Marktplatzangebote
9 Angebote ab € 2,70 €
  • Gebundenes Buch

1 Kundenbewertung

Neun Geschichten über einen Mann, der von Haiti in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist - angeblich auf der Flucht vor dem Duvalier-Regime, von dem er verfolgt und gefoltert wurde. Äußeres Zeichen dieses Schicksals ist eine lange Narbe. Erst im Erwachsenenalter erfährt seine in New York geborene Tochter, dass ihr Vater keineswegs Opfer, sondern Täter war, ein Mann, der alle Finessen des Folterns beherrschte, der das Leben unzähliger Menschen zerstörte. Die einzelnen in sich abgeschlossenen Kapitel zeichnen das Bild der haitianischen Gesellschaft zwischen Armut, Willkürherrschaft, Flucht…mehr

Produktbeschreibung
Neun Geschichten über einen Mann, der von Haiti in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist - angeblich auf der Flucht vor dem Duvalier-Regime, von dem er verfolgt und gefoltert wurde. Äußeres Zeichen dieses Schicksals ist eine lange Narbe. Erst im Erwachsenenalter erfährt seine in New York geborene Tochter, dass ihr Vater keineswegs Opfer, sondern Täter war, ein Mann, der alle Finessen des Folterns beherrschte, der das Leben unzähliger Menschen zerstörte. Die einzelnen in sich abgeschlossenen Kapitel zeichnen das Bild der haitianischen Gesellschaft zwischen Armut, Willkürherrschaft, Flucht und Auswanderung. Es kommen Menschen zu Wort, denen das Leben unter der paradiesischen Sonne Haitis zur Hölle wurde. In allen Geschichten wird eine Antwort auf die Frage gesucht, ob Vergebung für derartig grausame und unmenschliche Taten möglich ist und ob und wie über dieses furchtbare Grauen gesprochen werden kann. Der einstmal verübten Gewalt entkommt niemand - die Opfer und ihre Familien nicht, aber auch nicht der Täter und seine Familie. Edwidge Danticats Sprache ist luzide und lyrisch, sie beherrscht die Kunst der Andeutung und Aussparung, weswegen der Leser immer tiefer hineingezogen wird, und so zu einem faszinierten und zugleich angewiderten Mitwisser wird.
Autorenporträt
Danticat, Edwidge
Edwidge Danticat, 1969 in Port-au-Prince, Haiti, geboren, folgte ihren Eltern mit zwölf Jahren in die USA. Seit ihrem beeindruckenden Erstling Breath Eyes Memory, der unter dem Titel Atem, Augen, Erinnerungen 1996 erschien, gilt sie als eine der bedeutendsten Stimmen der karibischamerikanischen Literatur, die nicht nur die Geschichte ihres Herkunftslandes thematisiert, sondern auch die Erlebnisse in der Diaspora. Mit The Dew Breaker gelangte sie auf die Shortlist des National Book Critics Circle Award. Danticat erhielt zahlreiche Auszeichnungen, z.B. den American Book Award und den LiBeraturpreis. Sie lebt in New York.

Trojanow, Ilija
Ilija Trojanow, 1965 in Sofia geboren und in Kenia aufgewachsen, ist einer der renommiertesten deutschen Autoren. Seit 2008 gibt Trojanow bei der Büchergilde die Reihe Weltlese - Lesereisen ins Unbekannte heraus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2011

Im Flugsand der Zeit

Der Terror der Diktatur, die Schrecken des Bürgerkriegs, das Elend der Armut: In den exzellenten Romanen von Edwidge Danticat und Tomás González werden Haiti und Kolumbien zum Erzählraum für ergreifende menschliche Schicksale.

Zwei literarische Meisterwerke aus Lateinamerika sind zu entdecken, ihre Ursprungsländer sind geographisch benachbart, aber sprachlich und kulturell durch Welten getrennt. Kolumbien ist ein Anrainer der Karibik, in der auch Haiti liegt, aber das kastilianische Spanisch hat mit dem haitianischen Französisch und Kreolisch nicht viel gemein: Obwohl beide Völker Rum trinken und Merengue tanzen, könnte ihre Alltagskultur kaum unterschiedlicher sein. Die aus einer Sklavenrevolte hervorgegangene Inselrepublik ist welthistorisch ein Unikum; trotzdem oder gerade deshalb ist Haiti ein gescheiterter Staat, der seine Bevölkerung weder ernähren noch vor Naturkatastrophen schützen kann - ganz zu schweigen von der Etablierung von Rechtsstaat und Demokratie. Kaum zu glauben, dass das Haiti einst dem Befreier Lateinamerikas, Simón Bolivar, Asyl gewährte und auf der Abschaffung der Sklaverei in den ehemals spanischen Kolonien bestand, denn heute ist das Inselland nicht bloß hoffnungslos überbevölkert und unterentwickelt, sondern ökologisch zerstört, wohingegen das dünn besiedelte Kolumbien vor natürlichen Reichtümern strotzt. Die Zentrifugalkraft der Klima- und Vegetationszonen ist hier stärker als die Integrationskraft der Regierung in Bogotá - Stichworte Drogenmafia, Paramilitärs und FARC -, während Haiti trotz des politischen Chaos homogen wirkt und weder ethnische noch regionale Konflikte kennt.

Edwidge Danticat wurde 1969 in Port-au-Prince geboren und lebt seit ihrem zwölften Lebensjahr in den Vereinigten Staaten. Sie schreibt auf Englisch und stellt im eingangs skizzierten Kontext eine Ausnahme dar, denn sie ist die bekannteste Autorin der so genannten Diaspora, die mit ihren Geldüberweisungen Haiti über Wasser hält - der finanzielle Beitrag der Exilhaitianer ist höher als Haitis Staatsbudget. Schon unter "Papa Doc", der von 1957 bis 1971 diktatorisch regierte, gab es einen Exodus von Facharbeitern und akademisch gebildeten Intellektuellen, die vor wirtschaftlicher Not und politischer Unterdrückung flohen - davon handelt Edwidge Danticats Roman, der im Original "The Dew Breakers" heißt: eine subtile Anspielung auf "Papa Docs" Geheimpolizei, die Tontons Macoutes (Knecht Ruprecht oder Onkel Menschenfresser), aber auch auf einen modernen Klassiker Haitis mit dem schwer übersetzbaren Titel "Les gouverneurs de la rosée" ("Herr über den Tau" von Jacques Roumain).

Danticats Buch ist kunstvoll konstruiert, als Mosaik scheinbar unverbundener Geschichten, deren Zusammenhang sich erst im Lauf der Lektüre erschließt. Der Leser braucht einen langen Atem, denn der unter Exilhaitianern in den Vereinigten Staaten spielende Roman beginnt eher unspektakulär und gewinnt nur langsam an Fahrt, bis durch Rückblenden und Querverweise das ganze Ausmaß der Tragödie sichtbar wird. Der vor "Papa Doc" geflüchtete Vater der Protagonistin war kein Opfer der Diktatur, wie er seine Familie glauben macht, sondern ein Täter, schlimmer noch: ein gedungener Mörder, dessen Gesichtsnarbe nicht von den Tonton Macoutes stammt, sondern von einem regimekritischen Priester, den er zu Tode gefoltert hat. Dazwischen eingeflochten sind Beschreibungen von Landschaften, Sitten und Gebräuchen im Landesinnern Haitis, die in ihrer Farbigkeit an Gauguin erinnern und in schroffem Gegensatz stehen zum als lieblos und monoton geschilderten suburban life der Vereinigten Staaten. Hinzu kommen idyllische Kindheitserinnerungen und essayistische Reflexionen über Schuld - retardierende Momente, in denen sich der Erzählfluss staut, was der Faszination keinen Abbruch tut, im Gegenteil: Die Lektüre wird dadurch noch packender.

Das Einzige, was diesem großartigen Roman fehlt, ist ein informierendes Nachwort mit detaillierten Erläuterungen, die allzu knapp und summarisch ausfallen. Zum Beispiel ist riz djondjon nicht einfach Pilzreis, sondern Reis mit schwarzen Morcheln, Haitis Nationalgericht und Hort kultureller Identität. Und Altkleider heißen auf Kreolisch Kennedy, weil sie unter John F. Kennedy erstmals nach Haiti gelangten.

Der Roman "Die versandete Zeit" des Kolumbianers Tomás González schlägt Schneisen in eine ganz andere Welt, und doch haben beide Autoren manches miteinander gemein. González verbrachte sechzehn Jahre in Miami und New York, wo er sich mit Gelegenheitsjobs durchschlug, bevor er nach Kolumbien zurückkehrte. Die Begegnung mit angelsächsischer Literatur hat in seiner Prosa deutlich sichtbare Spuren hinterlassen. Der Originaltitel seines Buchs "Para antes del olivo" ("Für vor dem Vergessen") macht klar, dass es auch hier um eine verdrängte Vergangenheit geht, die ähnlich wie bei Danticat aus Bruchstücken mühsam rekonstruiert werden muss: eine Suche nach der verlorenen Zeit, die 1913 beginnt und 1978 endet mit der Niederschrift des Manuskripts, das gleichzeitig ins Feuer geworfen wird - ein doppelbödiger Schluss.

Die Unzuverlässigkeit der Erinnerung, die Wichtiges unterschlägt, das Vergehen der Zeit also ist ebenso Thema wie die Gewalterfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts, vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum kolumbianischen Bürgerkrieg und der mit Machogehabe gekoppelten Alltagskriminalität: "Dann fuhr ein nagelneuer pastellgrüner Mercedes vor, aus dem sich ein dickwanstiger junger Kerl schälte; unter seiner Windjacke wölbte sich dreist ein Revolver, und auf seiner blond behaarten Brust prangte ein goldenes Kreuz." Held des Romans ist der Onkel des Erzählers, ein Dichter und Bohémien, der von Jugend an Tagebuch führt, nicht ohne Talent, aber doch ein Versager, der seinen unbefriedigten Ehrgeiz durch billige Triumphe über ihm ergebene Frauen kompensiert.

Eine davon ist Mariette, eine Flämin, die er im Ersten Weltkrieg in London sitzenlässt; die andere Josefina, eine Kolumbianerin, die er verrät, um eine reiche Erbin zu heiraten und fortan als Kunsthändler zwischen Bogotá und New York zu pendeln. Das Reizvolle daran ist, wie González die Geschichte von zwei Seiten aufrollt, vom Vergehen der Liebe erzählt, die im Flugsand der Zeit verrinnt: "Erst sechs Jahrzehnte später, an einem Nachmittag im März, fiel es einem etwas seltsamen jungen Mann, der sich als Verwandter vorgestellt hatte, ein, Josefina zu fragen, ob es wahr wäre, dass sie fast gestorben wäre, als sie von Alfonsos Heirat erfuhr. ,Fleckfieber und Dummejungenstreiche sind zwei Paar Stiefel', gab die alte Frau zur Antwort, mit einer Prägnanz, die beachtlich war für einen Menschen, der Tag für Tag, Stunde um Stunde spürte, wie große Teile seines Lebens vom Nebel verwischt oder ausgelöscht wurden."

HANS CHRISTOPH BUCH

Tomás González: "Die versandete Zeit". Roman.

A. d. Span. v. Richard Gross, Peter Schultze-Kraft. edition 8, Zürich 2010. 240 S., geb., 20,80 [Euro].

Edwidge Danticat: "Der verlorene Vater".

Aus dem Englischen von Susann Urban. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2010. 239 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Sehr eingenommen berichtet Angela Schader von diesen Erzählungen der Haitianerin Edwidge Danticat, die, lose miteinander verbunden, tief in die Geschichte des gebeutelten Landes zurückreichen. In ihrem Mittelpunkt steht der titelgebende Vater, einst ein Scherge des Diktators Francois Duvalier, des berüchtigten Papa Doc. Durch ein Missverständnis hält ihn die Schwester eines von ihm gefolterten Mannes selbst für ein Opfer und flieht mit ihm nach New York. Selbst als die Wahrheit ans Licht tritt, bleibt sie bei ihm. Um diesen Mann und seine Tochter herum, berichtet Schader, gruppiert Danticat ihr Personal, meist ebenfalls im New Yorker Exil lebende Haitianer. Rezensentin Schader sieht in diesen Geschichten menschliche und politische Abgründe so "achtsam" und unspektakulär ausgeleuchtet, dass sie der Autorin einen mitunter etwas verkrampften Zugriff auf ihre Geschichten verzeiht.

© Perlentaucher Medien GmbH