Produktdetails
  • Reihe Prosa 1
  • Verlag: Kookbooks
  • Seitenzahl: 101
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 162g
  • ISBN-13: 9783937445014
  • ISBN-10: 3937445013
  • Artikelnr.: 12927210
Autorenporträt
Jan Böttcher, geb. 1973 in Lüneburg, lebt als Autor und Singer/Songwriter in Berlin. Er hat deutsche und skandinavische Literatur studiert und arbeitet auch als Werbetexter, Herausgeber und Veranstalter von Lesungsreihen sowie des LAN-Festivals für junge Literatur. Seit zehn Jahren singt und textet er für seine Band Herr Nilsson. Jan Böttcher hat beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb den Ernst-Willner-Preis gewonnen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2003

Kinder am Zonenrand
Jan Böttcher erzählt von einer Jugend in den Achtzigern

Der Teufel stammt aus Braunschweig; jedenfalls tragen alle seine Höllenmaschinen diesen Herkunftsnachweis: der Kasten oder der Bock oder jene unnachgiebigen blauen Matten, die zwar angeblich einen Sturz abfedern sollen, doch tatsächlich die Heranwachsenden eher frühzeitig mit der Härte der Wirklichkeit bekanntmachen. Doch nicht nur das verfluchte Sprungbrett, "das seinen Namen gar nicht verdiente, wenn man es mit dem Feder-Einer im Freibad verglich", bringt den Ich-Erzähler in Jan Böttchers Debüt in unheilbare Distanz zu einer Welt, in der die Dinge nicht nur in der gefürchteten Turnstunde falsche Namen tragen. Die heimatliche Neubausiedlung am Rand von Lüneburg etwa heißt Kaltenmoor, als sei das flache Land einfach mal in die Vertikale geraten. Bäume wachsen hier nicht in den Himmel, wohl aber Hochhäuser - eine utopische Frucht sozialdemokratischer Stadtplanung der sechziger Jahre. Keine Platte wie im Osten, aber dasselbe in Grün oder Grau. Wenn man das Sonnensystem auf das Wohngebiet übertragen würde, so überlegt der Junge einmal, um welches Zentrum sollte es dann nur kreisen?

Erzählt wird von Kindheit, Pubertät und Erwachsenwerden eines Schlüsselkinds, das sich mittags eine Dose Ravioli öffnet und abends heimlich der schönen Nachbarin nachspioniert. Diese schöne und rätselhafte Katja Neumann - die Mutter nennt sie gehässig "alleinerziehend", obwohl sie gar kein Kind hat, sie habe eben selbst Erziehung nötig - scheint der personifizierte Ausweg aus dieser engen Welt in der Nähe der Zonengrenze, vor der alle hier wie mit dem Rücken zur Wand stehen. Der ältere Halbbruder Nico aus einer früheren Ehe der Mutter liebt Katja, aber auch der parkatragende Vater hat eine Affäre mit ihr. Raus aus ihrem unfruchtbaren Leben, aus dem toten Winkel der Geschichte, aus dem kalten Moor wollen alle, doch als die Familie am Ende umzieht, hat man zwar mehr Platz, sitzt aber nur noch tiefer in der Heide. Daß Flucht zwecklos ist, zeigt sogar das Schiffeversenken, ein Spiel, "bei dem man mit den zwei Worten Treffer und Wasser auskam, dazu das eckige Binnengewässer, es war wirklich das Gegenteil von Bewegung".

Die Geschichte, die Böttcher in pirschenden, nur scheinbar ungeordneten Erzählmanövern über Jahre vorantreibt, kreist um zwei Menschen: den bewunderten Nico, den verkrachten Künstler, der seine Einzimmerwohnung in etwas verwandelt hat, "was man außerhalb unserer Siedlung wohl ein Atelier genannt hätte", und um Lina, die Sandkastenfreundin, die zur ersten großen Liebe und damit zur ersten großen Enttäuschung wird. Beide verkörpern verschiedene Wege heraus aus dieser Existenz, den geistigen und den körperlichen sozusagen. Nico ist der Intellektuelle, der sich exzessiv mit der NS-Vergangenheit der Region befaßt. Lina wird zur vielversprechenden Langstreckenläuferin, deren Karriere sich der Erzähler als verliebter und nur scheinbar uneigennütziger Trainer-Berater obsessiv verschreibt. Am Ende wird sie davonlaufen, verstört von den nicht zuletzt sexuellen Ansprüchen des Jungen, der doch noch nicht einmal eine Ausbildung hat und als Aushilfsgärtner jobbt.

Die Abenteuer von Huckleberry Finn, die der Erzähler gern beschwört, geben die Richtung an, in der die Flucht schließlich gelingen wird. Nicht über die Elbe, vor der Wende unüberwindlicher als der Mississippi, sondern wie im klassischen Bildungsroman durch das Schreiben. Jedes der vier Kapitel endet mit einem Gespräch, in dem die beiden Halbbrüder ihre Rollen tauschen. In Diskussionen über das Leben, die Liebe und die Kunst wird plötzlich Nico zum Erzähler - ein Kunstgriff, der an Norbert Gstreins Roman "Register" erinnert, in dem das Erzählen einer ähnlichen Geschichte ebenfalls brüderlich geteilt wird.

Im leider zu dramatisch geratenen Epilog erhält dann der von der tatsächlichen Flucht Linas tief getroffene Erzähler wieder allein das Wort und flieht wie Huck Finn vor der bedrohlichen Zivilisation in die Natur. Aber vielleicht gehört auch dieses romantische Öko-Pathos zu den Achtzigern, zu den Jahren nach Tschernobyl, als der ölige Gleitfilm der Ironie noch nicht wie in den Neunzigern alle Gefühle und Dinge ungreifbar und unaussprechlich gemacht hatte.

Jan Böttcher, geboren 1973, stammt selbst aus Lüneburg. Anfang der neunziger Jahre ging er nach Berlin. Als Sänger und Texter der Post-Liedermacher-Band "Herr Nilsson" kennt man ihn, und manche seiner Songs - vor allem von der wunderbaren Platte "Herr Nilsson ist ausgezogen" (1999) - scheinen wie die Negative zu manchen Motiven hier. Auch versteht man die Emphase Böttchers für den Osten Deutschlands und die manchmal irritierend ungebrochene Sänger-Attitüde besser vor dem Hintergrund dieser so generationstypischen Westkindheit. Seine überzeugend konstruierte, an originellen Beobachtungen und einleuchtend präzisen Formulierungen reiche Erzählung gehört übrigens zum ersten Programm des neugeborenen Kleinverlags "Kookbooks", einer Schwester des "Herr Nilsson"-Plattenlabels "kook". Diesem literarischen und verlegerischen Debüt kann man nur den allerbesten Start wünschen.

Jan Böttcher: "Lina oder: Das kalte Moor". Erzählung. Vier Schmuckseiten auf Transparentpapier mit Zeichnungen von Andreas Töpfer. Kookbooks Verlag, Idstein 2003. 102 S., br., 14,40 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Als außergewöhnliches Buch stuft Kolja Mensing den Roman von Jan Böttcher ein, weil Hochhaussiedlungen der jüngeren westdeutschen Literatur eher selten als Schauplatz gedient haben. In einem 16-stöckigen Betonklotz lebt der jugendliche Ich-Erzähler, der sich eher für das Lungenvolumen seiner Freundin Lina interessiert als für deren Körbchengröße. Beider Passion ist nämlich das Laufen, das der Rezensent als Training für die Flucht in ein anderes Leben deutet. Ansonsten passiert anscheinend nicht viel in Böttchers Sozialsiedlungstristesse. Da wird der Vater beim Fremdgehen erwischt und - nichts und. Dem Ich-Erzähler fehlen einfach die Worte. Von dieser Wortkargheit hat sich der Rezensent offenbar anstecken lassen, zumindest was die Beurteilung des Buchs angeht. Doch man spürt auch so, dass Mensing viel Sympathie für das außergewöhnlich stille Buch übrig hat.

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