von Konzernen wie Facebook, Amazon oder Google, die gerne als "Plattformen" bezeichnet werden. Seemann ist dieser Begriff zu vage, er will mit seinem Buch eine Theorie dieser Plattformen begründen. Unter Rückgriff auf Niklas Luhmann definiert er: "Plattformen vereinfachen unerwartete Interaktionsselektion, indem sie mittels Standardisierung auf der einen und algorithmischer Vorauswahl auf der anderen Seite die eigentlichen Selektionen vorbereiten." So weit, so abstrakt.
Die Plattformdefinition ist einerseits hilfreich, weil sie flexibel ist und eine Grundlage für weitere Debatten bietet, andererseits ist sie, in bester Luhmann'scher Tradition, auf einer Abstraktionsebene angesiedelt, auf der ziemlich viele Phänomene als Plattformen etikettiert werden können: Standards, historische Megakonzerne, Staaten, der "Markt" selbst. Der Internetbeobachter Bruce Sterling hat für Amazon und Konsorten den Begriff "Stacks" ins Spiel gebracht, mit Blick auf deren hohen Grad an vertikaler Integration sowie den Stapel der Kommunikationsprotokolle, auf deren Grundlage das Internet funktioniert. Technikaffinen Zeitgenossen mag Sterlings Begriff näherliegen.
Weil es um Macht geht, bezieht sich Seemann auch auf Carl Schmitt, mittlerweile der deutsche Standardautor, wenn es um fortgeschrittene Techniken des Bösen geht. Aus Schmitts Begriff der "Landnahme" entwickelt er den der "Graphnahme". Der "Social Graph" ist die informationstechnische Manifestation des Netzwerks von Beziehungen unter Nutzern von Facebook und ähnlicher Konstrukte. Wer den "Graph" kontrolliert, hat Macht: über Sichtbarkeit der Netzwerkteilnehmer, Marktzugang, Beziehungskontrolle.
Einerseits spiegelt dieser Begriff die Aggressivität der Internetkonzerne gut wider, andererseits tut er so, als würde da etwas übernommen werden, was bereits da ist. Das aber könnte zu einer theoretischen Unterbelichtung einer der wesentlichen Eigenschaften eines typischen Internet-Megakonzerns führen: des Bootstrappings nämlich, der Selbstfindung und Selbsterfindung in einem Vorgang der Bricolage, mit dem beispielsweise Facebook zum einzigen Mitbewerber auf dem Markt für Facebook werden konnte. Seemann erkennt diesen Vorgang an, weist ihm aber in seiner Theorie den schwächeren Begriff der Iteration zu.
Eines der Verdienste von Seemanns Arbeit besteht darin, dass er zeitgenössisches Denken über das Internet mit sehr gut gefundenen Beispielen in den historischen Kontext setzt und für andere wissenschaftliche Disziplinen an vielen Stellen anschlussfähig macht - also Luhmannismus in seiner besten und produktivsten Form zelebriert. Seemanns Plattformen sind keine "disruptiven", nie zuvor da gewesenen Phänomene, sondern in unseren ältesten sozialen Konventionen bereits angelegt.
Im besten Fall ist Seemanns Plattform kein Ding, sondern eine kohärente Perspektive auf Vorgänge. Seine Argumente sind in mehrerer Hinsicht auf der Höhe zeitgenössischer Analyse. So betont er etwa, dem Zeitalter des Maschinenlernens angemessen, den Vorrang der Wahrscheinlichkeit gegenüber starr binären Entscheidungsbäumen. Seine Plattformen begünstigen bestimmte Entscheidungen oder Vorgänge, schließen aber andere nicht kategorisch aus und entwickeln gerade daraus ihre wesentlichen Stärken.
Das Buch spannt ein weites Themenfeld auf und bietet keine endgültigen Weisheiten. Seemann lädt seine Leserschaft vielmehr zur Analyse ein und stellt dazu einen Werkzeugkasten mit vielen nützlichen Elementen bereit, die beispielsweise Ansätze zu einer Regulierung von Internetkonzernen jenseits nutzloser Cookie-Banner bieten. Viele der negativen Auswirkungen der Plattformen sind ja auf die Absenz politischer Regulierung, den ideologisch getriebenen Verzicht auf kartellrechtliche Maßnahmen zurückzuführen. Seemanns wesentliche Handlungsempfehlung an Politik und handlungsfähige Bürgerschaft besteht aber darin, die Plattformeigenschaften mittels quelloffener Tools zu nutzen.
GÜNTER HACK.
Michael Seemann: "Die Macht der Plattformen". Politik in Zeiten der Internetgiganten.
Ch. Links Verlag, Berlin 2021. 448 S., geb., 25,- Euro.
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