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Dass Melancholie eine Geschichte hat, die immer auch eine Geschichte ihrer Therapie und somit ihrer Überwindung ist, wird meist vergessen. Seit der Antike im Zwischenraum der Episteme angesiedelt, schwankt sie zwischen Passionen, Todsünden, Krankheit, Wahnsinn und Literatur. Mit seiner Melancholie-Studie an den Grenzen der Diskurse schreibt Starobinski darum moderne Epistemologie: Die Geschichte der Melancholiebehandlung erweist sich als Geschichte des Entzugs.

Produktbeschreibung
Dass Melancholie eine Geschichte hat, die immer auch eine Geschichte ihrer Therapie und somit ihrer Überwindung ist, wird meist vergessen. Seit der Antike im Zwischenraum der Episteme angesiedelt, schwankt sie zwischen Passionen, Todsünden, Krankheit, Wahnsinn und Literatur. Mit seiner Melancholie-Studie an den Grenzen der Diskurse schreibt Starobinski darum moderne Epistemologie: Die Geschichte der Melancholiebehandlung erweist sich als Geschichte des Entzugs.
Autorenporträt
Jean Starobinski studierte Medizin und Literaturwissenschaft und war bis zu seiner Emeritierung Professor für die Geschichte der französischen Literatur, für Ideengeschichte und Medizingeschichte an der Universität Genf.

Cornelia Wild ist Professorin für Romanische Literatur und Kulturwissenschaft an der Universität Siegen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2011

Die schwarze Galle verfolgte die Ärzte noch lang
Von den falschen Säften zu den wahnhaften Ideen: Jean Starobinskis "Geschichte der Melancholiebehandlung"

In seinen "Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen" beschreibt der Psychiater Johann Christian Reil 1803 eine therapeutische Methode, bei der ein bizarres Musikinstrument zum Einsatz kommt: "Die Thiere waren nach der Tonleiter ausgesucht, in eine Reihe mit rückwärts gekehrten Schwänzen geordnet; auf dieselben fiel eine mit scharfen Nägeln versehene Tastatur. Die getroffene Katze gab ihren Ton. Eine Fuge auf diesem Instrument, zumal wenn der Kranke so gestellt wird, dass er die Physiognomie und das Geberdenspiel dieser Thiere nicht verliert, müsste selbst Loth's Weib von ihrer Starrsucht zur Besonnenheit gebracht haben." Die Verwendung des Katzenklaviers, die den Melancholiker seiner schwarzen Gedankenwelt entreißen soll, ist nur eine von vielen kuriosen Behandlungsmethoden, die Jean Starobinski in seiner - erstmals 1960 in einer kleinen, vom Pharmakonzern Geigy gesponserten Schriftenreihe publizierten - medizinischen Dissertation über die Geschichte der Melancholiebehandlung Revue passieren lässt.

Der Gebrauch derartiger "psychischer Methoden" in der Psychiatrie der Aufklärung tritt nach der Verabschiedung der alten Säftelehre auf, die seit der Antike den melancholischen Zustand auf das krankhafte Übermaß der schwarzen Galle zurückgeführt hatte. Während die pflanzlichen Heilmittel, die die Antike anwandte, den Körper durch Ausscheidung reinigen und seine Lebenskraft stärken sollten, erkennt die Aufklärungspsychiatrie im Melancholiker das Opfer einer von ihm selbst geschaffenen Wahnidee: Es ist diese Idee, die einem seelischen Fremdkörper gleich ein zerstörerisches Eigenleben führt und die es daher durch allerlei ärztliche Kunstgriffe und Überraschungseffekte auszuschalten gilt. Obwohl die therapeutischen Indikationen der Moderne endgültig mit den Theorien der "vorwissenschaftlichen" Epoche zu brechen scheinen, ortet Starobinski auch noch in ihnen Reste des älteren Substantialismus: "Die Psychiater geben von diesem Fremdkörper ein so konkretes, objektives, ,verdinglichtes' Bild, dass es Maßnahmen bedarf, die durchaus denjenigen ähneln, welche die Ärzte vergangener Zeiten gegen die schwarze Galle anwendeten."

Mit seiner Behandlungsgeschichte der Melancholie begann Starobinski eine Serie von Arbeiten zur Geschichte der Medizin und der Humanwissenschaften, die bis heute eher im Schatten seiner mittlerweile klassischen Studien zur Philosophie, Literatur und Kunst der Aufklärung stehen. Dies mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass sich diese Texte einer methodologischen Einordnung entziehen. Die auf den ersten Blick konventionell anmutende medizinhistorische Periodisierung der Melancholiestudie, die in drei Abschnitten die Antike, die "Last der Tradition" bis zur Aufklärung und am ausführlichsten die moderne Epoche ab 1800 behandelt, wird von zahlreichen subtilen Querbezügen zwischen zeitlich weit auseinanderliegenden Behandlungsverfahren aufgebrochen. So ist eines der längsten und originellsten Kapitel etwa den musikalischen Therapieverfahren und ihren wechselnden Funktionen gewidmet.

In seiner Analyse der jahrhundertelangen Beharrlichkeit des Vorstellungskomplexes, der sich um die schwarze Galle rankt, knüpft Starobinski vor allem an Gaston Bachelards Arbeiten zur Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis an: Die Geschichte der Melancholiebehandlung erweist sich somit als eine Aneinanderreihung von therapeutischen Rezepten, die auf irrationalen und spekulativen Substanzvorstellungen fußen. Die positivistische Entzauberung dieser Vorstellungen führt jedoch nicht, im Sinne einer Fortschrittsgeschichte, zur Beherrschung der Krankheit mit exakten wissenschaftlichen Methoden: Angesichts der fortdauernden Unzugänglichkeit der an Depressionen leidenden Menschen kann sich die Medizin letztlich nur mit der Rolle bescheiden, ihnen einen "Hilfsdienst" anzubieten.

Starobinskis Gestus der Bescheidenheit, der sich auch im Verzicht auf große Thesen und Verallgemeinerungen äußert, steht in merklichem Kontrast zu einem anderen Autor, der ein Jahr nach der "Geschichte der Melancholiebehandlung" ebenfalls auf dieses Thema einging, wenn auch eher beiläufig. In seiner Studie "Folie et déraison. Histoire de la folie à l'âge classique" - ins Deutsche unter dem Titel "Wahnsinn und Gesellschaft" übersetzt - widmete sich Michel Foucault nur denjenigen Methoden psychiatrischer Melancholiebehandlung, die mit seiner These vom sozialen Ausschluss und von der institutionellen Kontrolle der Geisteskranken vereinbar waren. Während Foucault Starobinski nicht nennt, verfasste dieser wenige Jahre später eine Besprechung der englischen Übersetzung der "Geburt der Klinik", jener Studie, mit der der französische Philosoph erstmals 1963 seine Methode als eine "Archäologie" der Humanwissenschaften ausgerufen hatte. Nicht ohne ironische Untertöne merkte Starobinski an, in diesem Buch offenbare sich dem Leser "das persönliche und distinktive Antlitz eines Philosophen und Historikers, dessen erklärtes Ziel es dennoch ist, sich des Subjekts und der Subjektivität zu entledigen".

Wer die nun erschienene deutsche Ausgabe von Starobinskis "Geschichte der Melancholiebehandlung" zur Hand nimmt, wird allerdings weder von solchen subtilen Abgrenzungen noch von den stilistischen Qualitäten des Autors etwas ahnen können. Denn die Romanistin Cornelia Wild, die eine Neubearbeitung der Übersetzung von 1960 vorgelegt hat, präsentiert in ihrem Vorwort Starobinski sorglos und pauschal als "Archäologen" im Sinne Foucaults. Vielfach sinnentstellend und von sachlicher Unkenntnis zeugend, mutet diese sprachliche Nachbearbeitung der älteren Übersetzung von Johannes Oeschger an, dem unverständlicherweise "ideologische Vorannahmen" und somit eine Verfälschung der Autorintention unterstellt werden.

Anstatt gelegentliche Ungenauigkeiten der alten Version auszubügeln, finden sich viele vorher sinngemäß übersetzte Stellen nun durch Stilblüten oder unverständliche Formulierungen ersetzt. Wenn Starobinski etwa schreibt "pour ceux qui ont le don de poésie, la délivrance est poésie", übersetzt Oeschger weniger elegant, aber durchaus sinngemäß: "Für diejenigen, die poesiebegabt sind, ist Dichten gleichbedeutend mit Befreiung." In der neuen Version wird daraus: "Für die Mit-Poesie-Begabten ist Erleichterung Dichtung." Man kann nur hoffen, dass weitere Neuausgaben von Starobinskis medizinhistorischen Arbeiten in besseren Händen liegen werden.

ANDREAS MAYER

Jean Starobinski: "Geschichte der Melancholiebehandlung".

Hrsg. und mit einem Vorwort von Cornelia Wild. August Verlag, Berlin 2011. 207 S., Abb., br., 19,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Rezensent begrüßt den Versuch, Jean Starobinskis medizinhistorische und humanwissenschaftliche Arbeiten aus dem Schatten seiner philosophischen Studien zu befreien. Starobinskis methodologische Unbefangenheit, seine Neigung zu Querbezügen, findet Andreas Mayer durchaus originell, wie etwa das in diesem Band enthaltene Kapitel über musikalische Therapieverfahren in der Melancholiebehandlung. Wie auch Starobinskis Verzicht auf große Thesen deutet Mayer es als Bescheidenheit und Unterscheidungsmerkmal (im Vergleich etwa zu Foucault). Ungehalten macht ihn, dass die vorliegende Überarbeitung der alten, von Johannes Oeschger besorgten Übersetzung durch Cornelia Wild die subtilen Ansätze und stilistischen Besonderheiten des Autors eher verwischt denn getreu abbildet. Für künftige Ausgaben wünscht er sich dringend einen weniger sorglosen und weniger sinnentstellenden Umgang mit diesem Autor.

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