afrikanistischen) Arbeiten u.a. über die Geheimsprache der Dogon oder den äthiopischen zar-Besessenheitskult in seinem Büro im Souterrain des Musée de l¿Homme und die autobiographischen und literarischen Schriften im Schlafzimmer seiner Wohnung. Beide Seiten seines Werks waren dennoch immer aufeinander bezogen. Bei Matthes & Seitz erschienen zwischen 1982 und 1999 die Übersetzungen der vier Bände von Die Spielregel (Streichungen, Krempel, Fibrillen und Wehlaut, dt. von Hans Therre), außerdem der surrealistische Roman Aurora (1979) und Der Spiegel der Tauromachie (1982). Michel Leiris starb 1990 in Paris, seine zentrale literarische Maxime lautete: »Keine schöne Lüge produzieren, sondern eine Wahrheit, die ebenso schön wäre wie die schönste Lüge.« Rolf Wintermeyer, 1948 geboren, lebt in Paris, Professor für Germanistik und Übersetzer u. a. von Michel Leiris¿ Ethnologischen Schriften. Irene Albers ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und für Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin. 2018 erschien Der diskrete Charme der Anthropologie ¿ Michel Leiris¿ ethnologische Poetik bei Konstanz University Press. Tim Trzaskalik, 1970 in Bonn geboren, ist Autor und Übersetzer. Er lebt und arbeitet im Finistère und im hessischen Hinterland.  Hans-Jürgen Heinrichs, 1945 in Wetzlar geboren, ist freier Schriftsteller und Ethnologe mit ausgedehnten Reisen in Afrika, im Vorderen Orient und Pazifik, lebte lange Zeit in Spanien, Amsterdam, Rom und Paris, und wohnt seit 2008 in Berlin. Er ist Autor eines breiten kulturtheoretischen Werks und hat zahlreiche Prosa- und Essaybände publiziert sowie Biografien (u.a. über Leiris, Bataille, Lévi- Strauss, Frobenius, Morgenthaler) und Gesprächsbände, u.a. mit Peter Sloterdijk, Georges-Arthur Goldschmidt, Gerhard Roth, und 2006 im Antje Kunstmann Verlag Schreiben ist das bessere Leben. Er ist auch Herausgeber vieler Werk-Editionen. Irene Albers ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und für Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin. 2018 erschien Der diskrete Charme der Anthropologie ¿ Michel Leiris¿ ethnologische Poetik bei Konstanz University Press.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2022

Heilige Dinge kauft man doch nicht

Eine ethnographische Initiation besonderer Art: Michel Leiris' Feldtagebuch der Expedition von Dakar nach Djibouti in einer exzellenten neuen deutschen Ausgabe.

Als die Debatte über die Rückgabe von afrikanischen Objekten, die ihren Weg in europäische Museen zu Zeiten kolonialer Unternehmungen gefunden hatten, vor einigen Jahren Fahrt aufnahm, kam gleich ein berühmtes Buch ins Spiel. Es war auch naheliegend, in diesen Diskussionen auf "L'Afrique fantôme" hinzuweisen, Michel Leiris' 1934 veröffentlichtes Feldtagebuch, das er als Mitglied einer knapp zwei Jahre dauernden französischen ethnographischen Expedition quer durch das subsaharische Afrika von Dakar nach Djibouti verfasst hatte. Offen wird da geschildert, wie die Expedition, die vor allem für das neu zu gestaltende Ethnologische Museum in Paris sammelte, ihre zuletzt über 3500 Objekte anhäufte. Es wurde aufgekauft, was irgendwie interessant erschien, und es wurde auch gepresst und geklaut, wo selbst mit mehr oder minder erzwungenen Verkäufen nicht durchzukommen war. Letzteres betraf vor allem Gegenstände, die für die kolonisierten Einheimischen hohen Ritual- und Sakralwert hatten.

Wohl am bekanntesten wurde die Schilderung der Entwendung solcher heiligen Objekte bei den Dogon im westlichen Französisch-Sudan (heute Mali). Leiris, der dezidierte linke Antikolonialist, ist da selbst mit von der Partie, wie in anderen Fällen auch, um diese Stücke einzusacken. Gar nicht unbedingt deshalb, weil ihm der hehre wissenschaftliche Sammlungszweck die Mittel zu heiligen scheint - obwohl auch das offizielle Argument der Rettung von Zeugnissen bald ausgelöschter kultureller Praktiken zum Zug kommt -, sondern weil er in einer merkwürdigen Gegenrechnung das mit dem Raub begangene Sakrileg als angemessene Inbesitznahme von sakralen Gegenständen empfindet, "die zu kaufen", wie er in einem Brief schreibt, "tausendmal schmählicher wäre, als sie zu stehlen".

Womit man schon bei den Eigenheiten dieses Autors ist, der gerade dreißig Jahre alt geworden war, als er als Sekretär und Archivar der Expedition Dakar-Djibouti nach Afrika aufbrach: ein noch junger Schriftsteller, von der surrealistischen Bewegung geprägt, großbürgerlicher Kommunist schon damals, Verächter Europas und seiner zivilisatorischen Parolen, begeistert dafür von schwarzem Tanz und Jazz, noch kein Ethnologe, aber ethnologische Literatur als Mittel ergreifend, das bleiche Europa genauso hinter sich zu lassen wie eine als uneigentlich und bloß literarisch empfundene, auf Imagination und Wortkunst bauende persönliche Existenz, vor der es ihm ekelt.

Also nicht unbedingt ein Mann, den man als Archivar und Sekretär einer solchen Expedition in staatlichem Auftrag erwartet. Aber da kam ins Spiel, dass die Ethnographie in Frankreich institutionell noch wenig gefestigt war, was wiederum die für sie typischen Verknüpfungen mit dem literarisch-künstlerischen Feld förderte - und von ihnen profitierte der junge Leiris, der wohl über seine Tätigkeit als Redakteur der avantgardistischen Zeitschrift "Documents", die auch Ethnographisches im Programm hatte, um den bloß schönen Künsten zuzusetzen, Anschluss an die Organisatoren des Ethnologischen Museums fand, aus dem 1937 dann, Vorzeigeprojekt des Front Populaire, das Musée de l'Homme wurde.

Was mit "Phantom Afrika" aus dieser Konstellation hervorging, ist ein hervorstechendes Stück Bekenntnisliteratur - Rousseau ist für Leiris ein verehrter Pate - und gleichzeitig ein Dokument zu Selbstverständnis und Praxis dieser französischen Ethnographie der Vorkriegsjahre. Vor allem Ersteres geht freilich einer Wahrnehmung verloren, die den Text lediglich als Zeugnis für den kolonialen Raub von Kunst- und Kulturgütern heranzieht.

Irene Albers merkt das zu Recht im Vorwort zu der von ihr betreuten neuen Ausgabe von "Phantom Afrika" an. Die Berliner Romanistik-Professorin, als Kennerin von Leiris und seines Umfelds bestens ausgewiesen, hat nicht nur erreicht, dass das seit geraumer Zeit vergriffene Buch - 1980/84 noch mitten im "Ethnoboom" bei Syndikat erschienen, ein Jahr später von Suhrkamp übernommen - wieder aufgelegt wurde. Es ist vielmehr, auf den Spuren inzwischen erschienener französischer Editionen, eine bedeutend erweiterte Ausgabe geworden.

Zur revidierten Übersetzung kommen nun in den Marginalspalten Auszüge aus Briefen, die Leiris in Afrika schrieb, dazu seine eigenen Anmerkungen zu den französischen Ausgaben. Die Anmerkungen der Herausgeberin verarbeiten zusätzlich Quellen wie Logbuch, Agenda, Listen und Karteiblätter der Expedition, samt Abgleich der von Leiris erwähnten Objekte mit den Beständen im heutigen Musée Quai Branly, erläutern bündig die kolonialen Konstellationen, mit denen es die Expedition zu tun bekam, und verweisen auf später erschienene Texte von Leiris. Ein stattlicher Anhang präsentiert zudem Texte rund um die Expedition, in der Mehrzahl von Leiris selbst - von einer Ankündigung 1930 bis zum Waschzettel der späten Ausgabe von "Phantom Afrika" 1981 -, aber etwa auch die Gesetzesvorlage, die eigens für sie 1931 im Palais Bourbon auf den Weg gebracht wurde. Der Kontrast ist schlagend zwischen den im parlamentarischen Antrag formulierten Zielsetzungen einer "Ethnologie der primitiven Völker" - als Beitrag zum "Studium des vor- und frühgeschichtlichen Menschen" - und Leiris' Erwartung, der präformierenden "weißen Mentalität", die in solcher Abdrängung der kolonisierten Indigenen in eine Vorgeschichte mit exotischem Reiz zum Ausdruck kommt, gerade zu entkommen.

Die Herausgeberin verdient großes Lob für diese Edition, die sich neben den kommentierten französischen Ausgaben dieses kanonischen Texts behaupten kann, sie an einigen Stellen sogar ergänzt. Und auch der Verlag ist zu loben, der immerhin sein in den späten Siebzigerjahren entworfenes Logo dem 1933 erschienenen Expeditionsbericht in einem Heft der Zeitschrift "Minotaure" verdankt: eine kopierte Felszeichnung der Dogon, mit der sowohl auf den dissidenten Surrealisten Leiris verwiesen war wie auf die ethnographische Komponente der Avantgarde.

Dass Leiris' Text ein "Zeugnis der Widersprüche kolonialistischer Ethnographie" sei, wie es auf dem Buchrücken eingeprägt steht, formuliert allerdings zu viel und zu wenig in einem. Zum einen kann man kaum von "der" kolonialistischen Ethnographie sprechen, zum anderen sind die ganz konkreten Widersprüche, die in "Phantom Afrika" ausgetragen werden, zu keinem kleinen Teil erst einmal solche von Leiris, selbst wenn sie sich von objektiven Widersprüchen seiner damaligen Position nicht abtrennen lassen. Es ist nicht "die Ethnographie", die sich in das Protokollieren von Beschneidungsritualen und dann immer mehr von Besessenheitskulten stürzt, sondern der ethnologische Lehrling Leiris, der sich auf dieses Unternehmen einlässt, weil er die Hoffnung auf eine persönliche Verwandlung hegt - eine Hoffnung, die er freilich selbst von Anfang an misstrauisch hin und her wendet.

"Phantom Afrika" ist rückblickend der Auftakt für die autobiographischen Texte, mit denen Leiris dann nicht zuletzt zu seinem Rang als Autor kam; als "Sonntagsschriftsteller", wie er es später formulierte, der aus der Ethnologie nach seiner Rückkehr aus Afrika als Leiter der Afrika-Abteilung des Musée de l'Homme einen soliden, ihn mit seinen Routinen sichernden Beruf gemacht hatte. Verglichen mit den späteren ethnographischen Ausarbeitungen seiner während der Expedition begonnenen Feldforschungen, fällt der Text zwar ins literarische Fach. Doch die tiefe Aversion gegen Romanhaftes, gegen das mehr oder minder literarisierende Reise-, sprich Abenteuerbuch steht hinter der Entscheidung, die Aufzeichnungen weitgehend unbearbeitet zum Druck einzurichten.

In dieser Form enthalten sie keine einfache Lektion. Auch jene nicht, die hervorzuheben Leiris manchmal neigte, nämlich die der Einsicht, dass es mit der Verwandlung, dem Loskommen von den Prägungen eben nichts wird, dass der Zurückkehrende also zumindest "einen Mythos umgebracht (hatte), jenen der Reise als Mittel des Ausbruchs". "Phantom Afrika" ist nicht einfach eine solche Ernüchterung, sondern viel eher eine Folge von Auf- und Abschwüngen, von immer wieder geweckten Erwartungen - in sakral gesättigte Lebenswelten und poetische Weltverhältnisse einzudringen, Geheimnissen auf die Spur zu kommen - und ihrer skeptischen Einklammerung; nicht einmal als ethnographische Lehrjahre, die Leiris hier zweifellos hinter sich brachte - Praktiken der Feldforschung verwünschend und gleichzeitig vertiefend -, lassen sie sich ohne Weiteres lesen.

Aber ob man diese Aufzeichnungen nun mehr mit Fokus auf Leiris liest oder eher als Dokument, das dieses "journal intime" durch seine Ungeschminktheit auch wurde - man kann es nun in einer deutschen Ausgabe tun, die man nicht mehr erwartet hatte. HELMUT MAYER

Michel Leiris: "Phantom Afrika".

Hrsg. von Irene Albers. Aus dem Französischen von R. Wintermeyer und T. Trzaskalik. Nachwort von H.-J. Heinrichs. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022. 968 S., Abb., geb., 68,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Wer wissen will, wie das koloniale Frankreich afrikanische Kunst raubte, sollte die redigierte und erweiterte Neuauflage des Tagebuchs von Michel Leiris lesen, empfiehlt Rezensent Jonathan Fischer. Der den Surrealisten nahestehende Schriftsteller war als Archivar der Dakar-Djibouti-Mission zwischen 1931 und 1933 angeheuert worden und schrieb in seinen (vom Auftraggeber nie veröffentlichten) Notizen über die traumatisierenden Erlebnisse während dieser berüchtigten Expedition: Wie die Kolonialherren Kulturen und Religionen im westlichen Afrika im wahrsten Sinne mit Füßen traten und wie weit diese Brutalität reichte, wenn die Menschen sich wehrten, ihre Kultgegenstände abzutreten. Dass der Literat Leiris dabei sein eigenes moralisches Dilemma und seine persönlichen Grenzen thematisiert, gehört für den Rezensenten zur Stärke dieser fast 1000 Seiten.    

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.12.2022

Weißer Mann mit Messer
Der tausendseitige Bericht einer kolonialen Raubmission des Surrealisten Michel Leiris ist neu erschienen. Hat er noch etwas zu sagen?
Michel Leiris’ „Phantom Afrika“ gleicht einer dieser Postkarten mit je nach Betrachtungswinkel wechselndem Bildmotiv: Vordergründig stellt es das Tagebuch einer ethnologischen Feldstudie dar. Leiris begleitete die Dakar-Djibouti Mission, diese berüchtigte französische Afrika-Expedition der Jahre 1931 bis 1933, als ethnologischer Sekretär und Archivar. Der den französischen Surrealisten nahestehende Schriftsteller beschreibt darin – auf fast tausend Seiten! – kulturelle und religiöse Rituale.
Zumindest ist das sein Auftrag. Denn wenn es dabei bliebe, wunderte man sich doch, warum dieser 1934 zuerst bei Gallimard Paris erschienene und in der deutschen Übersetzung vergriffene Ethnologie-Klassiker nun im Berliner Matthes & Seitz Verlag eine redigierte und erweiterte Neuauflage erhält. Wer sollte sich außerhalb von Seminar-Bibliotheken für diesen Ziegelstein interessieren?
Tatsächlich begleitet Leiris, ein Jazz- und Philosophie-begeisterter Großstadt-Intellektueller, eine zweieinhalbjährige Sammelorgie, bei der Dogon-Masken und äthiopische Kirchenmalereien, rituelle Umhänge und blutverschmierte Fetische eingesackt werden, eine Unternehmung, die bis heute als entscheidend für die wissenschaftliche Entwicklung der Ethnologie gilt. Was aber wenn die Einheimischen ihre Kultgegenstände nicht freiwillig rausrückten? Was wenn die Expedition – wie fast alle europäischen Feldforschungen dieser Zeit – zu kriminellen Methoden wie Einschüchterung, Erpressung, Diebstahl, Raub und Gewalt griff, um Masken, Statuen und religiöse Objekte zu entwenden?
„Phantom Afrika“ mutiert hier von einer Heldengeschichte zu einem düsteren Krimi, der angesichts von Leiris’ psychoanalytisch eingefärbtem Schreibstil – er beschreibt auch seine Träume und inneren Konflikte, gesteht angesichts des Gebarens seiner Expeditionskollegen bisweilen eigene Scham- und Schuldgefühle ein – mehr als nur historische Bedeutung hat.
Leiris macht sogenannte Feldforschung als kaum kaschierten Raub erkennbar, beschreibt die Arroganz der Kolonialisten wie die Ohnmacht der Afrikaner und wirft en passant einiger seiner eigenen Lieblings-Mythen über den Haufen. Und das obwohl, oder gerade weil der Autor selbst in einem moralischen Dilemma steckt. Einmal hofft er, in Afrika ein Heilmittel gegen seine Zivilisationsmüdigkeit zu finden, ja „ein Herz zu entwickeln“ – dann wieder packt ihn sein altbekannter Ennui.
Leiris hatte der Afrika-Expedition 1931 auf Anraten seines Freundes Georges Bataille zugestimmt. Auch sein Psychoanalytiker befürwortete die Reise. Denn was könnte einem Schriftsteller mit Schreibblockaden, sexuellen Phobien und Alkoholproblemen schon besser bekommen als das Eintauchen in vermeintlich primitive und unverdorbene Kulturen? Leiris hoffte jedenfalls auf eine persönliche Transformation. Afrika würde das heile Kind in ihm wecken. Kein Wunder, dass die Aufzeichnungen des Expeditions-Sekretärs vor allem die eigene mentale Zerbrechlichkeit spiegeln. An einer Stelle sinniert Leiris über die Frage, warum ihn wohlbekleidete europäische Damen mit ihren Tabus sexuell mehr reizen als die Nacktheit, die er mancherorts in Afrika antrifft. Vor seiner Reise gehörte Leiris lange zu den Pariser Surrealisten, die ihre politisch-revolutionäre Haltung mit einer ausgesprochenen Afrika-Schwärmerei überhöhten. Ihre Hoffnung: In der Fremde könne man sich seiner bourgeoisen Prägung entledigen.
Leiris ist nicht der erste mit diesem Unterfangen. Arthur Rimbaud etwa ließ das Gedichteschreiben sein, um nach Afrika zu segeln – und kam Jahre später krank aber voller wilder Geschichten zurück. André Gide veröffentlichte nach einer Reise durch die französischen Kolonien Ende der 20er Jahre populäre Reiseberichte wie „Voyage au Congo“ und „Retour du Tchad“. Leiris kannte beide. Und folgte in Rimbauds Fußstapfen der Illusion, in Afrika als Rebell getauft zu werden.
Ähnliche Verwandlungs-Fantasien, beziehungsweise deren Verdammung, spielen heute auch in die Debatte über kulturelle Aneignung hinein. Doch eines wird auch Leiris irgendwann klar: Er kann seine Nation und Klasse nicht leugnen. Seine libidinösen Afrika-Fantasien zerschellen immer wieder an der politischen Wirklichkeit. Besonders Leiris’ Idee, Rettung bei den Einheimischen zu suchen, scheint zunehmend absurd, halten diese doch selbst religiöse Rituale ab, um ihren miserablen Lebensbedingungen zu entkommen.
Es sind die literarischen Qualitäten, die „Phantom Afrika“ herausheben und zu Leiris’ vielleicht nicht bestem, aber erfolgreichstem Werk machen. Claude Lévi-Strauss erklärte ihn später zu einem der „wichtigsten Schriftsteller des Jahrhunderts“. Stets ringt der Autor mit dem eigenen Interessen-Zwiespalt, stellt die Authentizität von Darbietungen der Afrikaner in Frage, ahnt, dass nicht nur die Europäer die Einheimischen betrügen, sondern auch letztere den Eindringlingen eigene Märchen auftischen. Dass Leiris es mit der Objektivität gar nicht erst versucht, sondern Emotionen wie Freude, Sorge, Frustration, sexuelle Lust und Scham in teils schnoddrigen Kommentaren einfließen lässt, macht den einst als „unseriös“ Verleumdeten zum Vorreiter einer grundlegend neuen Ethnografie.
Wenn der Expeditionsleiter Marcel Griaule sich später gegen die Veröffentlichung von „Phantom Afrika“ stellte, hatte das aber vor allem mit Leiris’ ungeschönten Raub-Schilderungen zu tun: Wie etwa dem Bericht von der widerrechtlich erbeuteten Kono-Maske in Mali. Als das Oberhaupt der Kono die Weißen mit Forderungen nach komplizierten Tieropfern von seinem Heiligtum fernhalten will, wird Griaule grob: Er lässt dem Dorfoberen ausrichten, dass „als Vergeltung dafür, dass man uns hier offensichtlich zum Besten hält, der Kono gegen ein Entgelt von 10 Francs auszuliefern sei, wenn der Dorfobere und die Notabeln des Dorfes nicht von der angeblich im Lastwagen versteckten Polizei abgeführt werden wollten… Entsetzliche Erpressung!... Der Dorfobere ist am Boden zerstört.“
Griaule schickt sodann einen seiner Angestellten, die Maske zu holen, die „weder die Frauen noch die Unbeschnittenen sehen dürfen, weil sie sonst sterben müssen“. Im Dorf bricht Panik aus, Männer mit Stöcken treiben hastig ihre Frauen und Kinder in die Häuser hinein, während Leiris halbamüsiert notiert: „Umgeben von einer Aura besonders mächtiger und unverfrorener Dämonen oder Schweinehunde lassen wir die Leute in ihrer Verblüffung zurück“.
Auch der Expeditionssekretär ist offensichtlich nicht gefeit gegen den Machtrausch, den er als „Weißer mit einem Messer“ verspürt. Er verleiht zwar in „Phantom Afrika“ dem Unternehmen eine gewisse Menschlichkeit, aber letztlich stellt Leiris doch die kolonialen Herrschaftsstrukturen nicht in Frage. Die rund 3500 Objekte, die die Mission Dakar-Djibouti einsammelte, machen heute den Stolz Pariser ethnografischer Museen aus – auch wenn Emmanuel Macron versprochen hat, einige davon zurückzugeben. Leiris aber sollte viele seiner Ideen von einst revidieren: Er unternimmt weitere Reisen nach Afrika und in die Karibik, befreundet sich unter anderem mit dem afrokaribisch-französischen Négritude-Mitbegründer Aimé Césaire, arbeitet für Jean Paul Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes und wächst in den Fünfzigerjahren zu einem Anwalt der anti-kolonialistischen Linken heran.
Afrika hatte Leiris zwar nicht als Person geheilt, aber immerhin als Literat auf das richtige Gleis gesetzt. In einem Brief an seinen Freund Georges Bataille schreibt er später, man könne als Ethnograf letztlich nur über eigene Erfahrungen wahrheitsgemäß Auskunft geben: „Wie intensiv wir auch imaginieren, die Erfahrung der einheimischen Person zu leben, wir können niemals in seine Haut schlüpfen.“
JONATHAN FISCHER
Er macht Feldforschung als
Raub erkennbar, beschreibt
die Arroganz der Kolonialisten
Afrika hat ihn nicht
geheilt, aber als Literat
auf das richtige Gleis gesetzt
Auch sein Psychoanalytiker befürwortete die Reise nach Afrika: der Schriftsteller Michel Leiris 1975 in Paris.
Foto: imago/Leemage
Michel Leiris: Phantom Afrika. Aus dem Französischen von Rolf Wintermeyer und Tim Trzaskalik. Matthes & Seitz, Berlin 2022.
968 Seiten, 68 Euro.
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