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Die Beliebigkeit, die die Geisteswissenschaften zu Anfang des 21. Jahrhunderts kennzeichnet, hat viele Ursachen. Eine zentrale ist das Fehlen von Klarheit hinsichtlich grundlegender Begriffe, Methoden und Aufgaben dieser Wissenschaften. Die Beseitigung dieses Mankos unternimmt Vittorio Hösle in diesem wegweisenden Buch. Insbesondere geht es ihm darum, die Möglichkeit intersubjektiv gültigen Verstehens aufzuzeigen. Denn das Bestreiten dieser Möglichkeit, wie es postmodern gang und gäbe geworden ist, gefährdet die Geisteswissenschaften in ihrer Substanz. Vittorio Hösles grundlegendes Werk setzt…mehr

Produktbeschreibung
Die Beliebigkeit, die die Geisteswissenschaften zu Anfang des 21. Jahrhunderts kennzeichnet, hat viele Ursachen. Eine zentrale ist das Fehlen von Klarheit hinsichtlich grundlegender Begriffe, Methoden und Aufgaben dieser Wissenschaften. Die Beseitigung dieses Mankos unternimmt Vittorio Hösle in diesem wegweisenden Buch. Insbesondere geht es ihm darum, die Möglichkeit intersubjektiv gültigen Verstehens aufzuzeigen. Denn das Bestreiten dieser Möglichkeit, wie es postmodern gang und gäbe geworden ist, gefährdet die Geisteswissenschaften in ihrer Substanz.
Vittorio Hösles grundlegendes Werk setzt mit der Erkenntnis ein, daß zwischen dem Verstehen von Aussagen in der eigenen Muttersprache und den akrobatischen Interpretationsleistungen, die etwa der Entzifferer einer verschollenen Schrift vollbringt, zwischen Lebenswelt und Geisteswissenschaft also, eine erstaunliche Kontinuität waltet. Dabei geht er davon aus, daß die Hermeneutik eine Unterdisziplin der Erkenntnistheorie und dahernormativ ausgerichtet ist - es geht in ihr darum, richtiges Verstehen von Mißverstehen zu unterscheiden. Denn man kann nicht nur anders, man kann auch besser oder schlechter verstehen, ja, auch etwas völlig mißverstehen. Doch Hösles Buch bietet nicht nur eine ausführliche, von Kant inspirierte Analytik und Systematik der komplexen Akte des Verstehens unter Berücksichtigung etwa auch der Jurisprudenz und der Theologie. Ebenso unterzieht es einseitige hermeneutische Theorien der Kritik, darunter auch Freuds Psychoanalyse. Ein dritter und abschließender Teil schließlich liefert eine kurze Geschichte der Hermeneutik, von der Antike bis Gadamer und Davidson, mit einem Ausblick auf die Geisteswissenschaften der Zukunft.
Autorenporträt
Vittorio Hösle ist Paul Kimball Professor of Arts and Letters an der University of Notre Dame (USA). Bei C.H.Beck liegen u. a. von ihm vor: «Das Café der toten Philosophen. Ein philosophischer Briefwechsel für Kinder und Erwachsene» (zus. mit Nora K., 2004), «Der philosophische Dialog» (2006), «Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie» (2013).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.2020

Deutung ist keine Spurensuche im Kopf des Autors
In seiner "Kritik der verstehenden Vernunft" treibt Vittorio Hösle den Geisteswissenschaften die Beliebigkeit aus

In seinem Gedicht "Zweifel im Mai" thematisiert der Lyriker und Literaturwissenschaftler Dirk von Petersdorff den Unterschied zwischen einem romantischen Blick auf die Welt und einem empirischen. In einem Vers heißt es: "ist diese Erde nur ein einsam blauer Spot". Wer hätte dabei nicht sofort an die berühmte "Blaue Blume" der Romantik gedacht? Nun, der Autor tat es nicht: Als wir ihn aus dem Seminar heraus fragten, ob er "blauer Spot" in bewusster Nähe zur "Blauen Blume" verwendet habe, verneinte er.

Ähnliches geschah bei Monika Rincks Gedicht "Teich". Darin geht es um Leid, Schuld und Lüge. Wir fragten Rinck, ob ihr bewusst gewesen sei, dass Teiche künstlich angelegt sind, also menschenverursacht, und ob sie auf diese Weise die Selbstverschuldung der Lüge und damit auch die von Schuld und Leid zum Ausdruck bringen wollte. Sie verneinte es, meinte aber, dies sei "eine schöne Zusatzinformation". Ist es also doch möglich, wie schon Kant mit einer berühmt gewordenen Wendung dachte, einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst versteht?

Wer durch die Hermeneutik Gadamers und erst recht durch die dekonstruktivistische Schule Derridas gegangen ist, wird sich an der Diskrepanz zwischen der Intention des Autors und der Bedeutung, die der Text hat oder die er aus der Sicht der Leser hat, nicht weiter stören. Für solche neueren hermeneutischen Strömungen und ihren Anti-Intentionalismus ist der Autor nur einer unter vielen Lesern, der keine größere Autorität bezüglich der Bedeutung des Textes besitzt als andere Leser auch. Diese starke Fokussierung auf die Autorintention hat mit dazu beigetragen, dass in den letzten Jahrzehnten der Gedanke von so etwas wie objektiven Kriterien, die eine richtige oder zumindest gültige (rational überlegene) von einer falschen oder ungültigen Interpretation zu unterscheiden erlauben, immer mehr verlorenging und sich eine Beliebigkeit breitmachte, die die Geisteswissenschaften zunehmend in ein bedeutungsloses Chaos gestürzt hat.

So sieht es jedenfalls Vittorio Hösle, der in seinem ungeheuer beeindruckenden und geradezu übermenschlich gebildeten Meisterwerk "Kritik der verstehenden Vernunft. Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften" (C.H. Beck Verlag, 2018) ein Gegengewicht schaffen will. Sehr plausibel und im unnachahmlichen Rückgriff auf die Geschichte der Hermeneutik versteht es Hösle als (das) Grundproblem der Hermeneutik, ob und wie sehr das richtige Verstehen von Affekten, Handlungen, Sprache, Werken daran gebunden ist, die Autorintention zu rekonstruieren.

Seine Lösung ist ein Intentionalismus, den er für moderat hält, und diese Einschränkung hat einen guten Grund. Denn die Argumente für die These, die Intention des Autors sei nur eingeschränkt oder vielleicht sogar überhaupt nicht relevant, sind ziemlich schlagend. Zwei von ihnen hat prominent Umberto Eco geltend gemacht: Menschen bringen oft etwas zum Ausdruck, das ihnen gänzlich unbewusst ist (das spielt bei Hösle eine erhebliche Rolle), das sie vergessen haben oder das ihnen vorübergehend nicht präsent war (dafür ist vielleicht von Petersdorffs "blauer Spot" ein Beispiel).

Dazu gehört implizites Wissen, etwa wenn eine Künstlerin gewissermaßen instinktiv ästhetische Regeln anwendet, deren sie sich gar nicht bewusst ist (so wie Menschen eine Sprache sprechen, deren explizite Grammatik sie nicht kennen) oder auch, dass sie neue Formen und Regeln in die Welt bringt, die dann aus der externen Perspektive (etwa von Kunsthistorikern) unter Begriffe gebracht werden, die zumindest in ihrer theoretischen Bestimmtheit und Durchdringung der Künstlerin selbst im Produktionsprozess überhaupt nicht zur Verfügung standen. Menschen können etwas durch Zeichen intendieren, deren Bedeutung sich aber im Intendierten nicht erschöpft, sondern durch zufällig passende oder durch den Kontext und den Leser ergänzte Bedeutungszusammenhänge erweitert wird (wie vielleicht bei Rincks "Teich").

Wichtig ist dabei natürlich, dass Sprache öffentlich ist, kein Privateigentum; wer unbedarft und subjektiv unschuldig von seinem Freund spricht, der ein "Neger" sei, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ein Wort zu nutzen, das rassistisch ist, auch wenn es nicht so gemeint war.

Aber es gibt noch andere Weisen, die es erlauben, die Bedeutung des durch den mentalen Akt Ausgedrückten vom im Akt Intendierten zu unterscheiden. So kann man nicht nur Begriffen eines Autors eine größere Präzision verleihen, als sie bei ihm selbst haben (Kant warf Platon in jener berühmten Wendung vor, er habe "seinen Begriff nicht genugsam bestimmt"). Man kann auch Voraussetzungen aufdecken, die dem Autor vielleicht bewusst, aber jedenfalls nicht zufällig sind. Wer etwa sagt, es gebe keine Wahrheit, nimmt in Anspruch, dass es Wahrheit gibt.

Auch kann eine Leserin Implikationen eines Werkes aufdecken, auf die sich sein Schöpfer festlegt, ohne es zu wissen oder zu wollen; Girolamo Saccheri etwa wollte das euklidische Parallelenpostulat beweisen, trug aber tatsächlich zur Entwicklung nichteuklidischer Geometrien bei. Nicht zuletzt scheint die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz Grenzen des Intentionalismus aufzeigen zu können. Unter der wohlbegründeten Annahme, dass Computer tote Maschinen ohne Innenseite sind und folglich ohne Intentionen, müsste das, was sie durchaus hervorbringen können (etwa Metaphern), ohne Bedeutung sein, wenn Bedeutung sich in dem erschöpfte oder immer daran rückgebunden wäre, was jemand zum Ausdruck bringen will; denn Computer wollen nichts.

Hösle selbst macht nicht nur auf solche Gründe gegen den strikten Intentionalismus aufmerksam, er macht sie auch auf brillante Weise stark, und dies gerade auch dort, wo die Frage nach der Autorintention besonders relevant, ja virulent ist - in der Jurisprudenz (wobei er bemerkenswerterweise die Debatten um den Originalismus in den Vereinigten Staaten nicht nachzeichnet).

In der Tat macht Hösle diese Argumente so stark, dass sich die Frage aufdrängt, ob er tatsächlich zu Recht beanspruchen darf, einen moderaten Intentionalismus zu vertreten. Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich auch davon ab, was man unter einem solchen moderaten Intentionalismus überhaupt versteht und worin sich diese Position von einem (moderaten) Anti-Intentionalismus unterscheidet. Strikte Intentionalisten behaupten, es gehe bei der Interpretation ausschließlich darum, herauszufinden, was der Autor mit dem, was er kundtut, sagen wollte. Strikte Anti-Intentionalisten behaupten, dass es darum (um die intentio auctoris) gar nicht ginge, sondern dass eine gültige Interpretation eben gar nicht an die (rekonstruierte) Autorintention gebunden sei.

Aber wer sagt so etwas? Nun, vielleicht mehr Autoren, als man denkt. Die Frage, ob eine oder eben auch Hösles moderate Position nun dem Intentionalismus nähersteht oder dessen Gegenstück, ist nicht leicht zu beantworten. Natürlich kommt es in vielen lebensweltlichen Kontexten selbstredend darauf an zu verstehen, was jemand will oder denkt. Aber bei wissenschaftlichen oder künstlerischen Werken?

Den entscheidenden Unterschied zwischen intentionalistischen und nichtintentionalistischen Theoriefamilien sieht Hösle darin, dass Erstere das Verstehen der Autorenintention für wichtig halten und dass der Test für die Gültigkeit einer Interpretation darin bestehen kann, den Autor zu fragen; verneint er, sein Werk soundso gemeint zu haben, ist die Interpretation widerlegt.

Dabei akzeptiert Hösle sogar ein weiteres Standardargument der Anti-Intentionalisten: Wir haben bei der Interpretation einer Autorin oft (und irgendwann sicher) nichts anderes als das Werk, weil die Autorin tot oder nicht zugänglich ist. Und selbst wenn man die Autorin befragen kann, muss ihre Auskunft nicht nur zutreffen - sie kann und wird sich ja auch oft, vor allem rückblickend, selbst falsch verstehen -, diese muss ja auch wieder interpretiert werden (Robert Frost soll auf die Bitte, eines seiner Gedichte zu erklären, die Antwort gegeben haben: "Do you want me to say it worse?"). Und so fällt auf, dass Hösle dort, wo er zehn paradigmatische Beispiele legitimen und illegitimen Überschreitens der Autorintention erörtert, diese nur in einem einzigen, zudem noch trivialen Falle uneingeschränkt als falsifizierende Instanz anerkennt.

Was Hösle antreibt, ist die berechtigte Sorge um die Beliebigkeit vieler Interpretationen in geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Aber vielleicht ist der Grund für diese Beliebigkeit weniger in der Abkehr von der Autorintention zu suchen, sondern vielmehr in einer Textvergessenheit, deren Remedium (Textnähe und wohlwollende Kohärenzunterstellungen) sogar mit einem moderaten Anti-Intentionalismus verträglich ist. Intentionalismus ist keine notwendige Bedingung für die Möglichkeit objektiver Kriterien der Interpretation. Wird man Hösle vielleicht besser verstehen, als er sich selbst versteht, wenn man ihn zu den moderaten Anti-Intentionalisten zählt?

DIETER SCHÖNECKER

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"Ungeheuer beeindruckendes und geradezu übermenschlich gebildetes Meisterwerk."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Dieter Schönecker

"Was die Lektüre zum Vergnügen macht, ist (Hösles) unbezweifelbares Weltwissen und sein Witz, sein trockener Humor."
Mittelbayerische Zeitung, Helmut Hein