Kleinstädten. Man hat den gleichen Arbeitgeber, trifft sich in denselben Kneipen und weiß sehr genau, wer im Ort das Sagen hat. Da gibt es die Uhrenbarone, den Anwalt, den Stadtpräsidenten. Da gibt es aber auch die andern, die Originale, die Spinner, die Aufmüpfigen, die Träumer, jene, die sich ihre Sehnsüchte nicht nehmen lassen. Sie bringen Farbe und Unruhe in eine Welt, die ohne sie längst vergessen hätte, daß es noch etwas anderes gibt als Ordnung und bürgerliche Wohlanständigkeit. Ihnen gehören das Interesse und die Sympathie der Autorin: dem Künstler Leo, der die Stadt mit seinen Aktionen in Aufruhr versetzt, der Witwe des Kommissars, die an ihrem toten Mann Rache nimmt für lebenslange Demütigung, dem Uhrenarbeiter, der vergeblich auf die Ankunft des Astronauten wartet, Jakob, dem Marktfahrer, der Mittelchen gegen Angst und Hoffnungslosigkeit verkauft, und ebenjenem Fräulein Matter, das einmal in seinem Leben, stellvertretend für alle, etwas Verrücktes und sich damit etwas Gutes tut.
Nadine Hostettler, Journalistin von Haus aus, erzählt uns ihre Geschichten gekonnt und mit leichter Hand. Sie weiß, wie man Spannung erzeugt und Pointen setzt. Sie versteht sich auf Milieuschilderungen und die knappe Skizzierung von Charakteren. Ihre Stärke ist die Ironie, ihre Schwäche eine gewisse Herablassung, mit der sie ihre Figuren manchmal der Lächerlichkeit preisgibt. Obwohl sie die Welt, die sie beschreibt, gut kennt, sind ihre Erzählungen nicht frei von Klischees.
Die Schweiz - man weiß es - ist ein langweiliges Land, eng, borniert und allem Experimentieren abhold. Deshalb braucht es die Unordentlichen, die Sehnsüchtigen, die Narren und Träumer, die mit ihrer Phantasie das Leben vor dem endgültigen Verkümmern bewahren. Dagegen ist nichts einzuwenden. Bloß, muß das so vorhersehbar, so berechenbar erzählt werden? Nadine Hostettler, so scheint es, kennt nur das eine oder das andere: hier die Spießer, da die Unangepaßten - zwei Sphären, fein säuberlich voneinander getrennt. Grauzonen gibt es keine. Die Sympathien sind von vornherein verteilt. Überraschungen sind nicht zu erwarten. Damit kommt, was ursprünglich als Beunruhigung gedacht war, am Ende ziemlich harmlos daher. Eigentlich schade, wenn man bedenkt, daß die Autorin angetreten ist, das Lob der Unordentlichkeit, der Spontaneität, des Tabubruchs, der Narretei zu singen. In der schematischen Topographie ihrer Geschichten hat sie es, ohne zu wollen vermutlich, schön brav wieder eingemeindet. Im Grunde eine sehr schweizerische Art, mit Bedrohlichem umzugehen.
KLARA OBERMÜLLER
Nadine Hostettler: "Fräulein Matter verliebt sich". Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2000. 205 S., geb., 34,- DM.
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