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Kaum ein Protagonist der Umbruchszeit 1989/90 polarisiert bis heute so wie Wolfgang Schnur. Als Anwalt arbeitet Schnur (geb. 1944) in der DDR als Rechtsbeistand für Bürgerrechtler und Wehrdienstverweigerer. Nicht wenige sehen den Mitbegründer und Vorsitzenden des Demokratischen Aufbruchs als kommenden Wahlsieger bei den Volkskammerwahlen im März 1990 und damit als künftigen DDR-Ministerpräsidenten. Doch kurz vor der Wahl wird bekannt, dass Schnur seit den 1960er Jahren für die Stasi tätig war. Es beginnt ein langer Absturz mit dem Entzug der Anwaltszulassung 1993 und diversen Verurteilungen.…mehr

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Produktbeschreibung
Kaum ein Protagonist der Umbruchszeit 1989/90 polarisiert bis heute so wie Wolfgang Schnur. Als Anwalt arbeitet Schnur (geb. 1944) in der DDR als Rechtsbeistand für Bürgerrechtler und Wehrdienstverweigerer. Nicht wenige sehen den Mitbegründer und Vorsitzenden des Demokratischen Aufbruchs als kommenden Wahlsieger bei den Volkskammerwahlen im März 1990 und damit als künftigen DDR-Ministerpräsidenten. Doch kurz vor der Wahl wird bekannt, dass Schnur seit den 1960er Jahren für die Stasi tätig war. Es beginnt ein langer Absturz mit dem Entzug der Anwaltszulassung 1993 und diversen Verurteilungen. Alexander Kobylinski, einst selbst Mandant von Schnur, folgt dessen Lebenslauf von der Jugend im Nachkriegsdeutschland, der Ausbildung zum Rechtsanwalt, seiner Anwerbung durch das MfS und der Tätigkeit als Spitzel bis zur Enttarnung 1990. Kobylinski zeigt, wie Schnur mit viel Geduld, aber äußerst zielstrebig vom MfS aufgebaut wurde und schließlich zu einer wichtigen Person in der Bürgerbewegung wurde. Und er lässt die 'Einbrüche' in Schnurs Karriere erst richtig verstehen.
Autorenporträt
Alexander Kobylinski, geb. 1964 in Erfurt, 1984/85 wegen 'staatsfeindlicher Aktivitäten' in Haft. In Göttingen und an der FU Berlin studierte er Germanistik, Philosophie und Soziologie. Ab 1994 Arbeit als Fernsehjournalist beim rbb. Ab 2004 viele Jahre Autor beim ARD-Magazin 'Kontraste'. Seit 2012 freier Autor.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2015

Zwischen Stolpe und Mielke
Wolfgang Schnur, der Machtanspruch der SED und die Kontakte zur Familie Kasner

Hier haben wir ein DDR-Schicksal der besonderen Art vor uns. Wolfgang Schnur, der vor den Märzwahlen 1990 enttarnte Spitzel, hatte sich bereits für eine Führungsposition im vereinten Deutschland gerüstet, als ihn die Vergangenheit einholte. Der Titel des Buches ist reißerisch, aber unscharf. Wer kann entscheiden, ob es ein "Spitzenspitzel" war? Ist man so sicher, dass es nicht noch erfolgreichere Agenten gab? Gleichwohl ist an seinem "Erfolg" nicht zu zweifeln.

Der Autor kannte Schnur persönlich. Dieser war sein Anwalt, als er wegen Verbreitung von Flugblättern 1984 in Haft war. Das Material, auf dem das Buch beruht, ist interessant, aber einseitig; es besteht fast ausschließlich aus seinen MfS-Akten, die den stattlichen Umfang von 41 Ordnern umfassen, von denen allerdings zwei - sicher nicht die unwichtigsten - verschwunden sind. Die Zitierweise aus diesem Quellenbestand ist völlig unbefriedigend. Dennoch verdient das Buch trotz seiner Schwächen einige Aufmerksamkeit. Die Fülle des Materials vermittelt nämlich interessante Einblicke, die weniger mit dem MfS als mit dem politischen System der DDR zu tun haben.

Wolfgang Schnur hatte keine leichte Kindheit, aber einen unbeugsamen Aufstiegswillen, der ihm vorerst nicht viel einbrachte. 1965 unterschrieb er die Verpflichtung als Inoffizieller Mitarbeiter (IM). Sein Einsatzgebiet wurde die Kirche. Er hatte "zum Glauben" gefunden und nahm über das evangelische Jungmännerwerk, deren Sprecher er später sogar wurde, Kontakte zu den "Bausoldaten" auf. Das waren Wehrdienstverweigerer, die durch das Festhalten an ihrer Überzeugung einen harten Ersatzdienst in Kauf nahmen. Ihr "Ungehorsam" machte sie in hohem Maße verdächtig.

Die Kirche wurde vom totalitären Machtanspruch der SED nicht voll erfasst und konnte ein begrenztes Eigenleben führen. Umso wichtiger war nicht nur ihre Überwachung, sondern auch die Einflussnahme auf ihre Tätigkeit. Schnur eignete sich hervorragend für diese Aufgabe und wurde entsprechend gefördert. Nur der Stasi verdankte er die Möglichkeit zu einem Jura-Fernstudium und später die Zulassung zum Rechtsanwalt. Das sollte die Startposition für eine einzigartige Karriere werden, die er zielstrebig ausbaute. Er wurde zum geschätzten Mitarbeiter im Rahmen der Kirche und als Anwalt zum Vertrauten für politische Gefangene, mit denen er rasch eine "kleine Andacht machte" oder mit ihnen, auf dem Boden der Zelle kniend, betete. Alles Mitteilenswerte meldete er dann an die Genossen der Staatssicherheit.

Mit Hilfe des MfS gelang es ihm, die begehrte Position eines "Einzelanwalts" zu erringen. Als Anwalt für Wehrdienstverweigerer arbeitete er eng mit Manfred Stolpe zusammen, dem Chef des Brandenburger Konsistoriums. Schnur war in einem schwierigen Fall für ihn besonders hilfreich. Es galt, einen Häftling zu einem Ausreiseantrag zu bewegen. Damit sollte die zu erwartende mehrjährige Gefängnisstrafe vermieden werden, aus der der Westen nur politisches Kapital schlagen würde. Die "geräuschlose Erledigung" solcher Fälle hatte steigende Tendenz. Allerdings überrascht die Reaktion Stolpes. Er übergab dem Anwalt "einen versiegelten Umschlag mit einem Bargeldbetrag in Höhe von 20000 Mark. Dieser Geldbetrag soll zur Deckung der erheblichen Reisekosten für die Praxis verwandt werden."

Schnur stand zwischen Manfred Stolpe und Erich Mielke, zwischen dem souveränen Kirchenmann und dem Stasi-Chef, an den er sich wiederholt gewandt hatte. Die evangelische Kirche und das MfS verbanden gleichlaufende Interessen. Die Kirche, deren höhere Ränge von IMs durchsetzt waren, war zur Zusammenarbeit mit dem Staat bereit und genoss so eine Reihe Vergünstigungen. Schnur nutzte beide Seiten zu seinem Vorteil, wusste aber stets, dass die Abhängigkeit vom MfS lebenswichtig war.

Es ist eigenartig. Die Tätigkeit Schnurs erregte in der Kirche keinen Verdacht. Niemand äußerte Vermutungen, dass sein Auftreten und seine Erfolge auf der Führung durch das MfS beruhten. Westdeutschen Amtsbrüdern kam dagegen eine Figur wie Schnur eher verdächtig vor. Sie fragten sich, "ob Rechtsanwalt Schnur für das Ministerium für Staatssicherheit arbeitet". Ein rheinischer Amtsbruder wandte sich deshalb an die Greifswalder Kirche. Die Antwort aus Greifswald war nichtssagend; sie kam von einem Konsistoriumsmitglied, das selbst IM war.

Schon frühzeitig hatte Schnur einen Pkw angefordert. Mit seinem Aufstieg stiegen die Ansprüche. Nun wollte er "ein sicheres, aber auch bequemes Fahrzeug" haben. Was anderes konnte dies als ein Mercedes sein, der über die Berlin-Brandenburgische Kirche eingeführt wurde? Schließlich wurde ihm in Ost-Berlin ein Haus angeboten. Der Preis sollte 400 000 Mark betragen. Es blieb offen, wer den Betrag bezahlen und in welcher Währung - Ost oder West - der Kauf erfolgen sollte.

Im Buch ist weder von Angela Merkel noch von ihrem Vater Horst Kasner die Rede. Das verwundert, werden doch in der Literatur häufig die freundschaftlichen Kontakte Schnurs zu der Familie Kasner erwähnt. Auch fehlt jeder Hinweis auf die Rolle Angela Merkels als früherer Mitarbeiterin Schnurs. Hier sind gewiss politische Opportunitätsüberlegungen im Spiel. Aber es bleibt die Skepsis, ob solche Verbindungen existiert haben. Es fehlen nach wie vor verlässliche Angaben über das Verhältnis zwischen Schnur und Kasner/Merkel vor dem Fall der Mauer. Es bleibt also das Rätsel einer Doppelexistenz, wie sich das Bild vom umtriebigen Stasi-Anwalt zum plötzlich auftauchenden Bürgerrechtler Schnur verhält.

Es gab mehr als einen IM, der die Wende unbeschadet überstanden hat. Bei Schnur war das anders. Er hatte wiederholt mit seiner MfS-Bezirksverwaltung in Rostock Ärger gehabt. Sein Auftreten und seine Ansprüche hatten den Genossen nicht gepasst. Als sie ihn nun als gewendeten Demokraten mit lupenreiner Weste zur Kenntnis nehmen mussten, reagierten sie umgehend. Ein Brief an die Zeitung genügte.

HENNING KÖHLER

Alexander Kobylinski: Der verratene Verräter. Wolfgang Schnur: Bürgerrechtsanwalt und Spitzenspitzel. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2015. 392 S., 19,95 [Euro].

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