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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2011

Er lässt sich von niemandem in die Speichen greifen

Sage mir, welche Komponenten du verbaust, und ich sage dir, wer du bist: Der Brite Robert Penn hat sich sein Traumrad bauen lassen und kann jetzt "Vom Glück auf zwei Rädern" berichten.

Das Ziel der mittelalterlichen Queste: Der Ritter zieht aus, um Abenteuer zu bestehen. Das Ziel der heutigen Fahrradritter sieht auf den ersten Blick ähnlich aus, ist aber bei genauerer Betrachtung viel stärker auf das Transportmittel konzentriert. Eine Weltumrundung mit dem Fahrrad würde man nicht mit einem Gerät aus dem Baumarkt beginnen. Deswegen hat die moderne Suche nach dem Gral ein Traumrad im Visier, und zwar das eine, schlechthinnige, das es nur einmal auf der Welt gibt. Maßgeschneidert. Die Verwirklichung dieses Traums aller Rad-Enthusiasten hat sich der englische Journalist Robert Penn geleistet: Stell' dir dein Traumrad zusammen, wähle die besten Komponenten, scheue keine Kosten und Mühen, fahre rund um die Erde, um dieses Ziel zu erreichen.

Eine Idee, deren Zauber lesende Fahrradfans sofort erliegen dürften. Denn jedes Teil - "Lenker, Vorbau, Gabel, Steuersatz, Naben, Felgen, Speichen, Tretlager, Freilauf, Kettenblatt, Ritzelpaket, Kette, Umwerfer und Schaltwerk, Pedale und Pedalarme, Bremsen und Sattel" - ist für Penn eine Geschichte, eine Erzählung wert. Er beginnt sie beim Rahmenbauer Brian Rourke in Stoke-on-Trent. Dort wird ihm die Seele des Traumrads auf den Leib beziehungsweise zwischen die Beine geschneidert. Denn Robert Penn will - damit liegt er voll im Trend einer wachsenden Szene - das Rad unter harten Bedingungen mindestens drei Jahrzehnte fahren. Da scheidet Carbon als Rahmenmaterial schon einmal aus, vor allem auch, weil es im Schadensfall irreparabel ist. Der leidgeprüfte Weltumradler Penn weiß das aus eigener Anschauung.

Dass er wenig Anekdotisches von seinen Mammuttouren einfließen lässt, ist sympathisch: Bücher dieser Art gibt es zur Genüge, ebenso Bücher über die Geschichte des Fahrrads, der Radrennen sowie Regalmeter geistig flachbrüstiger Memoiren ehemaliger Profiradler. Substantielle Bücher sind die Ausnahme; das von Penn gehört zu dieser Kategorie, weil es ihm wie Dr. Hannibal Lecter mit Marc Aurel um das Wesen der Dinge geht: Bei jedem einzelnen Ding stellt er sich die Frage - was ist es in sich selbst? Für den in seiner Begeisterung ansteckenden Autor steht fest, dass das Fahrrad zu den größten Erfindungen der Menschheit gehört, neben Buchdruck und Internet. Ein Fahrzeug der Freiheit, das Klassen- und Geschlechterschranken aufzubrechen half.

Wer einen solchen Aufwand treibt, zeigt, dass er über ein sehr reflektiertes Konsumverhalten verfügt. Dessen Prämisse lautet: Mit jeder Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Produkt gestaltet man seine Welt - ein Gedanke, den man zu Testzwecken beim nächsten Einkauf vor sich hinmurmeln sollte. An einem Fahrrad lässt sich die Abwägung gut durchexerzieren, zumal wenn man es wie Penn auf Haltbarkeit und Seriosität abgesehen hat. Jede Komponente ist wohlerwogen und damit das genaue Gegenteil von Massenmarkt. Die Suche nach den besten Handwerkern mag altmodisch erscheinen, aber sie erzählt die beinahe schon verlorene Geschichte des Triumphs der Handarbeit über die Technologie.

Dabei bedient er sich vieler Abstecher in die Geschichte. Sie wirken teilweise wikipedisch schnellkopiert, helfen aber bei der Ausgestaltung des Bildes: Wie jung und sensationell noch immer die Geschichte des Sicherheitsrades ist, das nach Draisine und Hochrad an die Stelle von starren Pedalachsen einen Kettenantrieb setzte. Die weltweite Revolution der Fortbewegung hält bis heute an; das Fahrrad ist als Innovationsvehikel nicht zu unterschätzen. Befeuert wird es neben den Tüftlern in den kleinen Werkstätten hauptsächlich von einer Industrie, die bemüht ist, ein ausgereiftes Produkt jedes Jahr völlig neu aussehen zu lassen. Der englische Ausdruck "bike porn" für Druckerzeugnisse, die dieses Marketing blind stützen, bringt es auf den Punkt.

Penn will das Gegenteil von Pornographie. Und so wird ihm seine Rundfahrt durch die Hinterhöfe auch zu einem Bericht über den Niedergang einer weiteren Branche, in der England einst eine Spitzenstellung innehatte. Dass es letzten Sommer zeitgleich mit James Hamilton-Patersons Abgesang auf die britische Luftfahrtindustrie erschien ("Empire of the Clouds") passt ins Bild. Für deutsche Leser ist diese Gewichtung zu verschmerzen; dass der Übersetzer aber Campagnolo mit dem englischen Kosenamen "Campy" stehen lässt, werden ihm die deutschsprachigen Campa-Fans nicht verzeihen.

Das von Industrie und Peloton zum Dogma erhobene Thema möglichst steifer Rahmen bürstet Penn zurecht als "hanebüchen" ab. Viel interessanter sind seine Schlenker in Anatomie und Physik. Über dem Radfahren liegt aus Sicht der Neurowissenschaft noch immer ein Schleier. "It's like riding a bike" - wer es einmal beherrscht, verlernt es nicht mehr.

Ganz ohne gehobenen Kitsch kommt auch Penn nicht aus. Etwa wenn der Laufradbauer Steve Gravenites im kalifornischen Fairfax nach getaner Arbeit den Arm um seinen Kunden legt und spricht: "Nun, mein Freund: Es ist wahr - wahrhaftig schlagfrei." Erwartbar pseudoreligiös wird es, wenn es an die Anschaffung der sogenannten Gruppe geht, der Teile, die für Antrieb, Bremsen und Schaltung verantwortlich sind. Da gibt es für Penn nur eine Firma. Sie sitzt im italienischen Vicenza und genießt weltweite Verehrung; den japanischen Weltmarktführer erwähnt der Autor nur in einem Nebensatz. Aber für einen Termin bei Campagnolo fällt er artig auf die Knie. Natürlich gewähren ihm die Italiener keinen Blick in die heiligen Hallen, stattdessen tätschelt ihn ein Firmensprecher mit den üblichen Floskeln: "Für uns ist Innovation wichtiger, sie ist Teil der DNA der Firma. Das war immer so." Da kommt die Sinnsuche an ein Ende. Andere sind großzügiger, lassen sich bei ihrer Arbeit zusehen. So etwa auch die Firma Continental im hessischen Korbach, wo sich Penn die Herstellung von Reifen zeigen lässt.

Am Ende hat er sein Traumrad, in einem Materialmix aus Stahlrahmen, Carbongabel und -lenker, Ledersattel von Brooks, Steuersatz von Chris King. Ob er mit den von ihm behaupteten 4000 Euro davongekommen ist, darf bezweifelt werden, Rahmen und Gruppe allein kosten zusammen um die 3000 Euro. Geschenkt. Am Ende sehen wir Robert Penn auf seiner ersten Ausfahrt im heimischen Wales, ein "gewöhnlicher Sterblicher, der das Göttliche berührt", wenn mit singendem Herzen auf seinem Rad sitzt. Ziel erreicht.

HANNES HINTERMEIER

Robert Penn: "Vom Glück auf zwei Rädern".

Aus dem Englischen von Andreas Simon dos Santos. Tolkemitt Verlag bei Zweitausendeins, Berlin 2011. 224 S., geb., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

4.000 Euro für ein Fahrrad? Was soll es denn können - fliegen? Hannes Hintermeier erscheint das noch wenig angesichts der Traumbestandteile, die sich der Autor, ein Radverrückter vor dem Herrn, in Hinterhofwerkstätten auf der ganzen Welt zusammensucht. Dass so viel Liebe zu Handwerk und Produkt nicht ohne Kitsch abgeht, hat Hintermeier schon vermutet. Allerdings überzeugt ihn Robert Penn auch mit sympathischem Anekdotenverzicht, Geschichts-, Physik- und Anatomielehrgängen rund ums Rad sowie mit einem vorbildlichem Konsumverhalten, das auf Qualität und Seriosität setzt.

© Perlentaucher Medien GmbH