Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 8,16 €
  • Broschiertes Buch

Rudolf Kreis, Jahrgang 1926, zieht den Leser in den Bann des frühen 20. Jahrhunderts, der Zeit vor den großen Katastrophen. Wir erleben die Armut in der Eifel und den letzten Abglanz der Kaiserzeit. Von der familiären Tiefenerinnerung und den Kindertagen an Rhein und Mosel geht es über die Kriegserlebnisse in der Normandie und die anschließende Gefangenschaft zu den historiografischen Deutungen unserer Tage.Wir begegnen Gerhard Nebel, der Großmutter »Brasiljisch Marie« und als Retter in der Stunde Null den Großen unserer geistigen Tradition wie Goethe, Heine und dem »Entnazifizierer…mehr

Produktbeschreibung
Rudolf Kreis, Jahrgang 1926, zieht den Leser in den Bann des frühen 20. Jahrhunderts, der Zeit vor den großen Katastrophen. Wir erleben die Armut in der Eifel und den letzten Abglanz der Kaiserzeit. Von der familiären Tiefenerinnerung und den Kindertagen an Rhein und Mosel geht es über die Kriegserlebnisse in der Normandie und die anschließende Gefangenschaft zu den historiografischen Deutungen unserer Tage.Wir begegnen Gerhard Nebel, der Großmutter »Brasiljisch Marie« und als Retter in der Stunde Null den Großen unserer geistigen Tradition wie Goethe, Heine und dem »Entnazifizierer Nietzsche«. Kreis rekonstruiert minutiös. Er bezieht seinen Maßstab für Gut und Böse nicht aus der Hoffnung auf geschichtsmächtige Potenzen. Selbst die Deutungen, die er zu verschiedenen Zeiten versucht, werden erlebt, sie sind widersprüchlich und vielfältig wie das Geschehene auch. Nach dem Krieg wird Rudolf Kreis Gymnasiallehrer und Literaturwissenschaftler. Seine »Lebenserzählung« endet im Jahre 1945, der Rest ist Epilog.
Autorenporträt
Kreis, Rudolf J.Geboren 21. Juli 1926, gestorben am 13. April 2016. Von 1943 bis 1945 Kriegsteilnahme. Studium der Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte, Promotion, danach im höheren Lehramt tätig. Wichtigste Veröffentlichungen: »Die doppelte Rede des Kranz Kafka« (1976), »Die verborgene Geschichte des Kindes in der deutschen Literatur« (1980), »Nietzsche, Wagner und die Juden«, mit einem Vorwort von Gottfried H.Wagner (1996), »Antisemitismus und Kirche. In den Gedächtnislücken deutscher Geschichte mit Heine, Freud, Kafka und Goldhagen« (1999), »Wer schrieb das Nibelungenlied? Ein Täterprofil« (2002), »Zur Genealogie des Verbrechens ohne Verbrecher« (in: Menora, 2003).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2009

Partisan eines Anliegens

Wer die Deutschen verstehen will, der lese diese Lebenserinnerungen: Rudolf Kreis, Jahrgang 1926, gehört zu jener Generation wichtiger Zeitzeugen, der die Phasen sowohl der Verblendung als auch der Umkehr in die Biographie eingeschrieben wurden.

Wer ein Jahr jünger ist, hat keine Ahnung", darin waren sich Günter Grass und Martin Walser bei ihrem "Dichtergipfel" im Sommer 2007 einig. Es geht um den Jahrgang derer, die ihre bewusste Kindheit im Dritten Reich verbracht hatten und in der allerletzten Phase des Krieges, halbe Kinder noch, in das mörderische Geschehen verstrickt wurden. Diese jahrgenaue Prägung haben nur die Geburtsjahrgänge um 1927 erfahren, die anderen waren entweder zu alt, um noch direkt aus der Kindheit heraus in den "Ernstfall" zu geraten, oder zu jung, um überhaupt noch eingezogen zu werden. Diese Generation hat das intellektuelle Profil der Bundesrepublik geprägt.

Alle Erinnerungen von Zeitzeugen der NS-Zeit sind kostbar, aber ganz besonders gilt das für diesen Jahrgang, dem die Phasen sowohl der Verblendung als auch der Umkehr so passgenau in die eigene intellektuelle Biographie eingeschrieben wurden. Rudolf Kreis, Jahrgang 1926, ist in der Intensität seiner frühen Verstrickung und in der Radikalität seiner Abkehr und Umkehr ein typischer Vertreter der "45er". In Neuwied am Rhein in teils weinbäuerlichem, teils kleinbürgerlichem und streng katholischem Milieu aufgewachsen, trat er im Frühjahr 1936 der Hitlerjugend bei und meldete sich mit sechzehn - traumatisiert von der Ermordung seiner Mutter im Rahmen des Euthanasie-Programms - zur Panzerdivision "Hitlerjugend", die dann in die Waffen-SS eingegliedert, in die Abwehrschlacht in der Normandie geworfen und bis auf wenige Überlebende vernichtet wurde. Kreis überlebt und wird jüngster "Junker" der Waffen-SS. Nach Krieg und Gefangenschaft holt er das Abitur nach, stürzt sich in die Bücher - Nietzsche, Goethe, Hölderlin, Heine, Kafka - und vollzieht mit ihnen eine radikale Umkehr. Jetzt schlägt der Verblendungsroman um in den Bildungsroman, in dessen Gleisen eine solche Jugend unter normalen Umständen schon seit Jahren verlaufen wäre. Kreis durchlebt in seiner Biographie die Phasen der deutschen Geschichte zwischen 1926 und 2000 in der unvermischten Intensität eines Laborversuchs. Er hat einfach alles mit besonderer Hingabe mitgemacht: die Hitlerjugend, den Krieg, die Nachkriegszeit mit ihrem leidenschaftlichen intellektuellen Nachholbedarf und ihrem Pathos der Abkehr "vom gläubigen Vorwärtsblick auf die Geschichte zur Erde, der allversöhnenden" (Hölderlin), um sich dann aber 1968, nun schon als Gymnasiallehrer, wiederum mit Haut und Haaren der Sache der Jugendrevolte zu verschreiben. Es ist einfach so eminent typisch, was dem Helden dieser "Lebenserzählung" widerfährt. Wer die Deutschen verstehen will, der lese dieses Buch.

Rudolf Kreis ist ein Autor mit einer Agenda, der Partisan eines Anliegens, das er mit großer Konsequenz in zahlreichen um Nietzsche, Kafka, den Antisemitismus und das Judentum kreisenden Büchern entfaltet hat. Die Energie dieser Produktion stammt aus der Erfahrung der Umkehr. Wie eng Wissenschaft und Leben zusammenhängen können, wie tief verwurzelt bestimmte Thesen und Perspektiven sein können in der ganz persönlichen Erfahrung eines Autors, das wird in dieser Lebenserzählung deutlich. "Was für ein Gefühlsmagma", schreibt Kreis über seinen Schulunterricht, in dem die "Schande von Versailles" die Hauptrolle spielte, "braute sich damals ungeahnt in uns zusammen, ungeahnt auch darin, dass seine eruptiven Energien zu Endzeitenergien werden würden, in denen sich die vierhundertjährige imperiale Weltausdehnung des Westens in einer so selbstvernichtenden Weise umkehren würde, zuerst in den messianischen Eifer der roten Revolution und dann in den Kreuzzug Hitlers gegen sie." Am weitesten sowohl in der Kindheit als auch in der Geschichte greift die Faszination durch das Leiden Christi zurück, die dem Kind durch die illustrierte Kochem-Bibel vermittelt wird, diese "blutrünstige Delinquentenreligion", "dieser geheiligte Sadismus", "das furiose Volksgut von Jahrhunderten". Diese tiefe, geradezu traumatische Verankerung seines Lebensthemas in der Kindheit bestimmt alle Bücher von Rudolf Kreis: die These vom Unheilszusammenhang des Hitlerwahns in den drei Koordinaten des Christentums, des Marxismus und des "Vernichtungsfriedens" von 1918. Der Boden war bereitet, seit tausend Jahren durch die Kirche, seit Jahrzehnten durch das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Schrecken der roten Revolution. Ohne Hitler wäre die Geschichte anders verlaufen, aber ohne diese Bodenbereitung wäre Hitler nicht möglich gewesen. "Hitlers Bildsprache ist die der Passion und des Karfreitags."

"Das Kontinuum der Geschichte ist nicht aufgesprengt", dieser Satz, mit dem das Motto des Buches anhebt, ist nicht unriskant und erfordert einigen Mut, denn die Zusammenhänge, die Kreis postuliert, sind unbequem. Der von den Nazis behauptete Nexus zwischen Judentum und Marxismus etwa sei keineswegs aus der Luft gegriffen. Die Revolution sei im Licht der Exodus-Tradition begrüßt worden als Ausgang aus der Unterdrückung und als Anbruch einer messianischen Zeit - mit der Kehrseite einer "ungebremsten Bereitschaft, die ganze bisherige Zivilisation in ihren Eliten zu vernichten und auf ihren Trümmern eine Welt der Gleichen zu errichten". Anders aber als Ernst Nolte, der in den stalinistischen Greueln die entscheidende Motivation für die nationalsozialistischen Greuel sieht und mit dem Kreis sich in eine Kontroverse einlässt, besteht er auf der Multikausalität der Geschichte, der vielfältigen, weit in die Vergangenheit zurückreichenden Verflechtung der Motive - der kirchliche Antijudaismus, die imperialistische Eifersucht, das Unrecht von Versailles, das "wechselseitige Vernichtungsfieber" der europäischen Mächte. Erst wenn es gelingt, sich von der einseitigen Zuspitzung auf Hitler zu befreien und sich dem "Kontinuum der Geschichte" in seiner ganzen Unheilsverkettung zu stellen, werden eine europäische Erinnerung und damit ein geeintes Europa möglich sein. Diese Unheilsverkettung aufzuarbeiten ist das Grundmotiv der literarischen und biographischen Erinnerungsarbeit von Rudolf Kreis. Die einzigartige Erfahrung dieser Generation, die diese Themen nicht nur studiert, sondern buchstäblich in den Knochen hat, ist der Schatz, der ihrer Währung die Deckung gibt. So gehen auch dem Leser dieser Lebenserzählung die geschichtlichen Zusammenhänge buchstäblich unter die Haut.

Dieses Buch stellt sich als wichtige Ergänzung neben Günter Grass' "Beim Häuten der Zwiebel" und Martin Walsers "Ein springender Brunnen". Mit beiden durch viele Parallelen verbunden, unterscheidet es sich durch den Verzicht auf literarische Stilisierung, das Bemühen um Präzision, die Schlichtheit der Erzählung, bei aller szenischen Dichte. Anders als Grass hat Kreis aus seiner Mitgliedschaft bei der Waffen-SS nie einen Hehl gemacht, anders als Walser hat er versucht, die Kindheitserinnerungen in aller Authentizität darzustellen und doch die nachträgliche Bewertung aus gereiftem moralischem und historischem Bewusstsein nicht auszublenden. Dies ist ihm gelungen. Kreis hat gezeigt, dass solche Beleuchtung die Erinnerung nicht verfälscht.

JAN ASSMANN

Rudolf Kreis: "Die Toten sind immer die anderen". Eine Jugend zwischen den Kriegen. Lebenserzählung. Landtverlag, Berlin 2009. 563 S., geb., 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als wichtige Ergänzung zu den Erinnerungsbüchern von Günter Grass und Martin Walser liest Jan Assmann die "Lebenserzählung" von Rudolf Kreis. Kreis' Anliegen versteht Assmann als Versuch eines Vertreters der 45er-Generation, die in die eigene Biografie eingeschriebene Verstrickung in die NS-Zeit (wie Grass war Kreis bei der Waffen-SS) und die spätere "radikale Umkehr" (bei Kreis über Nietzsche-, Goethe- und Hölderlin-Lektüren) wie in einem Laborversuch festzuhalten. So typisch Assmann die hier geschilderten Erfahrungen erscheinen, so bedeutsam findet er ihre nachträgliche Reflexion durch den Autor. Was dabei herauskommt, historische "Unheilszusammenhänge" (Christentum, Marxismus, Erster Weltkrieg), ein multikausales Geschichtsverständnis, hat für Assmann nichts von einer bequemen Rückschau. Kreis' Verzicht auf literarische Stilisierung, sein Bemühen um Präzision machen ihm die Lektüre zu einer physischen Erfahrung.

© Perlentaucher Medien GmbH