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Tiefer kann man kaum stürzen: Der großmäulige Vater, der sich gerne als Schriftsteller und Politikerfreund ausgibt, trinkt sich in Wahrheit über die Jahre runter: erst Autohändler, dann Taxifahrer, landet er schließlich im Obdachlosenasyl. Der Sohn, auch nicht gerade ein Ausbund an solidem Lebenswandel, versieht in ebendiesem Asyl, einer Arche Noah für alle die, die im Alkohol zu ertrinken drohen, seinen Dienst - und muss den Niedergang des Vaters aus nächster Nähe mit erleben, während er selbst inden Strudeln des Lebensalltags zu versinken droht. Nick Flynn ist dieser Sohn: Ohne Selbstmitleid…mehr

Produktbeschreibung
Tiefer kann man kaum stürzen: Der großmäulige Vater, der sich gerne als Schriftsteller und Politikerfreund ausgibt, trinkt sich in Wahrheit über die Jahre runter: erst Autohändler, dann Taxifahrer, landet er schließlich im Obdachlosenasyl. Der Sohn, auch nicht gerade ein Ausbund an solidem Lebenswandel, versieht in ebendiesem Asyl, einer Arche Noah für alle die, die im Alkohol zu ertrinken drohen, seinen Dienst - und muss den Niedergang des Vaters aus nächster Nähe mit erleben, während er selbst inden Strudeln des Lebensalltags zu versinken droht. Nick Flynn ist dieser Sohn: Ohne Selbstmitleid und in verstörender Aufrichtigkeit erzählt er die Geschichte mit seinem Vater, eine Geschichte, die voller Hoffnung und voller Zukunft ist. Wer etwas erfahren will über die Zwischentöne des Lebens, die den Raum füllen, der auf der einen Seite vom Gelingen, auf der anderen vom Scheitern begrenzt ist, wird dieses Buch lesen.
Autorenporträt
Nick Flynn, geb. 1960, hat als 'field poet' am viel beachteten Dokumentarfilm 'Darwin's Nightmare' mitgewirkt. Texte von ihm erschienen u.a. im New Yorker, in der Paris Review und der New York Times Book Review. Nick Flynn lehrt ein Semester im Jahr an der University of Houston und ist die restliche Zeit auf Reisen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2005

Fluch über Noahs Sohn
Man stürzt immer nur in eine Richtung: Nick Flynns schwierige Suche nach seinem Vater / Von Verena Lueken

Dies ist die Geschichte eines Sohnes. An ihrem Ende ist der Sohn so alt wie der Vater, als er seine erste Bank ausraubte, und so alt wie die Mutter, als sie sich erschoß. "Bullshit Nights" scheint da kein übertriebener Titel zu sein, und der Untertitel, "Die Geschichte mit meinem Vater", nennt das Hauptproblem beim Namen.

Mit einem Vater wie dem, von dem Nick Flynn berichtet, egomanisch, verantwortungslos, größenwahnsinnig, paranoid und alkoholabhängig, ist es eigentlich unvorstellbar, eine Kindheit zu überleben, ein Albtraum, in der Pubertät zu sein, eine Herausforderung, erwachsen zu werden und nicht ganz verrückt. "Bullshit Nights" erzählt mit behenden Sprüngen zwischen den Zeiten davon, daß es trotzdem gelingen konnte, ohne die einzelnen Schritte dieses Überlebens abzutappeln. Daß dies in einer Komposition aus Tagebuchskizzen, Berichten, Miniaturen, Reflexionen, Briefen, Dialogen und der Konstruktionszeichnung einer Rettungsinsel, die der Großvater nach dem Untergang der Titanic patentieren ließ, geschieht, ist vielleicht schon ein Teil der Antwort auf die Frage, warum.

"Bullshit Nights" liest sich wie ein kunstvoll konstruierter Roman, ist aber ein kunstvoll konstruiertes Memoirenbuch. Darin geht es gleichzeitig um eine Vatersuche und um eine große Anstrengung, dem Vater zu entfliehen. Ohne Gefühligkeit. Ohne Anklagen. Manchmal wütend, oft traurig. Mit Distanz des Ich-Erzählers auch zum tatsächlichen Ich, dessen Leben er hier ausbreitet. Ohne Prätention auch in den literarischen Verweisen auf andere schreckliche, lächerliche Väter wie König Lear, auf andere Sinnleeren wie im "Endspiel", auf andere monumentale Suchaktionen wie "Moby Dick". Woher Flynn die Energie nimmt, in kurzen Kapiteln mit einigen Pausen ein ziemlich dynamisches Tempo vorzulegen, ist nicht ganz klar. Denn sein Lebensgefühl folgt einem ganz anderen Takt: "Da mein Weg nirgendwohin führte, ging ich ihn langsam."

Die Mutter verließ mit ihren zwei Söhnen den Vater, als Nick wenige Monate alt war. Einmal traf er den Vater, als er acht war oder neun, dann erst wieder mit siebenundzwanzig. Boston, wo sie beide leben und sich wiederbegegnen, funktioniert wie ein Dorf; es ist unmöglich, sich nicht zu treffen, und ein Wunder, daß es so lange nicht passierte. Ihre Wege hatten Vater wie Sohn ins Obdachlosenasyl geführt, aber auf verschiedene Seiten des Empfangstischs. Nick betreut die Penner. Sein Vater ist einer von ihnen.

Die Geschichte dieses Lebens ist eine Chronik der Katastrophen und des Absurden, gerade so, wie es Flynn von dem Aufenthaltsbuch des Männerwohnheims behauptet, in dem er seinen Vater wiedertrifft. Darin aufgeführt sind freudlose Rauschzustände, Unfälle, Selbstmorde, Verwirrtheiten, manchmal eine Sehnsucht, ein paar Bücher und Szenen der Erniedrigung, der Scham oder des Widerstands.

Flynn, der einiges von Abgründen versteht, urteilt nicht. Aber er beschreibt genau, in welcher Welt sein Vater angekommen ist, die Logik, der das Leben auf der Straße folgt, und was es heißt, draußen zu sein, wenn sich das Leben nach drinnen zurückzieht. So entsteht neben den persönlichen Erinnerungen auch das Bild einer sichtbaren, aber unbekannten Wirklichkeit, eines parallelen Universums.

Einmal sieht er seinen Vater im Obdachlosenheim mitten im Schlafsaal stehen, nackt, nur mit einem Bettlaken bedeckt, ein bißchen sabbernd, ohne Überblick, wirres Zeug murmelnd, eine Nervensäge kurz vor dem Hausverbot. Flynn fällt dazu ein, daß er dort stünde "wie ein Römer, geradezu majestätisch". Das kommt der Selbstwahrnehmung des Vaters in diesem und vielen anderen Augenblicken wahrscheinlich ziemlich nahe. Später aber denkt Nick an Ham, einen anderen Sohn, den Noahs nämlich, der seinen Vater betrunken sah und nackt und deshalb mitsamt seinen Nachkommen verflucht wurde. Das wiederum entspricht recht genau der Selbstwahrnehmung Nicks. Mit Assoziationen wie dieser wird das Leben vermutlich nicht einfacher, aus demselben Leben aber ein besseres Buch.

Schreiben wollte eigentlich der Vater. Sein ganzes Leben lang, das am Anfang noch halbwegs bürgerlich aussah, dann in eine kleinkriminelle Karriere absackte, von dort ins Gefängnis führte, nach der Entlassung in einige als ehrlos empfundene Jobs und schließlich auf die Straße, all die Jahre, in denen Flynn ohne Vater mit den verschiedenen, meist ihrerseits verrückten Liebhabern seiner Mutter aufwuchs, phantasierte sich der Vater in die Rolle eines Schriftstellers kurz vor der Entdeckung durchs Nobelpreiskomitee. Es gibt tatsächlich wohl ein Manuskript, ungeordnet, unvollendet, einen "Karton voll Geplapper", aus dem nie etwas wurde, das einem Buch ähnlich sah. Briefe allerdings hat der Vater fast unablässig geschrieben, Briefe an die entführte Patty Hearst etwa oder an Verleger, Bittbriefe an Ted Kennedy, Gnadengesuche an einen Richter und in den vielen Jahren seiner Abwesenheit auch unzählige Briefe an den Sohn, der sie als Bomben wahrnahm, "die in meinem Kopf explodieren". In diesen Briefen geht es ausschließlich um den Vater, um seine Talente, seine Pläne, seine Niederlagen, die er bald in Siege sich verwandeln sieht. Das ist das einzige, was der Vater an Beziehung zustande bringt. Nie will er wissen, was aus dem Sohn geworden ist, nie, wie sein Leben verläuft. Als er den Verdacht hegt, Nick nehme Drogen, schreibt er nur: "Falls das stimmt: Viel Glück."

Natürlich nimmt Nick Drogen, alles, was die Welt, was den Gedanken an den Vater fernhält, Chrystal Meth mit Marihuana, Valium mit Schnaps, Haschisch, Kokain, alles gemischt, alles allein, wie es gerade kommt. Alkohol immer, zum ersten Mal betrunken war er mit zwölf: "Man stürzt immer nur in eine Richtung", heißt es einmal, und wenn man Glück hat, in den "Fluß der Vergessenheit".

Die mächtigste Bombe, die in Nicks Kopf explodiert, ist der Satz des Vaters: "Ob dir das gefällt oder nicht, du bist ich" - das ist eine Drohung, daß auch Nick in einen bodenlosen Abgrund stürzen wird, und es ist die letzte große Enteignung. Natürlich zieht der Vater mit diesem Satz nicht nur den Sohn in die Gosse, sondern erhebt sich selbst auch zum Autor des Buchs, das wir in den Händen halten und das nicht er geschrieben hat, obwohl er nichts so sehr wollte in seinem Leben. Ich bin sein Ghostwriter, will Nick uns daraufhin tatsächlich weismachen, sein Sekretär. Aber an dem Punkt, an dem er diese Wörter niederschreibt, ist das schon lange nicht mehr wahr.

Wahr aber ist, daß er gezwungen bleibt, "den Sohn zu spielen". Daß er sich diesem Zwang beugt, ist sein größter Triumph über den Vater, der keine vergleichbare Anstrengung unternimmt. Nick versucht nicht, den Vater zu retten, er holt ihn nicht zu sich nach Hause. Aber er entwirft seinen ganz persönlichen Stadtplan von Boston, einen Plan, der Schlafplätze auf Kirchentreppen, unter Brücken, auf jeder Horizontalen verzeichnet, jedes Fleckchen Gras, jede Bank, auf der sein Vater schlafen oder geschlafen haben könnte.

Wie es dazu kam, daß Nick Flynn einige Stipendien erhielt, ein paar Lyrikbände veröffentlichte, angesehene Literaturpreise gewann und aus dieser Position heraus sich an das Erinnerungsbuch setzte, das erfahren wir nicht. Nur weil seine Geschichte wahr ist, ist der Autor nicht verpflichtet, sie auch ganz zu erzählen.

Nick Flynn: "Bullshit Nights". Die Geschichte mit meinem Vater. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Gunkel. Mare Buchverlag, Hamburg 2005. 337 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Nichts weniger als "großartig" findet Kai Wiegandt diesen autobiografischen Roman, in dem Nick Flynn von sich und seinem Vater erzählt. Der amerikanische Autor berichtet über einen Vater, der in kriminelle Geschäfte verwickelt ist, auf der Straße lebt und dem Alkoholismus verfallen ist, und er tut dies "lebendig, unsentimental, experimentell, ergreifend", schwärmt der Rezensent hingerissen. Dabei ist es kein weiter Weg von der Tragik zur Komik der Erlebnisse, so der Rezensent eingenommen. Aus 81 "Erinnerungssplittern" zusammengesetzt erzähle Flynn mal "nüchtern und dicht", andere Passagen erinnerten an "Prosagedichte" oder "dramatisierte Gedankenexperimente", beschreibt Wiegandt seinen Lektüreeindruck. Neben der Lebensgeschichte des Autors und seiner Eltern erfährt man aber auch viel vom historischen Hintergrund der USA und das gibt dem Roman eine zusätzliche Dimension, die die ohnehin vorhandene "Fülle komplettiert", lobt der Rezensent begeistert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.08.2005

Mein Vater, der Clochard
Nick Flynns wahres und großartiges Buch „Bull Shit Nights”
Der Titel „Bull Shit Nights” macht alle falschen Erwartungen souverän zunichte. Das Buch selber ist dicht gewebt, lebendig, unsentimental, experimentell, ergreifend. Es ist großartig. Doch was heißt es, das von einem Buch wie diesem zu sagen? Der Amerikaner Nick Flynn erzählt in „Bull Shit Nights” von Obdachlosigkeit und Alkoholismus, nicht enden wollendem Elend, von einem Vater, der seinen Sohn im Stich gelassen hat, und er erzählt keinen Roman. Der Erzähler Nick, der Vater Jonathan und die „Bull Shit Nights” auf den eiskalten Bostoner Winterstraßen sind echt. „Bull Shit Nights” ist eine Autobiographie Nick Flynns, die eine Biografie des Vaters Jonathan Flynn enthält.
Seinen Vater lernt Nick erst mit siebenundzwanzig richtig kennen, als er im Pine Street Inn, einem Bostoner Obdachlosenheim, arbeitet. Auf einmal sieht der Sohn den Vater ein paar Stunden täglich. Er wird einer der „Gäste”, die im Heim versorgt werden. Jonathan ist nach kleinen Betrügereien als Autoverkäufer immer weiter ins Verbrechen abgedriftet, hat mit Schecks betrogen und auch mal eine Bank ausgeraubt, einige Jahre im Gefängnis verbracht und während der ganzen Zeit sehr viel Alkohol getrunken. Er kennt keine Gewissensbisse und fühlt sich noch im tiefsten Elend wie ein König, auch dann noch, wenn er seinem Sohn erzählt, wie er dessen Mutter hängen lassen hat. Der Mann ist auf ätzende Weise bemerkenswert. Seit einiger Zeit lebt er nun schon, ganz heruntergekommen, auf der Straße.
Noah ist die biblisch-archaische Figur, die Nick hilft, seinen Vater zu verstehen, ihm eine andere Sicht seines Vaters zu ermöglichen. Doch Nick glaubt nicht an Noah-Jonathan. Jonathan behauptet, Nicks Großvater habe das Rettungsfloß erfunden, und wie so viele andere Behauptungen, die sich Nick von ihm anhören muss, lässt der Sohn auch diese als Lüge untergehen - zu Unrecht, denn nicht alles, was der Vater phantasiert, wird sich als Gerücht erweisen, und der Roman, an dem er sein Leben lang zu arbeiten vorgab, wird ebenfalls auftauchen. Die Beziehung zwischen Nick und seinem Vater ist nämlich eine zwischen zwei Schriftstellern. Während der Vater seinen autobiographischen Roman - mal heißt er „Der Mann am Schalter”, mal wieder anders - niemals zu Ende zu bringen scheint, gerät Nick seit seiner Begegnung mit seinem Vater immer mehr in dessen Rolle als Schriftsteller. Am Ende steht dann eben auch jenes Buch, das jetzt unter dem Titel „Bull Shit Nights” erschienen ist. Der Sohn schreibt den Roman, den der Vater immer schreiben wollte. Das ist das Verrückte - irgendwie hat der kauzig gewordene Vater doch damit recht, dass sein Buch irgendwann erscheinen wird.
Kein Rettungsfloß
Es ist nicht zuletzt diese Art aufdringliche Identität zwischen Vater und Sohn, die Nick sein Leben lang unheimlich ist. „Manchmal sah ich”, schreibt Flynn, „wie mein Vater an einem Gebäude vorbeiging, unterwegs zu einem anderen Nirgendwo. Ich hätte ihm einen Schlüssel geben, ihm ein Plätzchen auf meinem Fußboden anbieten können. Einen Futon. Ein Bett. Doch ich habe es nie getan. Wenn ich ihn hereinließe, würde ich mich in ihn verwandeln. . . Wenn ich dem Ertrinkenden zu Hilfe käme, würde er mich hinabziehen. Ich konnte nicht sein Rettungsfloß sein.”
Die Angst kommt auch daher, dass die Lebensläufe von Vater und Sohn sich in der Tat ähneln, mit Alkoholsucht, Obdachlosigkeit und Kriminalität. Nach einer Jugend in Armut in Scituate in Massachusetts, während der die Mutter Jody Nick und seinen Bruder Thaddeus mit mehreren Jobs ernähren muss, wird es immer wahrscheinlicher, dass Nick eher mit krummen Geschäften Geld verdienen wird als mit mies bezahlten Jobs im Burgerrestaurant. Zumal die Mutter sich schon für diese Option entschieden hat. Wie Jody arbeitet Nick für eine mafiaähnliche Drogenschmugglerbande und lebt nicht schlecht davon. Jody steht zwar tagsüber am Schalter einer Bank, aber den weitaus größeren Teil ihres Gehalts bezieht sie aus den Geldwäschegeschäften, die sich an ihrer Stelle so einfach tätigen lassen. Natürlich geht das nicht lang so. Und wie immer in „Bull Shit Nights” stehen das Katastrophale und das Komische dicht beieinander. Als Nick überraschend einen Brief von der University of Massachusetts bekommt, in dem steht, dass er zugelassen ist, kann er sich weder erinnern, sich beworben zu haben, noch weiß er, ob er hingehen soll. „Der Zimmermann, der vor kurzem bei seiner Frau und seinen beiden Kindern ausgezogen ist, damit er jeden Abend im State Park unter einer Petroleumlampe vor seinem Zelt sitzen und in Ruhe einen Eimer Bier abpumpen kann, stiert mich an und verdreht die Augen, als ich ihm sage, ich würde überlegen, ob ich hingehen soll. Sei kein Arschloch, sagt er, arbeiten kannst du noch das ganze Leben.” Doch als sich einige Zeit später Nicks Mutter umbringt, schmeißt er das College und zieht sich lange Zeit auf ein mühsam repariertes Boot im Hafen von Boston zurück.
Die Exfreunde der Mutter
Nick Flynn setzt sein Buch aus 81 Erinnerungssplittern zusammen. Kaum einer dieser Splitter ist wie der andere, als ob der Spiegel, als er zersprang, die phantastischsten Formen hervorbringen wollte. Die meisten Stücke erzählen nüchtern und dicht, zum Beispiel von einer Kleiderverteilung an die Obdachlosen, vom chaotischen Alltag im Pine Street Inn. Das sind kraftvolle Seiten, auf denen eine sprachliche Verzerrung der Erlebnisse den Aufprall des Lesers aufs Erzählte nur dämpfen würde. Kurze, einseitige Kapitel sind eigentlich Prosagedichte (alles sehr lebendig übersetzt von Thomas Gunkel), wieder andere sind dramatisierte Gedankenexperimente.
„Bull Shit Nights” erzählt von Dingen, die wirklich passiert sind, aber auch wenn das Buch bloß Wahres zu berichten hat, heißt das nicht, dass es die ganze Wahrheit erzählt. Wie Nick Flynn während der Geschichte, die er hier erzählt, zu dem Schriftsteller geworden ist, der schon vor „Bull Shit Nights” einige preisgekrönte Bücher geschrieben hat, das erfährt man nicht. Aber abgesehen davon, dass Flynn einige Dinge der Erzählung würdiger befunden haben wird als andere, wäre das Buch längst nicht so dicht und geschlossen geworden, hätte er auf Vollständigkeit Wert gelegt. Zum Glück spart er aber nicht am geschichtlichen Hintergrund. „Bull Shit Nights” hat eine starke historische Dimension, welche die Fülle komplettiert, die dieses Buch vor allem ausmacht.
Als Nick gegen Ende durch Amerika reist, um eine Videodokumentation über die Exfreunde seiner Mutter zu machen, und sie fragt, wie sie sie kennen gelernt haben und wie sie von ihrem Tod erfuhren, entfaltet sich eine Landkarte der amerikanischen Geschichte, mit den Spuren von Einzelschicksalen darauf, keines davon typisch, keines untypisch, vom Arbeiter bis zum beschädigten Vietnamveteranen, wie er noch heute hier und dort nachts in einem Reihenhaus brüllt. Philip Roth hat einmal gesagt, als Romancier in den USA käme man gar nicht erst dazu, sich Geschichten auszudenken; es sei schon schwer genug, mit der Realität mitzuhalten. Gerade weil „Bull Shit Nights” am Rand der Gesellschaft spielt und doch immer wieder mitten in sie hineinführt, ist es eines jener Bücher, die einem das Gefühl geben, Roths Bemerkung könnte irgendwie wahr sein.
KAI WIEGANDT
NICK FLYNN: Bull Shit Nights. Die Geschichte mit meinem Vater. Deutsch von Thomas Gunkel. Marebuch Verlag, Hamburg 2005. 337 Seiten, 18 Euro.
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