ist auch ihr letztes, jetzt auf Deutsch erschienenes Buch, "Die Stille verschieben", durchdrungen.
Die hingebungsvolle Adnan-Übersetzerin Klaudia Ruschkowski weist in ihrem Vorwort darauf hin, dass man "Shifting the silence" auch mit "Das Schweigen verschieben" übersetzen könnte. Es ist eine Frage der Perspektive: Die Stille ist es, der jene entgegenblickt, mit deren Schweigen wir Zurückgebliebenen fortan konfrontiert sind.
Allerdings hat Adnan zum Glück eine Vielzahl meist kurzer Bücher hinterlassen. Ihr wohl bekanntester Roman, "Sitt Marie-Rose" von 1977, widmet sich dem Bürgerkrieg in ihrem Heimatland, dem Libanon. Andere huldigen den Orten ihres Exils, sei es Paris, sei es Kalifornien. Dort begann sie Ende der Fünfzigerjahre auf Englisch zu schreiben, dort wurde sie zur Malerin.
Ihr wohl wichtigstes malerisches Sujet, zugleich Gegenstand eines ihrer schönsten Bücher, "Reise zum Mount Tamalpais", ist der nicht sonderlich hohe Berg nördlich von San Francisco. Sie ruft ihn, ebenso wie Beirut, Delphi und Damaskus, auch in "Die Stille verschieben" an, wohl wissend, dass sie, die in Frankreich starb, ihn nicht mehr wiedersehen würde: "Zu viel Vergangenheit, zu wenig vor mir, aber Moment, wir haben immer von Tag zu Tag gelebt, wo ist der Unterschied?"
Der Unterschied ist womöglich, dass es, je näher man dem Ende kommt, umso schwieriger wird, von eben diesem abzusehen. Zudem ahnt Adnan nicht nur ihr eigenes Ende voraus. Angesichts der sich jagenden Hitzewellen heißt es: "Wir erleben die letzten Tage der Zivilisation, wie wir sie kennen."
Wir seien, schreibt sie weiter, die Höhlenmenschen der Raumkapseln, die sich ins Universum einschifften. Die Weiten des Universums als letzte - gedankliche - Zuflucht leuchtete schon in ihrem Gedicht "Ein Trauermarsch für den ersten Kosmonauten" auf. Es erschien zusammen mit einem langen Interview über Gagarin und die Schwierigkeit, diese Welt einfach hinter sich zu lassen, 2019 in dem Band "Wir wurden kosmisch".
Von einer "kosmischen Energie" spricht Adnan ebenfalls in "Die Stille verschieben", der kosmischen Energie des Alten Griechenlands. Man hat den Eindruck, dass gegen Ende ihres Lebens die griechische Antike für sie eine Art zivilisatorisches Ideal darstellte, eine Welt, in der die Götter mit uns und wir mit den Göttern auf einer Stufe standen, einer Welt, in der die Verbindung zwischen Physik und Metaphysik noch nicht gänzlich zerrissen war.
Ihre letzte Sehnsucht gilt Delphi, dem Ort des antiken Orakels. Aber Zeitgenossin, die sie ist, kann sie sich auch diesem imaginär-utopischen Ort nicht ohne eine erkenntnistheoretische Frage nähern: "Ich bin in Delphi, woher soll ich wissen, dass es nicht so ist?"
So lässt sich auch nicht sagen, worum es sich beim Inhalt von "Die Stille verschieben" wirklich handelt: Prosagedichte? Tagebuchnotizen? Philosophische Knobelaufgaben? Auf jeden Fall ist es weder Trostbuch noch Testament, eher ein fragmentierter, desillusionierter Abschiedsgesang auf eine Welt, die wir in atemraubender Geschwindigkeit selbst vernichten: "Oh, irgendwann ist alles überstanden." TOBIAS LEHMKUHL
Etel Adnan: "Die Stille verschieben".
Aus dem Englischen von Klaudia Ruschkowski. Edition Nautilus, Hamburg 2022. 96 S., br., 22,- Euro.
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