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Die Geschichte der Kunst verlief anders, als es die Kunstgeschichte bisher wahrnehmen wollte. Wenn wir den -Rückspiegel- auf die Vergangenheit richtig einstellen, erweisen sich viele Entdeckungen der Kunst unseres Jahrhunders als Wiederentdeckungen - so lautet Werner Hofmanns überraschendes Ergebnis. Das nimmt der Avantgarde des 20. Jahrhunderts nichts von ihrer Brisanz. Aber es erlaubt, selbst noch die elektronische Bilderflut als Teil einer kontinuierlichen Bilderfahrung zu verstehen, die in der westeuropäischen Kunst vom Mittelalter bis in die Gegenwart reicht.

Produktbeschreibung
Die Geschichte der Kunst verlief anders, als es die Kunstgeschichte bisher wahrnehmen wollte. Wenn wir den -Rückspiegel- auf die Vergangenheit richtig einstellen, erweisen sich viele Entdeckungen der Kunst unseres Jahrhunders als Wiederentdeckungen - so lautet Werner Hofmanns überraschendes Ergebnis. Das nimmt der Avantgarde des 20. Jahrhunderts nichts von ihrer Brisanz. Aber es erlaubt, selbst noch die elektronische Bilderflut als Teil einer kontinuierlichen Bilderfahrung zu verstehen, die in der westeuropäischen Kunst vom Mittelalter bis in die Gegenwart reicht.
Autorenporträt
Dr. phil. Werner Hofmann, geb. 1928, Professor der Kunstgeschichte, wirkte von 1960-69 in Wien als Gründungsdirektor des Museums des 20. Jahrhunderts, bis 1990 war er Direktor der Hamburger Kunsthalle. Neben seiner Vortrags- und Lehrtätigkeit, ist er vor allem durch seine Veröffentlichungen zur Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts sowie durch zahlreiche bedeutende Ausstellungen, darunter die Hamburger Ausstellungsreihe 'Kunst um 1800'. bekannt geworden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Kunststück, die Kunst zu verlernen
Freie Fahrt den Polyfokalisten: Werner Hofmann sieht die Moderne im Rückspiegel / Von Henning Ritter

Vor hundert Jahren malte Paul Gauguin ein Triptychon des Südseelebens, dem er den philosophisch anspruchsvollen Titel gab: Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir? Mit diesen Fragen und mit Gauguins Altar reiner Diesseitigkeit beginnt Werner Hofmann sein neuestes Buch, das sich weit in philosophische Fragen vorwagt und nichts weniger sein will als eine Neubewertung der künstlerischen Moderne. An Gauguins Gemälde interessiert ihn dessen unbefangenes Ignorieren des traditionellen Illusionismus. Hofmann will in Gauguins nach seiner Flucht in die Südsee geschaffenem Werk ein Programmbild der Erneuerung der Malerei sehen, auch eine implizite Kunsttheorie, die es für die seitherige Moderne verbindlich zu machen gelte. Der kunstgewerblichen Philosophie dieses Bildes so viel Gewicht zu geben, bleibt ein fortwirkender Mißklang des Buches. Was immer Gauguins Rang sein mag, als Philosoph ist er ein Spielball von Zeitströmungen: Er verwirklicht exotische Phantasien, denen man auf dem bürgerlichen Sofa im Dämmerschlaf nachhängt.

Wenige Absätze weiter vergleicht der Autor ein Gnadenbild aus Mariazell um 1200, das verschiedenste Materialien miteinander zu einschüchternder Pracht verbinde, mit Gustav Klimts Bild "Der Kuß" von 1908, das sich mit dem siebenhundert Jahre älteren Madonnenbild nun unter dem gemeinsamen Begriff der Ikone trifft. Beide so unterschiedlichen Werke sind für den Verfasser "Realitätsmischungen", die uns verwirren, da sie von uns verlangen, "die Sehweise zu wechseln und das Unvereinbare zu kombinieren". Auf wenigen Seiten gelingt es dem Autor, das vielschichtige und komplizierte Thema seines Buches anzuschlagen: die Legitimation von Bildformen, die sich von dem "homogenen Scheinbild eines Wahrnehmungseindrucks" lösen.

Aber dennoch dürfte nichts verfehlter sein, als für die Werke der modernen Kunst Analogien in der Tradition zu suchen, es sei denn, die Künstler hätten dort Anregungen gesucht. Die Ähnlichkeit von Kandinskys "kühler Kombinatorik" mit dem "Strukturprinzip der irisch-northumbrischen Buchmalerei des hohen Mittelalters" oder zwischen Klees "Erkundungen" und den "Sprachmitteln der hochmittelalterlichen (noch nicht illusionistisch gestimmten) Buchmalerei" kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die modernen Werke einer sisyphischen Anstrengung entspringen, jede herkömmliche, verbindliche Bildordnung zu negieren. So würden sie sich an den Bildordnungen, mit denen sie verglichen werden, auch nur momentan stabilisieren, um dann dem Willen zur Unähnlichkeit wiederum nachzugeben. Nicht umsonst sind Einflüsse der Tradition oder außereuropäischer Kunst stets nur Episode geblieben.

Der Untertitel des Buches, "Hauptwege der Kunstgeschichte", spricht die polemische These aus, daß alle Abweichungen vom neuzeitlichen Illusionismus nicht Nebenwege seien, sondern die große Straße, auf der sich in Wahrheit auch die moderne Kunst bewegt. Das Pensum des Autors ist ungeheuer, auch wenn er nur einige "Blicke aufs Mittelalter" wirft und die Neuzeit im wesentlichen auf Irregularitäten hin befragt. Wie aus den Ausstellungen und Büchern von Werner Hofmann hinlänglich bekannt, gehört seine Vorliebe schon seit je den Künstlern, die sich von den Konventionen des Hauptstroms abwandten: Piranesi, Reynolds, David, Füßli, Goya, Friedrich, Runge, Blake. In seinem reich illustrierten, als eine imaginäre Ausstellung komponierten Werk über die Kunst zwischen 1750 und 1830 ("Das entzweite Jahrhundert", siehe F.A.Z. vom 20. April 1996) hatte Hofmann überzeugend demonstriert, wie stark die Linie der Abweichung die Epoche durchkreuzt. Wenn er sich nun dem neunzehnten Jahrhundert und der Moderne zuwendet, erweist sich der Fundus seiner Beispiele vollends als unerschöpflich. Der Leser, der sich diesem Cicerone durch den Irrgarten der modernen Bilderfindungen anvertraut, wird in das erwartete Labyrinth hineingeführt, aber auch sicher wieder hinausgeleitet. Auf dem Weg werden ihm Unbekannte begegnen, aber noch mehr Bekannte in ungewohnter Aufmachung. Die Bildfolge, zu deren Betrachtung Werner Hofmann einlädt, ist alles andere als das konventionelle Repertoire der erfolgreichen Moderne, an das die großen Retrospektiven das Publikum gewöhnt haben.

Der Titel des Buches spricht zwar auch von einem Rückblick auf die Moderne, genauer: dem Blick in einen Rückspiegel, in dem die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts als etwas erscheint, von dem man sich entfernt. Darin scheint eine gewisse Endgültigkeit zu liegen, das Thema des Endes der Moderne. Aber in der automobilistischen Metapher verbirgt sich nicht ohne Raffinesse ein anderer Aspekt, das eigentliche Thema des Buches, das kein allgemeiner Rückblick auf die moderne Kunst sein will, wie er am Ende des Jahrhunderts naheliegt. Der Blick in den Rückspiegel deutet auf eine Sehleistung, die der Mensch der Reizüberflutung abtrotzt: "Jeder Autolenker ist imstande, abwechselnd die Straße vor sich und - im Rückspiegel - hinter sich zu überblicken." Was hier als Bild angesprochen werden kann, ist eine synthetische Leistung besonderer Art, die den homogenen illusionistischen Bildraum hinter sich läßt und zu einer anderen, nach Ansicht des Autors: raffinierteren oder zumindest reflektierteren Bildform vordringt. An einer Fülle von Material und in immer neuen definitorischen Anläufen wird eine fundamentale, bisher nicht hinlänglich erkannte Bildform der modernen Kunst freigelegt.

Diese Bildform, auf die Hofmann die Kunst unseres Jahrhunderts festlegen will, ist seiner Ansicht nach näher mit der Kunst aller Epochen und Zeiten verbunden als mit jener Bildform, die seit der Renaissance den Zusammenhang mit dieser Lingua franca zerschnitt. Der Autor wird nicht müde, den Namen für diese Bildform zu wiederholen, als gelte es, deren Ubiquität mit aller Macht einzuprägen. Er spricht meist vom "polyfokalen Bild" oder auch vom Mehrfeldbild. Was gemeint ist, wird allerdings so recht nur am Gegenbegriff deutlich: dem des "monofokalen Bildes". Er bezeichnet das in der Renaissance verbindlich gemachte illusionistische Tafelbild, das von Giorgio Vasari in einem berühmten Vergleich als Blick aus dem Fenster charakterisiert worden ist: "Vorerst beschreibe ich auf die Bildfläche ein rechtwinkliges Viereck von beliebiger Größe, welches ich mir wie ein geöffnetes Fenster vorstelle, wodurch ich das erblicke, was hier gemalt werden soll." Alles, was einem solchen Bild gleicht, wird vom Autor einer beeindruckenden, aber am Ende vergeblichen Sonderentwicklung des abendländischen Illusionismus zugerechnet. Während der abendländische Rationalismus, der diese Entwicklung im wesentlichen trug, von einem Max Weber zu den Grundlagen der modernen Gesellschaft gerechnet worden war, ist für Hofmann der Illusionismus des "Blicks aus dem Fenster" nichts weiter als eine Konvention, die durch die moderne Malerei längst um ihre Verbindlichkeit gebracht worden ist.

Das von Hofmann für die Moderne in Anspruch genommene Bild weicht von dem Blick aus dem Fenster selbst dort ab, wo gleichermaßen ein Realitätsbezug gesucht wird: Das Realitätsbild des Autofahrers fügt eine wirkliche Wahrnehmung mit einer spiegelverkehrten zusammen, und diese heterogenen Bilder fügen sich nicht zu einer einheitlichen Anschauung, sondern zu einem mit Anschauung gefüllten Orientierungsraum. Wie dieser Anschauung zweiter Stufe fehlt auch dem polyfokalen Bild die rational erschlossene Einheit des perspektivischen Raumes. Offenbar vermeidet der Autor den Begriff der Perspektive, um sich nicht auf die erkenntnistheoretischen Fragen des Perspektivismus einlassen zu müssen. Es würde dann wohl deutlich, daß die Polyperspektivität ein Ableger des neuzeitlichen Perspektivismus ist und an dessen Voraussetzungen gebunden bleibt. Das Bild, dem die moderne Malerei in vielen Anläufen seit der Wende um 1750 zum Durchbruch verhilft, soll dagegen ein definitiver Bruch mit dem Illusionismus der neuzeitlichen Malerei sein und ein Vorstoß zu anderen Grundlagen und Formen der Bildlichkeit.

"Jeder Bruch mit einer Tradition knüpft an eine andere an", lautet ein entscheidender Satz der Exposition des Buches. Als Ablösung von der neuzeitlichen Bildrationalität ist die Moderne nicht der abstrakte Neuanfang, als den sie sich proklamierte, sondern erscheint als eine umfassende Revision, als Rückkehr zu Wahrheiten, die der "Blick durchs Fenster" in Vergessenheit geraten ließ. Sie ist ein dramatisches Umlernen, ja Verlernen. Die Rolle dieses Motivs auf dem Weg zur modernen Kunst wird von Werner Hofmann zum ersten Mal ausgeleuchtet: Schon vor der Französischen Revolution stellten sich französische Künstler in Rom die Aufgabe, "die akademische Routine zu verlernen", und Joshua Reynolds erkennt den Vorsprung der Alten vor den Modernen darin, daß sie weniger zu "verlernen" hatten. Hundertzwanzig Jahre später ist "die Kunst, die Kunst zu verlernen" ein Programm. Hofmann glaubt diesem oft pompös vorgetragenen "Könnensverzicht" offenbar aufs Wort, obwohl schon das Wort so klingt, als sei die Sache nicht so schwer gefallen. Ein ähnliches, vom Autor zum ersten Mal ins rechte Licht gerücktes Motiv findet sich 1916 bei Viktor Sklovskij, der in einem Essay "Die Kunst als Verfahren" die Kategorie der "erschwerten Wahrnehmung" einführt und das Verfahren der "erschwerten Form", "das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung" steigern soll. Die damit zusammenhängenden Fragen werden von Hofmann in brillanten Passagen entwickelt, freilich selten mit Ironie, wie sie bei ihm einmal vielleicht mit Blick auf das letzte Werk von Duchamp aufleuchtet, das sich erst dem voyeuristischen Blick durch ein Scheunentor ganz erschließt. Hofmann deutet es als Abbitte an die von Duchamp bis dahin völlig mißachtete Perspektive, als Rückkehr zur "Monofokalität": "Somit löst die Monofokalität des Voyeurs erneut die Polyfokalität ab." Aber ironische Kommentare dieser tragikomischen Revision erübrigen sich: Die Revisionen der Avantgarde sind soviel wert wie deren Neuheiten. Ihnen die Glaubwürdigkeit abzusprechen, wäre noch weniger zu rechtfertigen: Malewitsch, Mondrian, Picabia, De Chirico und, als Meister der überraschenden Wendungen, Picasso sind in ihren Revisionen und Rückfällen gleichermaßen ernst zu nehmen. Aber die Bedeutung all dieser Abweichungen von der Abweichung sind in die Geschichte der modernen Kunst noch nicht hinlänglich integriert worden. Auch Werner Hofmann ist dieser Einsicht nicht konsequent gefolgt.

Beeindruckend an seinem Buch ist im übrigen dessen Rigorismus: daß es alles auf die Karte eines Einfalls setzt, der nun zu einem kunstgeschichtlichen Universalschlüssel wird. Das Buch umkreist sein Thema mit einer solchen Verbissenheit, daß man an ein ähnlich einseitiges Buch aus der Kommentarliteratur zur modernen Kunst denken muß: Hans Sedlmayrs "Verlust der Mitte". Gegen die Voraussetzung, daß es sich bei dem Verschwinden einer eindeutig faßbaren Mitte um einen Verlust handelt, argumentiert "Die Moderne im Rückspiegel". Was Sedlmayr als Verlust beklagte, soll die Wiedergewinnung einer ursprünglicheren Bild-Normalität sein - von Altamira bis Florenz -, der gegenüber die neuzeitliche Illusionsmalerei eine exorbitante Abweichung darstellte, einen mächtigen Sonderweg der Kunstgeschichte.

Mehr kann man am Ende des Jahrhunderts für die Moderne nicht tun. Insofern ist Hofmanns Buch, das seine im wesentlichen an der Kunst um 1800 gewonnenen und in bedeutenden Hamburger Ausstellungen erprobten Einsichten für die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts verbindlich macht, ein Versuch, der modernen Kunst ein stabiles Fundament nachträglich zu unterlegen. Denn ihre Legitimität würde, bei gelungener Demonstration, nicht mehr nur historisch in Anspruch genommen, sondern epochenübergreifend gesichert. Es ist kein Zufall, daß die Wiener Schule der Kunstgeschichte, mit Riegl, Wickhoff und vor allem Julius von Schlosser als Vorbild erkennbar wird. Sie hatten es ja zum ersten Mal unternommen, die Kohärenz und Bildrationalität von Epochenstilen nachzuweisen, die nicht nach dem Muster des neuzeitlichen Illusionismus funktionierten oder als Vorstufen dazu angesehen werden konnten.

Die große Leistung der Wiener Schule war nicht nur die Zerstörung der Epochenhierarchie nach Maßgabe der klassischen und der Renaissancekunst, sondern auch die Entgrenzung der hohen Kunst hin zu den Randkünsten - das Wiener Jahrbuch des Allerhöchsten Kaiserhauses ist um die Jahrhundertwende eine einzige Kunstkammer, wo von Wachsbildnissen, von "art rustique" und anderen Absonderlichkeiten gehandelt wird. In der Wiener Schule triumphierten in der Kunstgeschichte die antiklassischen Strömungen der Kunst, während sich in der unmittelbaren Umgebung eine folgenreiche Sezession vom herrschenden Geschmack des neunzehnten Jahrhunderts vollzog.

Beide Strömungen werden in Werner Hofmanns Buch zusammengeführt. Es bestätigt dabei Ahnungen Schlossers, der mit Blick auf das Kommende gesagt hat: "Orientalische und barbarische Weltanschauung sind die großen geistigen Mächte der Zukunft." Bildmagie, Verrätselung, Vergröberung würden die auffälligsten Folgen der Abwendung von klassischen Idealen sein. Für Julius von Schlosser vollzog die Kunst der Jahrhundertwende mit vielerlei "Rückläufigkeiten" den "Umschwung auf eine frühere Stufe", zu einem "neuen ,Mittelalter'". Solchen "Rückläufigkeiten" wird der Ruch des Regressiven genommen. Erscheinungen der Stilmischung, des Spiels mit Realitätsebenen, Zusammenhanglosigkeit, Widerspruch werden in die Epochenikone des "Mehrfeldbildes" integriert, ähnlich wie Freud im Traum den Schauplatz für das Auftreten von allen nur möglichen Irregularitäten entdeckt hatte: "Der Traum ist unzusammenhängend, vereinigt ohne Anstoß die ärgsten Widersprüche, läßt Unmöglichkeiten zu, läßt unser bei Tage einflußreiches Wissen beiseite, zeigt uns ethisch und moralisch stumpfsinnig."

Allerdings kommt die Leichtfertigkeit, mit welcher der "neuzeitliche Illusionismus" als "geschlossenes System" gebrandmarkt wird, das "auf der monofokalen Ausgrenzung aller polyfokalen Möglichkeiten (und Versuchungen)" beruhe, einer Denunziation gleich. Als Philosoph erringt der Autor leichte Siege, weil er lediglich das heutige Vorurteil gegen geschlossene, gar monistische Systeme abzurufen braucht und damit dem geläufigen Pluralismus huldigt, dessen Erkenntnisleistung im allgemeinen weit überschätzt wird.

Mag es richtig sein, daß das "Nebeneinander verschiedener Wirklichkeiten" in einem Mehrfeldbild umstandslos verwirklicht werden kann, so ist mit dieser Feststellung noch gar nichts darüber gesagt, in welcher Weise Vielfalt und Vielartigkeit ins neuzeitliche Bild aufgenommen werden. Denn seine größte Leistung liegt darin, daß innerhalb des illusionistischen Tiefenraums und innerhalb einer stringenten Vorstellung von Einheit verschiedene Wirklichkeitsstufen artikuliert werden, von der Grisaille bis zu gemalten Träumen und Visionen. Die spezifische Leistung des Illusionismus der neuzeitlichen Malerei wird verkannt, wenn man ihn "eineinsichtig" nennt, als sei es eine auf vorgegebene Einsichten festgelegte Eindeutigkeit. Es ist eine elementare Erfahrung, daß perspektivische Bilder nicht nur besonders viel, sondern auch viel Heterogenes zu sehen geben. Obwohl die "einfachen Formen" bildlichen Erzählens von der neuzeitlichen Malerei rigoros unterdrückt werden, erschließt sie eine einzigartige Welt von Erzählbarkeit in der Historienmalerei.

Wie die illusionistische Malerei auch das Nichtsichtbare, etwa die Rückseite von Figuren und Gebäuden, zur Erscheinung bringt, "appräsentiert", so holt der Illusionismus des "Blicks aus dem Fenster" imaginäre Wirklichkeiten und Welten in die angeblich so "eineinsichtigen" Bildschöpfungen der Neuzeit. Eine Folge - auch das verschweigt Hofmanns Urteil über das neuzeitliche Tafelbild - dieser illusionistischen Disziplin ist die Vielfalt von Bildgattungen, von der Landschaft bis zum Genre, die sie freisetzt. In der Epoche der "Polyfokalität" dagegen ist der Verlust an Gattungsunterschieden der Malerei nicht zu übersehen. Das "polyfokale Bild" mit seiner Lizenz, sich beliebiger Materialien und Bildmittel zu bedienen, neigt zu einer flächenbrandartigen Entwicklung, zum bloßen Ausdruck ohne Formzwang. Aber auch etwas Komisches mischt sich in die Vorstellung des Polyfokalismus, denn man fühlt sich an den "Emphatikalismus" in "Ein Amerikaner in Paris" erinnert; fast möchte man, wie in Zeiten des Existenzialismus, mit der Gründung polyfokalistischer Gruppen rechnen.

Worum geht es dieser ehrgeizigen Streitschrift? Offenbar will Werner Hofmann eine weitere Historisierung der Moderne unterbinden. Anstelle einer kontingenten Reihe von Anstößen und Reaktionen soll die Moderne im nachhinein eine programmatische Orientierung erhalten, die zugleich ein Schlüssel zum Selbstverständnis der wirksamsten Künstler der Epoche sein soll. Ihnen wird so etwas wie ein polyfokales Credo unterstellt. Wir haben es dabei mit einer merkwürdigen literarischen Gattung zu tun: einer retrospektiven Programmschrift - ein hölzernes Eisen. Der Autor ist der Meinung, daß die moderne Kunst in einer großen Kontinuität zu menschlichen Bild- und Bewußtseinsleistungen steht, während die neuzeitliche Kunst, die mit dem perspektivischen Illusionismus der Renaissance einsetzt, eine Abweichung sei und letztlich in eine Sackgasse geführt habe. Die Moderne schließt sich dem gegenüber mit der Kunst des Mittelalters, der Spätantike und den Kunstübungen vieler Epochen und Kulturen zusammen.

Eine solche Behauptung wirkt heute allerdings nicht mehr provozierend, wie es bei den ähnlich klingenden Behauptungen von Kunsthistorikern der Wiener Schule der Fall war, als sie die Kunst ihrer Zeit mit nach herkömmlichen Maßstäben rückständigen, ja primitiven oder reprimitivierten Kunstformen, beispielsweise der Spätantike, verglichen. Daß eine solche Provokation heute nicht mehr eintritt, ist ein Beweis für eine weitgehende Normalisierung der zeitgenössischen Kunsterfahrung. Dem Vorschlag von Werner Hofmann, die Kunst unserer Zeit in den großen Strom polyfokaler Darstellungen einfließen zu lassen, wird aber möglicherweise gerade deswegen kein Erfolg beschieden sein, weil man einen solchen Anschluß nicht als Zumutung, als Spannungssteigerung, sondern als Spannungsverlust, als Entspannung empfinden würde.

Die Moderne lebte aus der Negation, aus dem Widerspruch. Eine Normalisierung verträgt sie nicht, und sei es auch die überwältigende Normalität des von einem einstmals verehrten Ideal Abweichenden. Nicht die Annäherung an die außerneuzeitliche Kunst könnte die moderne Kunst noch einmal neu und interessant erscheinen lassen, sondern allenfalls die Entdeckung, daß sie ein Ausläufer eben des neuzeitlichen Rationalismus ist, wie ein Adoptivkind, das erst spät erfährt, wer seine wahren Eltern sind. Die Kunst wie der Rationalismus der Neuzeit werden in Werner Hofmanns Darstellung, wie es üblich geworden ist, mit wohlfeiler Herablassung behandelt. Der Moderne würde es besser bekommen, wenn sie den Anschluß an die Kunst der Neuzeit zurückgewinnen würde.

Werner Hofmann: "Die Moderne im Rückspiegel". Hauptwege der Kunstgeschichte. Verlag C. H. Beck, München 1998. 399 S., 214 Abb., geb., 78,- DM.

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