• Broschiertes Buch

2 Kundenbewertungen

Annäherung an eine umstrittene Biographie.Kaum ein Schriftsteller wurde von seinen Lesern in der DDR geliebt und verehrt wie Erwin Strittmatter. Und kaum einer wurde später so radikal verurteilt. Diese Biographie zeigt ihn endlich im Spiegel seriös ausgewerteter Quellen und Dokumente, die vielfach aus Strittmatters Privatarchiv stammen. Selten ist ein Autor so plastisch in seiner inneren Entwicklung und den Auseinandersetzungen seiner Zeit porträtiert worden.»Behutsam werden die bekannten geschichtlichen Details eingeordnet, ohne Eifer und Zorn, aber auch ohne Schonung.« Volker Hage, DER…mehr

Produktbeschreibung
Annäherung an eine umstrittene Biographie.Kaum ein Schriftsteller wurde von seinen Lesern in der DDR geliebt und verehrt wie Erwin Strittmatter. Und kaum einer wurde später so radikal verurteilt. Diese Biographie zeigt ihn endlich im Spiegel seriös ausgewerteter Quellen und Dokumente, die vielfach aus Strittmatters Privatarchiv stammen. Selten ist ein Autor so plastisch in seiner inneren Entwicklung und den Auseinandersetzungen seiner Zeit porträtiert worden.»Behutsam werden die bekannten geschichtlichen Details eingeordnet, ohne Eifer und Zorn, aber auch ohne Schonung.« Volker Hage, DER SPIEGEL.Der Bestseller erstmals im Taschenbuch - aktualisierte Ausgabe.
Autorenporträt
>Das ist so'n zweischneidiges Schwert hier unser KZ ...< Der Fürstenberger Alltag und das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück« (2007). Bei Aufbau erschien zuletzt »Das Kind auf der Liste. Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie« (2018).  
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Licht ins Dunkel von Erwin Strittmatters Kriegsjahren bringt die Biografie von Annette Leo. Sebastian Kleinschmidt immerhin sieht das so, und er stellt fest: Strittmatter war kein SS-Mann. Darüber hinaus bietet ihm das, wie er findet, gut recherchierte Buch neue Dokumente, Zeitzeugenberichte und ein Abwägen des Verhältnisses von Dichtung und Wahrheit in Strittmatters Texten. Durchweg imponiert ihm das Anliegen der Biografin, dem Autor, seinem Leben und Werk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dass Leo als Historikerin vor allem auch die politischen Aspekte dieser Biografie beleuchtet, findet er nur billig. Allerdings hätte er sich ein etwas schärferes ästhetisch-philosophisches Porträt gewünscht. Auf die Art, lässt er uns wissen, wären auch Leos ins Auge fallende Unmutsbekundungen über den Jähzorn des Privatmannes Strittmatter leichter erträglich gewesen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.08.2012

Der Nebel geht über die Wiesen
Vor hundert Jahren wurde der Schriftsteller Erwin Strittmatter geboren, einer der
beliebtesten Autoren in der DDR. Jetzt beleuchtet eine Biografie seine Jahre im Zweiten Weltkrieg
VON JÖRG MAGENAU
Dort wo er lebte, liegt er auch begraben. Wer von Dollgow im Ruppiner Land das holprige Sträßchen nach Schulzenhof hinausfährt, kommt kurz vor dem Vorwerk an einem kleinen, auf einer Anhöhe am Waldrand gelegenen Friedhof vorbei. Von hier aus kann man über Wiesen und Pferdekoppel zum Hof der Strittmatters hinüberschauen. Den Grabplatz unter der Tanne, den Findling aus dem Wald und seinen Grabspruch hat Erwin Strittmatter selbst ausgesucht. Die Verse stammen aus einem Gedicht seiner Frau, der Lyrikerin Eva Strittmatter: „Löscht meine Worte aus und seht: der Nebel geht über die Wiesen.“
  Der Satz ist in die Landschaft eingeschrieben, geht wie der Nebel aus ihr hervor. Doch so gut er zu diesem naturnahen, bäuerlichen Schriftsteller passt, verwundert er auch. Tatsächlich schrieb er „jahrzehntelang wie ein Besessener gegen den Gedanken an Auslöschen und Vergessen“ an, hält die Historikerin Annette Leo in ihrer gerade erschienenen Strittmatter-Biografie dagegen. Wie könnte es bei einem Schriftsteller auch anders sein.
  Leo deutet das letzte Bekenntnis als unfreiwilligen Hinweis auf die Widersprüche, die ihn prägten, ja, als einen „Nebelvorhang“, der seine Lebenslüge verhüllt – auch wenn er selbst dabei wohl kaum an die nach 1945 verschwiegenen, vergessenen, verfälschten Dienstjahre im Zweiten Weltkrieg gedacht habe. In der Tat wäre das etwas zu viel hineingedeutet in diesen Grabspruch, der doch vor allem ein Loslassen, eine Gelassenheit ausdrückt, wie sie Strittmatter zeitlebens nur selten vergönnt war. Seine nun ebenfalls publizierten Tagebücher der Jahre 1954–1973 (SZ vom 22. Juni 2012) vermitteln das Bild eines mal von Depressionen, mal von Jähzorn gequälten Menschen, der immer unter Hochspannung stand.   
  Niemand kann sich die Zeit aussuchen, in die er geboren wird. Wer wie Erwin Strittmatter 1912 in der Niederlausitz zur Welt kam, hatte immerhin das Glück, zu jung zu sein, um schon im Ersten Weltkrieg umzukommen. Und doch geriet er mitten hinein in die deutsche Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts. Wie so viele kehrte sein Vater traumatisiert aus dem Krieg zurück; dessen ruppige Lieblosigkeit, dessen Schweigen über die Kriegserlebnisse setzte Strittmatter eine Generation und einen Krieg später fort und erschrak darüber, als er es erkannte. Er gehörte einer Generation an, deren Vertreter daran gemessen werden, wie mutig oder opportunistisch sie sich im Nationalsozialismus oder später in der DDR verhielten. Für einen wie Strittmatter, der doch am liebsten einfach nur Pferde gezüchtet und Tiere im Wald beobachtet hätte, war es besonders tragisch, in einer solchen Zeit zu leben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte er nichts als ein Schreiber gewesen sein, der in der Dienststube saß und Berichte verfasste, ohne selbst am Kriegsgeschehen teilgenommen zu haben.
  Und auch später als Autor in der DDR bevorzugte er die Rolle des politikfernen Bauern, obwohl er doch – wider Willen, aber auch ohne echten Widerstand – seine Pflichten als Funktionär und stets loyales Parteimitglied einhielt und nicht daran zweifelte, dass auch der Autor parteilich zu sein habe im Dienste des sozialistischen Fortschritts.
  Annette Leo hat im Nachlass eine frühe, unveröffentlichte Erzählung gefunden, in der Strittmatter diesen Platz exemplarisch bezieht. Sie heißt „Der Sargträger“ und beschreibt ein Ereignis aus den letzten Kriegswochen, das ihn tief verstört haben muss. Er befand sich damals im böhmischen Ort Wallern; in seinen Lebensläufen gab er später an, er sei desertiert und habe sich dort versteckt. Doch Leo zeigt, dass auch diese Angabe fragwürdig ist. Dort erlebte er, wie SS-Männer einen Zug völlig entkräfteter jüdischer Frauen aus einem KZ durchs Dorf trieben. Etwa hundert von ihnen, die nicht mehr gehen konnten, blieben in einem Schuppen zurück. Viele starben.
  Nach dem Einzug der US-Army mussten die Dorfbewohner an den Toten vorbeigehen und sie bestatten. In Strittmatters Erzählung steht ein Mann etwas abseits, an ein Grabkreuz gelehnt, und betrachtet das Geschehen. Als er von einem Soldaten aufgefordert wird, beim Tragen der Särge mitzuhelfen, wehrt er sich, weil ihm damit eine Schuld am Massenmord zugewiesen wird. Aber schließlich akzeptiert er, dass er als Schuldloser die Schuld der anderen mittragen muss, um, wie es dann heißt, „ein Tropfen im Maß zu werden, in dem der Edelmut der Menschheit gemessen wird“.
  Von diesem literarischen Entwurf aus lässt sich Strittmatters Biografie in ein Vorher und ein Nachher trennen. Nach vorn beginnt hier die antifaschistische Moral, die Gewissheit, auf die Seite des Guten zu gehören und dies durch die Parteimitgliedschaft und den Aufbau eines neuen, sozialistischen Staates zu dokumentieren. Nach rückwärts aber geht das nicht ohne Verdrängung. Dieses Muster entspricht im Übrigen durchaus dem westlichen Modell. Bei einem Moralisten wie Günter Grass lief es unter sozialdemokratischer Prämisse ganz ähnlich.   
  Um als Antifaschist glaubhaft zu sein, verleugnete Strittmatter seine Jahre in einem Polizeibataillon, das 1943 die Bezeichnung „SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiment Nr. 18“ erhielt (aber nicht mit der SS verwechselt werden darf). Die Einheit wurde vor allem in Slowenien und in Griechenland im Kampf gegen Partisanen eingesetzt. Die Recherchen der Historikerin belegen, dass Strittmatter sehr viel stärker in Kriegshandlungen und Kriegsverbrechen involviert war, als seinen späteren Selbstauskünften zu entnehmen ist.
  Das ist seit den Enthüllungen des Publizisten Werner Liersch im Jahr 2008 grundsätzlich bekannt, jetzt aber mit weiteren Dokumenten belegt. Ob Strittmatter nun – entgegen seiner Behauptung, keinen einzigen Schuss abgegeben zu haben– doch geschossen hat, bleibt dahingestellt und ist wohl auch nicht entscheidend. Sicher aber ist – dies belegen die Briefe an seine Eltern –, dass er an militärischen Operationen beteiligt war, die er ganz und gar als seine Sache begriff. Auch das Beutemachen und das Niederbrennen eines slowenischen Dorfes beschrieb er als Heldentaten.
  Leo legt den Schwerpunkt ihrer Biografie auf diese Jahre. Die Jahrzehnte in der DDR und Strittmatters Weg vom überzeugten Stalinisten zum skeptischen, zunehmend desillusionierten Mitläufer interessieren sie weniger. Als Historikerin ist sie weniger am literarischen Werk interessiert als an Akten und Fakten. Der Glaube, dass sich aus gründlicher Recherche und umsichtiger Bewertung so etwas wie eine biografische Wahrheit ergebe, ist die positive Fiktion jedes Historikers. Literatur aber funktioniert nach anderen Gesetzen.
  „Ungerechtigkeiten sind eine Schwankung von Raum und Zeit“, zitiert Leo aus einem unveröffentlichten Manuskript Strittmatters. Eine solche Schwankung ist auch das nachträgliche Ausdeuten eines Lebens, in dem – wie hier – das bewusste Verschweigen eines fragwürdigen Kapitels den Boden bildet für alles, was folgt und der Antifaschismus dadurch zu einer großen Verdrängungsleistung schrumpft.
  Strittmatters Herkunft aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, die Bäckerlehre, die Jahre als Hilfsarbeiter und Tierzüchter prädestinierten ihn zum prototypischen Arbeiter- und Bauernschriftsteller, der seine Lehrjahre noch bei Brecht absolvierte. Doch seine Romane – vom „Wundertäter“ über „Ole Bienkopp“ bis zum späten Kindheitsroman „Der Laden“ waren keine gradlinige Parteiliteratur. Strittmatter war Realist genug, um Funktionäre als Holzköpfe zu zeigen und die verheerenden Auswirkungen planwirtschaftlicher Vorgaben auf dem Land nicht zu verschweigen. Den Bau der Berliner Mauer akzeptierte er dagegen, ja, befürwortete ihn als Notwendigkeit. Solidarität tatsächlich aufzukündigen, wäre für ihn nie infrage gekommen.
  Mehr und mehr zog er sich im Lauf der Jahre in die Abgeschiedenheit des Schulzenhofs zurück und wurde, obwohl mit Nationalpreisen ausgezeichnet, doch als einer wahrgenommen, der nicht dazugehören will und seine eigenen Maßstäbe bewahrt. Nun aber steht mit der Debatte um seine Kriegszeit genau diese Positionierung in Frage. Sein Werk wird das aushalten, sagten die Söhne, als sie sich dafür entschieden, der Biografin das einschlägige Material zur Einsicht zu überlassen. Vermutlich werden sie recht behalten.
Im Zweiten Weltkrieg wollte er
nur Schreiber gewesen sein
In Böhmen erlebte er, wie die SS
jüdische Frauen durchs Dorf trieb
Der Schriftsteller Erwin Strittmatter auf dem Balkon seines Hauses in Schulzenhof in Dollgow-Stechlin, aufgenommen am
26. Juni 1976.

FOTO: DEUTSCHE FOTOTHEK / BORCHERT / PICTURE ALLIANCE
  
  
  
  
  
  
Annette Leo: Erwin Strittmatter. Die Biographie. Aufbau Verlag, Berlin 2012. 448 Seiten, 24,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2012

Die Unruhe beginnt zu weichen, das innere Gepeitschtsein lässt nach

Protokolle aus der Geheimwelt: Erwin Strittmatter hinterließ neben dem literarischen Werk auch Tagebücher. Zum 100. Geburtstag erscheinen Auszüge daraus. Dunkle Punkte verschwieg er allerdings.

Wann ist ein Tagebuch interessant? Viele werden sagen, wenn es Geheimnisse ausplaudert, Geständnisse ablegt, Sünden beichtet, Invektiven ausfaucht, wenn es schonungslos Buch führt über die bezahlten und unbezahlten Rechnungen des Lebens. Strittmatters Tagebücher sind interessant, weil sie von einem interessanten Menschen stammen. Weil dieser Mensch eine starke, entschiedene, mitteilsame Persönlichkeit war, originäre Vorstellungen von sich und der Welt hatte, einen ruhigen und festen Begriff von seiner Aufgabe besaß. Lebenslang führte er Tagebuch. Sein Schreiben endete erst mit dem Tod am 31. Januar 1994.

Aus dem über Jahrzehnte gewachsenen Lebensprotokoll, Strittmatters Geheimwelt, wie seine Frau Eva es nannte, hat jetzt Almut Giesecke zum 100. Geburtstag des Autors eine Auswahl getroffen. Sie umfasst die Jahre 1954 bis 1973. Ein zweiter Band ist in Vorbereitung. Als Strittmatter die Aufzeichnungen begann, war er zweiundvierzig. Er lebte seit kurzem in Schulzenhof, einem Vorwerk von sieben Häusern, gelegen in einem sonnendurchfluteten, umwaldeten Wiesental nahe Rheinsberg im Ruppiner Land. Das Journal zeichnet ein facettenreiches Bild seiner Doppelexistenz als Autor und Pferdezüchter. Allein schon der Tagesbeginn macht staunen. 9./10. Juli 1956: "Wie gewöhnlich 4.30 hoch. Eine halbe Stunde im Garten bei Pflanzen und Tieren. Atemübungen. Die Unruhe beginnt zu weichen, das innere Gepeitschtsein lässt nach. Ich schreibe wieder. Um 7h beginnt Geklapper und Gewese im Hause. Dann liegen meist drei neue Seiten vor mir."

Für einige Jahre geriet die Doppel- zur Dreifachexistenz. Strittmatter wurde hauptamtlicher Sekretär des DDR-Schriftstellerverbands. Die Nähe zur Macht öffnete ihm die Augen. Sein naiver politischer Optimismus, die Wonnen der Bekehrung und Selbstbekehrung, sein Vertrauen in die neue Ordnung, all das bekam einen Dämpfer. Nach und nach wurde ihm bewusst, dass sein ungetrübter marxistischer Zukunftsglaube auch literarisch nicht immer nur zum Vorteil gewirkt hat.

Wiederholt taucht das Motiv des Kriegs auf. Strittmatter hat nicht nur Schuld auf sich geladen, wie wohl alle deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, er hat sie auch aus der Unruhe des Gewissens heraus vielfach reflektiert. Gleichwohl verschwieg er einige heikle Punkte nach 1945, so die Tatsache, dass er 1940 einen Aufnahmeantrag in die Waffen-SS gestellt hatte, indes trotz Tauglichkeit nicht genommen wurde: Die kriegswichtige, ihm verhasste Zellwolle AG Schwarza, in der er seit Oktober 1938 an hochgiftigen Rührbottichen arbeitete, stellte ihn nicht frei. Der Umstand wird in den Tagebüchern nicht erwähnt. Annette Leo teilt ihn in ihrer neuen Biographie mit. Inzwischen hat Joachim Jahns herausgefunden, dass Strittmatter seine Freiwilligenmeldung schon kurze Zeit später widerrief. Er wollte nicht an die Front geschickt werden.

Auch seine Bereitschaft, sich eine Zeitlang (1958 bis 1961) als Stasi-Informant einspannen zu lassen, wird im Tagebuch nicht verzeichnet. Der Zusammenhang von Mitläufertum vor 1945 und kommunistischer Parteinahme nach 1945 ist nicht nur bei Strittmatter evident; hier liegt auch ein Schlüssel zum Verständnis der DDR und ihrer inneren Unfreiheit. Die Generation, die den Aufbau des neuen Staates ins Werk setzte, war mehrheitlich in einem schlechten Gewissen gefangen. Viele waren mitschuldig geworden und wollten wiedergutmachen, traten in die Partei ein und wagten es nicht, den auf die Sowjetunion schwörenden Emigranten respektive Widerständlern zu widersprechen. Strittmatter hat das Dilemma von Schulddruck und Feigheit als einer der Ersten gesehen. Und nicht nur das. Am 4. Oktober 1968 schreibt er: "Ihr lehrtet uns die Unmenschlichkeit des Faschismus begreifen. Ihr führtet uns vor Augen, was für Grausamkeiten wir mit Konzentrationslagern und dem Töten und Totquälen politischer Gegner durch unser Schweigen und durch Mangel an Aufbegehren duldeten. Wir sahen ein und waren den Genossen Lehrern, die ihr schicktet, uns einsehend und einsichtig zu machen, dankbar. Wir wirkten von Stund an in eurem Sinne. Als wir uns nach einiger Zeit nach unseren Genossen Lehrern erkundigten, hieß es, sie seien in einem Lager ... Was sollen wir denken? Werdet ihr sie auch töten, unsere damaligen Lehrer? Ihr seid nicht ungeübt darin, wie wir inzwischen erfuhren. Was sollen wir von euch denken, da ihr nicht politische Gegner umbrachtet, sondern gute und beste Genossen. Seid ihr da nicht im Inhumanen über die hinausgegangen, die ihr uns hassen lehrtet?"

Strittmatters Tagebuch bietet lehrreiche Innenansichten der zweiten deutschen Diktatur. Es fehlt nicht an harten Worten über den "mittelalterlichen Stalinismus" und "die finsteren Labyrinthe der Politik". 1972 fragt er sich, ob er nicht aus der Partei austreten solle, verwirft jedoch den Gedanken. Von den Dissidenten hält er sich fern, seine Loyalität zur DDR kündigt er nicht auf. Aber innerlich zieht er sich mehr und mehr vom Marxismus und der kollektiven Vereinnahmung des Bewusstseins zurück. Freilich liest man auch befremdliche Urteile, nicht zuletzt über andere Autoren. Allzu verwunderlich ist das nicht, Idiosynkrasien unter Schriftstellern sind ein Naturgesetz.

Apropos Natur. Wie die "Histoires naturelles" in Jules Renards berühmtem Tagebuch die Juwelen sind, so die Tier- und Landschaftsschilderungen in Strittmatters Diarium. Hier ist der Autor ganz in seinem Element. Überall eindrucksvolle Beschreibungen der ihn umgebenden, tragenden, heilenden, tröstenden und immer erfreuenden Natur. Und auch die Schilderung seines eigenen, für ihn selbst wie für andere schwierigen Naturells, seiner Schwermut, seiner Launen, seines Jähzorns, ist beeindruckend.

All das kommt auch in Annette Leos Biographie zur Sprache. Ihre besondere Leistung liegt darin, dass sie Licht ins Dunkel der Kriegsjahre bringt. Um es kurz zu machen: Strittmatter war kein SS-Mann, auch wenn dem Polizei-Gebirgsjägerregiment 18, dem er seit 1942 als Oberwachtmeister angehörte, 1943 das SS-Kürzel vorangestellt wurde. Auch in anderer Hinsicht bietet die gut geschriebene und recherchierte Lebenserzählung Interessantes: Erschließen unbekannter Dokumente, Befragen von Zeitzeugen, Kontrastieren von Dichtung und Wahrheit in den autobiographischen Texten, Bemühen, Werk und Leben Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wie bei einer Historikerin nicht überraschend, dominieren die politischen Aspekte der Darstellung. Das ästhetisch-philosophische Profil des Autors kommt ein wenig zu kurz.

Vielleicht war das angesichts der immer noch andauernden Diskussionen um ihn richtig, weil es letztlich zu einer guten Mischung aus Empathie und Distanz geführt hat. Nur bei den Pferden hat Annette Leo es mit der Distanz übertrieben. "Schwer erträglich" findet sie Strittmatters "hingebungsvolle Zuwendung zu den Pferden, die aus beinahe jeder Seite des Tagebuchs spricht. Da beschreibt er, wie ihm keine Mühe zu groß ist, dass er auf das leiseste Schnauben reagiert, dass er mehrmals nachts nach einem kranken Tier schaut, und welche Geduld er bei der Dressur aufbringt". Dass es ihm an dieser Geduld mit der Familie fehlte, ist ein offenes Geheimnis, zumal wir reichlich Zeugnisse von Eva Strittmatter haben, in denen das Bild ihres Mannes weder geschönt noch geschont wird. Leos Unmut gegen den pater familias wäre leichter hinzunehmen, wenn sie sich mit derselben Verve für die Anmut des Werks stark gemacht hätte. Wie Strittmatter dachte, ist eben oft in solchen Beobachtungen zu finden: "Ich denke an jene naive Dame, die mir sagte: ,Sehn Sie, wie mich mein Pony liebt!' Ich sagte ihr das, was ich allen sage, die mir erzählen, dass ihre Haustiere sie lieben: ,Zeigen Sie mir Ihre Taschen, Madame!'"

Strittmatter war ein Dichter der Ländlichkeit, der Erde verhaftet und dem Himmel zugewandt, ein wahrer Zauberer des poetischen Erzählens. Seine Fabulierlust, die Musikalität seines Satzbaus, der warmherzige Ton, der Humor, das bildhafte Sehen, das Träumerische und das Närrische seiner Geschichten und Romane, die kauzige Ironie - all das gehört zur Signatur seines Werks. Nicht selten wurde es unter Verdacht gestellt: Idylle, Heimatdichtung, bewaldetes Biedermeier, intellektuelle Dürftigkeit. Ob es die Zeiten überdauern wird, können wir nicht wissen. Es hat aber gute Aussichten, nicht im Meer der Vergessenheit zu verschwinden. Und falls es doch einmal untertauchen sollte, wird es wieder auftauchen. Der Grund dafür liegt in Strittmatters poetischer Eindringlichkeit - dem schwierigsten Kapitel der Erzählkunst überhaupt -, in den vielen Facetten seiner agrarischen Welt, in seiner Philosophie der naturnahen Existenz in kleinen Ordnungen und des genossenschaftlich gestützten Selbsthelfertums des Einzelnen. All das könnte eines vielleicht nicht allzu fernen Tages wieder aktuell sein.

SEBASTIAN KLEINSCHMIDT

Erwin Strittmatter: "Nachrichten aus meinem Leben". Aus den Tagebüchern 1954 - 1973. Hrsg. Almut Giesecke. Aufbau Verlag, Berlin 2012. 601 S., geb., 24,99 [Euro].

Annette Leo: "Erwin Strittmatter".

Die Biographie.

Aufbau Verlag, Berlin 2012. 448 S., Abb., geb., 25,70 [Euro].

Joachim Jahns: "Erwin Strittmatter und der böse Krieg". Biografische Nachträge.

Dingsda-Verlag, Querfurt 2012. 20 S., br., 12,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
» Ein sehr deutsches Leben. Unbedingt lesen! « Reiner Oschmann Fachzeitschrift /-magazin 20121001