Werk ist Austausch zentral. Immer wieder betont er, dass Literatur vor dem Text beginne, dass der Autor "Gespräche mit Abgeschiedenen führen und sich auf den Weg zu den Nachtseiten des Lebens machen" müsse. Denn nur so entdecke man jene Koinzidenzen, um die seine Bücher kreisen, jene Kreuzungen in den Netzwerken des Schmerzes und der Erinnerung, "an denen einem schlagartig aufgeht, dass alles mit allem zusammenhängt und dass man sich deshalb um die Dinge kümmern muss". Auch wenn er 1990 erklärt, dass die Toten ihn mehr interessieren als die Lebenden, ist es vor allem das Dazwischen, auf das er immer wieder zurückkommt. Angesprochen auf die Bedeutung der Fotografien in seinen Büchern, beschreibt er, warum von einem Foto, dem "wahren Dokument par excellence", mitunter ein anderer Appell ausgeht als von gemalten Bildern: Weil es eine Ahnung verströmt davon, "dass es irgendwo eine sekundäre oder uns beigeordnete, übergeordnete, nachgeordnete Form der Existenz gibt. Die Leute, die aus dem Leben verschwinden, treiben sich irgendwo in diesem Leben noch herum." Angesichts seines späteren Unfalltods im Alter von 57 Jahren fast gespenstisch lesen sich Passagen, in denen Sebald fast andächtig den "Aufenthalt in einem Niemandsland zwischen nicht hier und nicht dort, zwischen nicht ganz lebendig und nicht ganz tot" beschwört, dem er in seiner Phantasie und Erinnerung mitunter nahekäme.
Zwischen den Zeilen steckt viel von diesem - an keiner Stelle religiös konnotierten - Geleitetsein. Mehrfach betont Sebald, der nicht an Zufälle glaubt, dass man als Autor keineswegs so viel Kontrolle habe, "wie man sich das gerne einbildet". Im Lauf der immens produktiven Jahre zwischen "Schwindel. Gefühle." 1990 und dem 2001 erschienenen "Austerlitz" nimmt das Schreiben für ihn gleichzeitig mehr und weniger Raum ein. Denn der Autor, der sein literaturwissenschaftliches Metier immer mehr ablegt, selbst im eigenen Haus in Norwich "herumnomadisiert" und auch sonst rastlos unterwegs zu sein scheint, sieht seine Hauptaufgabe in der Recherche, im Aufspüren der Menschen, Erinnerungen und Geschichten. "Ob ich das Buch dann hinterher schreibe oder nicht, das ist eigentlich gleichgültig", erklärt er in einem der letzten Gespräche. Wie Walter Benjamin begreift er das Werk als "die Totenmaske der Konzeption".
Wozu dennoch schreiben? Man müsse dem Leser irgendwie klarmachen, "dass das Leben etwas Furchtbares ist - so, wie wir es organisieren". Diese Grundüberzeugung, deren resignativer Ton die Energie, die Sebald aus ihr zog, nicht überdecken kann, zieht sich durch nahezu alle Gespräche. Das Gefühl eines "ständig wachsenden und nicht aufzuhaltenden Verlustes" an Erinnerung und Sprachfähigkeit diagnostiziert er als Grund der immer wieder angesprochenen Schwermütigkeit seiner Texte. Dazu kommt die Realisation der Hilflosigkeit, "die Einsicht in die Indifferenz der eigenen Person". Wenn man einmal begriffen habe, wie machtlos man den Prozessen ausgesetzt sei, könne man sinnvollerweise nur die Haltung eines Zuschauers einnehmen - "eines Zuschauers, der mit einem sehr hohen Grad an emotionaler Beteiligung die Dinge betrachtet, die in der Welt vor sich gegangen sind und nach wie vor vor sich gehen". Und weil sich aus dieser anteilnehmenden Zuschauerrolle moralische Fragestellungen ergeben, darf sich "der Erzähler nicht schadlos halten an dem, was er beschreibt". Ohne "historische Tiefe" fehle es ihm an moralischer Legitimation.
Sebald, 1944 im Allgäu geboren, mit 21 ausgewandert und danach in England ansässig, verortet seine "Zeitheimat" in den ersten sechs Jahren der Kindheit. Überall sonst laufe er herum als "ein irgendwie Hereingeschneiter". Den Zaungast W. G. Sebald lernt man hier vielleicht nicht gut, aber doch besser kennen - auch in seinen Widersprüchen.
FELICITAS VON LOVENBERG
W.G. Sebald: "Auf ungeheuer dünnem Eis". Gespräche 1971 bis 2001.
Herausgegeben von Torsten Hoffmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 288 S., br., 9,99 [Euro].
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