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Juli 1943, Boulevard Ney in Paris. Rosine Draï, die seit der Flucht ihres Mannes ins Département Aisne mit ihren sechs Kindern allein lebt, wird mit ihren drei Ältesten bei einer Judenrazzia mitgenommen. Vorsichtshalber hatte sie ihre jüngsten Kinder in einer karitativen protestantischen Einrichtung ihres Viertels gelassen. Als ein paar Monate später der Vater, der nichts vom Schicksal seiner Familie weiß, an einem Sonntag zurückkehrt, beobachtet ihn ein besonders eifriger Nachbar. Einige Tage danach verhaften ihn die Deutschen. Der Vater, die Mutter und die drei Kinder werden in Auschwitz…mehr

Produktbeschreibung
Juli 1943, Boulevard Ney in Paris. Rosine Draï, die seit der Flucht ihres Mannes ins Département Aisne mit ihren sechs Kindern allein lebt, wird mit ihren drei Ältesten bei einer Judenrazzia mitgenommen. Vorsichtshalber hatte sie ihre jüngsten Kinder in einer karitativen protestantischen Einrichtung ihres Viertels gelassen. Als ein paar Monate später der Vater, der nichts vom Schicksal seiner Familie weiß, an einem Sonntag zurückkehrt, beobachtet ihn ein besonders eifriger Nachbar. Einige Tage danach verhaften ihn die Deutschen.
Der Vater, die Mutter und die drei Kinder werden in Auschwitz ermordet. Pierre Draï, seine Schwester Nelly und sein Bruder Paul überleben. Aber welche Konsequenzen hat die Rettung für die Kinder? Was geschieht mit den Waisen der Shoah?
Pierre, der seit seinem dritten Lebensjahr auf die Rückkehr seiner Eltern wartet, ist im Jahr 1952 ein gestörtes und widerborstiges Kind. Als Mensch "mit einer Kindheit ohne Familie, ohne Persönlichkeit, ohne Liebe" gelingtes ihm, auf einem langen Weg durch Institutionen und Herausforderungen er selbst zu werden: beruflich, innerlich, geistig, politisch und religiös zwischen seinem Engagement für den Kommunismus und der Bewusstwerdung seines Judentums.
Am Ende dieses nüchtern und ehrlich nachgezeichneten Lebensberichts steht das Erstaunen, davongekommen zu sein, sowohl dem Schicksal von Auschwitz als auch den Folgen des Verlassenseins entkommen zu sein: "Anfangs war ich nur eine Nummer. Sicher, der Staat bezahlte meine Erziehung, aber ich war allein. Nicht der Staat wiegte mich abends in den Schlaf. Nicht der Staat trocknete meine Tränen. Aber es war der Staat, der entschied, mich da und dorthin oder noch weiter zu schicken, nur um das Problem von sich zu schieben, ohne es zu lösen."
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Irene Bazinger hat die Lebensgeschichte von Pierre Draï in "Das Erstaunen" sehr ergriffen. Draï ist ein Waisenkind des Holocaust, beide Eltern und drei Geschwister hat er in Auschwitz verloren. Er selbst überlebte als Kleinkind dank der französischen Familie Funé, die außer ihm noch andere rettete, erfährt die Rezensentin. Die bestimmende Frage des Buches ist eine, die schon unter normaleren Umständen schwer zu beantworten ist: Wer bin ich? Bazinger gefällt, wie wenig Draïs Erinnerungen verbittert sind. Er beschreibe keine schillernde oder spektakuläre Existenz, sondert schildere schlicht, offen und "ohne Aufgeregtheit" seine Suche nach Normalität. Besonders lobt sie Draïs Mut, Lücken in seinen Recherchen eigenmächtig zu schließen - wo es an Zeitzeugen fehlt, gebraucht er seine Fantasie, berichtet Bazinger.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2013

Entriegelt sei die Erinnerung
Waisenkind der Schoa: Pierre Draïs ergreifende Lebensgeschichte "Das Erstaunen"

Üblicherweise schenken Eltern ihren Kindern das Leben, aber Pierre Draï blieb nichts anderes übrig, als die Konstellation umzudrehen. Denn er verlor Vater und Mutter so früh, dass er sie kaum kennenlernen konnte. Sie waren französische, aus dem Maghreb stammende Juden, die sich in Paris niederließen, wo sie 1926 heirateten. 1943 wurden sie denunziert und, wie drei von Pierres fünf Geschwistern, in Auschwitz ermordet. Im Versteck überstand ihr jüngster, 1940 geborener Sohn die Zeit des Nationalsozialismus, kam allerdings über seine zerstörte Kindheit nie hinweg, ohne sich das je wirklich eingestehen zu können.

Erst als Pierre Draï 2006 in Rente gehen wollte und dafür Anträge mit weit zurückliegenden Angaben ausfüllen musste, begann er, die Verdrängungen aufzulösen, die er errichtet hatte, um sich eine normale Biographie zu suggerieren, und versuchte, seinen verschwundenen Angehörigen ihre Geschichte, ihr Leben zurückzugeben. Trotz aller Ängste und emotionalen Turbulenzen während seiner Recherchen war er von da an entschlossen, sich der Vergangenheit zu stellen: "Das Wollknäuel entwirrt sich ... Die Schlösser des Gedächtnisses springen auf ..."

Was dann folgt, ist eine in ihrer Sprunghaftigkeit, Unsicherheit und inneren Gefährdung ungemein berührende "Überlebensgeschichte", wie Draï sein Buch "Das Erstaunen" nennt. Es zeigt, wie Serge Klarsfeld im Vorwort schreibt, "die irreparablen Konsequenzen des Elternverlusts und die Schwierigkeit für ein Waisenkind der Deportation". Die zentrale Frage, "Wer bin ich?", die schon für Sprösslinge aus intakten Familien ziemlich kompliziert sein kann, entwickelt für Pierre Draï eine unkalkulierbare Dynamik. Von staatlicher Seite wurden er und seine Leidensgenossen zwar versorgt, doch psychisch waren sie sich zumeist selbst überlassen: "zerbrochene Wesen", noch ehe sie überhaupt eine Chance gehabt hatten, sich zu formen. Zuerst versteckt und beschützt bei einer Pfarrersfamilie in einer ländlichen Ferienkolonie, musste er später mehrfach die Schulen, Internate, Erholungs- und Waisenheime, Freunde wechseln: "Ich war ein Teil der Kollateralschäden einer organisierten Barbarei nach globalem Maßstab."

Dessen ungeachtet entwickelt sich Draï von einem verstörten Kind zu einem sozial kompetenten Erwachsenen, der, nach seiner "Tour de France" in jungen Jahren, jedoch Veränderungen kaum erträgt. Er wird Kupferschmied, Zeichner, Handelsvertreter, gründet schließlich eine Firma für Bürokommunikation und Werbung. Eine Weile ist er in der Kommunistischen Partei aktiv, wird enttäuscht, tritt aus. Ohne religiös zu sein, wendet er sich seinen jüdischen Wurzeln zu.

Bei genauerem Hinsehen erscheint die wenig spektakuläre äußere Existenz als immer wieder beschwerlicher, herausfordernder Versuch, sich eine persönliche Normalität aufzubauen. Sehr offen, einfach und ohne Aufgeregtheit erzählt Pierre Draï darüber in seiner 2011 veröffentlichten, nun ins Deutsche übersetzten Autobiographie, die ein kleiner schöner Fototeil ergänzt. Und weil ihm viele Leute ungeachtet aller Gefahren geholfen haben, blickt er in "Das Erstaunen" nicht mit Hass zurück, sondern mit der Erleichterung eines Mannes, der nach "Jahren des Schweigens und des Vergessens" endlich zu sich finden konnte. Er ist sogar so mutig, dort, wo es bei seiner historischen Rekonstruktion nicht weiterging und es keine Zeitzeugen mehr gab, zu phantasieren und sich vorzustellen, was sein Vater, der in einer Metzgerei arbeitete, und seine Mutter, eine Näherin, wohl für Menschen gewesen sein mögen.

Inzwischen hat er Kontakt zu seiner in aller Welt verstreuten Familie, zu früheren Bekannten, und er hat 2009 erreicht, dass die Pfarrersleute Funé, die außer ihm noch andere Kinder gerettet hatten, als "Gerechte unter den Völkern" anerkannt wurden. Am Schluss bleibt er deshalb glücklich im Erstaunen zurück, irgendwie davongekommen zu sein - und auch seine Erinnerungen "entriegelt" zu haben.

IRENE BAZINGER.

Pierre Draï: "Das Erstaunen". Verlag André Thiele, Mainz 2012. 182 S., Abb., geb., 16,90 [Euro].

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