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Die Auflösung konfessioneller Milieus, die Individualisierung religiösen Glaubens, der Umgang mit religiöser Pluralisierung sowie der Prozess der Europäisierung stellen demokratische Gemeinwesen vor eine Reihe neuer Herausforderungen.
Dieser Band, der die Ergebnisse einer mehrjährigen deutsch-französischen Forschungskooperation präsentiert, untersucht aus soziologischer Perspektive das Verhältnis von Religion und Politik in nationalen und postnationalen Konstellationen. Mit ihren Untersuchungen bieten die Forscherinnen und Forscher eine Deutung der vergangenen und aktuellen…mehr

Produktbeschreibung
Die Auflösung konfessioneller Milieus, die Individualisierung religiösen Glaubens, der Umgang mit religiöser Pluralisierung sowie der Prozess der Europäisierung stellen demokratische Gemeinwesen vor eine Reihe neuer Herausforderungen.

Dieser Band, der die Ergebnisse einer mehrjährigen deutsch-französischen Forschungskooperation präsentiert, untersucht aus soziologischer Perspektive das Verhältnis von Religion und Politik in nationalen und postnationalen Konstellationen. Mit ihren Untersuchungen bieten die Forscherinnen und Forscher eine Deutung der vergangenen und aktuellen Religionskontroversen in Frankreich und Deutschland an, die über stereotype Muster nationaler Selbst- und Fremdbeschreibung deutlich hinausgeht.
Autorenporträt
Matthias Koenig, Prof. Dr. phil., ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Religionssoziologie an der Georg-August-Universität Göttingen.

Jean-Paul Willaime ist Professor für Geschichte und Soziologie des Protestantismus an der École Pratique des Hautes Études und Direktor des Institut Européen en Sciences des Religions in Paris.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2008

Weil der Bürger Erlösung sucht

Wozu ist Religion im säkularen Rechtsstaat gut? Ein Forschungsprojekt zeigt, wie erhellend für die Kontroversen zu diesem Thema der Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich sein kann.

Kontroversen um Stellung und Bedeutung von Religion in und für Gesellschaft und Staat sowie auch um Kohärenz und Begriff des Religiösen werden zumeist theologisch und politisch, ergänzend auch historisch und verfassungsrechtlich ausgetragen. Im hier vorliegenden Band, hervorgegangen aus einem deutsch-französischen Forschungsprojekt, dominiert demgegenüber die soziologische Fragestellung und Betrachtungsweise. Das eröffnet neue Sichtweisen und Möglichkeiten der Analyse. Indem sich die Untersuchungen vergleichend auf Deutschland und Frankreich beziehen, erhalten sie einen spezifischen Akzent.

Öffentliche Religionskontroversen erscheinen in soziologischer Perspektive durchaus zu Recht als Selbstverständigungsdebatten einer Gesellschaft über ihre sozialmoralen und kulturellen Fundamente; als solche stehen sie gerade in Deutschland und Frankreich in unterschiedlichen historischen und aktuellen Kontexten. Gleichwohl bleibt die Frage, ob sie im Gegensätzlichen verharren oder angesichts gegebener Herausforderungen, wie sie der säkulare Rechtsstaat mit sich bringt, teilweise konvergieren.

Das in dem Band dokumentierte Forschungsprojekt hat zum Leitthema die Frage, wie in beiden Ländern das Verhältnis von Nation, Staat und Gesellschaft zur Religion historisch bestimmt wurde und aktuell bestimmt wird: allgemein ebenso wie anhand konkreter Probleme und Herausforderungen. Zugleich wird dabei ein eher wissenschaftstheoretisches und -historisches Anliegen verfolgt, nämlich eine Vergewisserung darüber, wie weit die Religionssoziologie des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts (Durkheim, Max Weber, Georg Simmel) nach Methode, Fragestellung und Begriffsprägungen von den gegebenen nationalen und politischen Konstellationen geprägt wurde, mithin keineswegs wissenschaftlich-neutral und "wertfrei" war. Dies ist der mitschwingende Hintergrund für die vergleichende Analyse und Bewertung historischer und gegenwärtiger Religionskontroversen, die für die Gegenwart vorzugsweise anhand von Fallstudien unternommen wird. Eine Auflistung der Religionssemantik in europäischen Institutionen und Rechtsdokumenten beschließt den Band.

Die einzelnen Beiträge zeigen insgesamt hohes fachliches Niveau und zeichnen sich durch ein wechselseitiges Aufeinandereingehen aus - eine Folge des gemeinsam erarbeiteten Grundkonzepts. Sie zu referieren und zu diskutieren, ist hier nicht der Raum. Aber auf manche Aspekte und Schlaglichter, die für die weitere Diskussion Bedeutung gewinnen können, sei hingewiesen.

Für eine soziologische Perspektive interessiert an der Religion nicht die Frage wahr oder falsch, sondern ihre gesellschaftliche Relevanz, das, wozu sie gut ist. Dies zeigt sich in ihrer gemeinschaftsbildenden und -tragenden Funktion beziehungsweise in deren Regression. Von daher öffnet sich ein neuer Blick auf den Prozess der zunehmenden Trennung von Politik und Religion im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Dieser Prozess erscheint hier als Ersetzung der ursprünglich das Ganze begründenden Stellung und Wirkungskraft der universale Maßgeblichkeit beanspruchenden Religion durch die nationalen Gesellschaften und Staaten, die sich als Erben des christlichen Begriffs der Souveränität Gottes gerieren.

Die Vergemeinschaftungsfunktion von Religion und Kirche geht stufenweise auf die Nation und den nationalen Staat über. Entschieden und unmittelbar geschieht das in Frankreich, getragen von der neuen Sozialidee der französischen Revolution und vorangebracht durch die staatliche Schule. Verhaltener und stärker vermittelt läuft der Prozess in Deutschland ab, wo die institutionelle Verkörperung von Religion und Kirche und eine daraus hervorgehende Widerständigkeit stärker waren.

Damit in Zusammenhang steht der Begriff der Religion, wie er in der Religionssoziologie konzipiert wird. Während für Max Weber (magische) Heilssuche und inneres Erlösungsbedürfnis die Religion kennzeichnen - sie kreist um Theodizee- und Sinnprobleme - und er die Differenz von Religion und Politik, wohl von Kulturkampferfahrungen angeregt, stets voraussetzt, wird bei Emil Durkheim, wie Hartmut Tyrell überzeugend nachweist, der Begriff der Religion voll säkularisiert. Religion erscheint übergreifend als eine Form sozialer Integration. Die nationale Zivilreligion ist der erlösungsbezogenen kirchlichen Religion voll ebenbürtig und tritt zunehmend an deren Stelle. Die Nation selbst ist als die communauté morale, als eine Art Kirche zu verstehen, die, vom Pathos der Revolution getragen, die Individuen als moralische heranbildet. Der Weg dazu ist die säkularisierte staatliche Schule, wie sie 1882 näher ausgestaltet wurde; sie führt als Schule der Nation den Kampf gegen das andere, das katholische Frankreich.

Gut herausgearbeitet wird in dem Band die Eigenart und Stoßrichtung der französischen laicité, die als antiklerikale Programmformel bereits in den 1870er Jahren auftrat. Ihr Ziel war die Zerschneidung des Bandes zwischen nationaler Zivilreligion und kirchlicher Religion, um die letztere in den Bereich des Privaten abzudrängen und aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Dies wurde mit dem Trennungsgesetz von 1905 erreicht. Besser kann die Ambivalenz der Zivilreligion, jedenfalls in ihrer europäischen Spielart, nicht deutlich werden; von Offenheit für die Religion ist sie weit entfernt.

Aufmerksamkeit verdienen schließlich die Fallstudien zum Kopftuch- und Kruzifixproblem, zum schulischen Religionsunterricht und bloß historisierender Religionskunde, zum Ethik- beziehungsweise Werteunterricht in seinem Verhältnis zum Religionsunterricht. Mit scharfem Blick legen die Autoren die in beiden Ländern unterschiedlichen Grundlagen für die Kontroversen offen, analysieren die verschiedenen politischen und gerichtlichen Argumentationslogiken und kontrovers vertretenen Optionen. Auch weisen sie kritisch auf offensichtliche Inkonsistenzen in Argumentation und Positionsnahmen hin.

Die Letzteren treten gerade im Kruzifix- und Kopftuchstreit deutlich hervor. Hier wird beim Kruzifix die Kulturalisierung religiöser Symbole, weil dem eigenen kulturhistorischen Kontext zugehörig, zur Legitimation seiner öffentlichen Präsentation in der Schule benutzt, beim Kopftuch hingegen, da es nicht eigene Kultur- und Bildungswerte repräsentiert, zur Delegitimation verwendet. Dieses kulturchristliche Kooperationsmodell ist freilich angesichts der jüngsten Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, die die Autoren noch nicht berücksichtigen konnten, gescheitert.

Rolf Schieder, Theologe an der Humboldt-Universität, warnt die Religionsgemeinschaften davor, sich gerade und nur als Teil des "kulturellen Gedächtnisses" anzudienen. Woher sollen sie dann ihre transzendierende und kritische Kraft nehmen? Mit der Zustimmung zu einer kulturalistischen Begründung ihrer Präsenz in der Schule und ihrer zivilreligiösen Instrumentalisierung "verlassen die Kirchen den Grund, auf dem sie bisher sicher standen: auf der Garantie des liberalen Verfassungsstaates, dass er die Religionsfreiheit nicht nur achtet, sondern auch fördert". Dem kann der Rezensent nur zustimmen.

ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE

Matthias Koenig, Jean-Paul Willaime (Hrsg.): "Religionskontroverse in Frankreich und Deutschland". Hamburger Edition, Hamburg 2008. 475 S., geb., 35,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ernst-Wolfgang Böckenförde empfiehlt diesen Band, der aus einem deutsch-französischen Forschungsprojekt entstanden ist und sich mit den Unterschieden von Position und Bedeutung der Religion in Deutschland und Frankreich befasst, als Gewinn. Der Fokus des Forschungsprojekts liege auf soziologischen Fragestellungen und so untersuchten die Beiträge des Bandes Religion vor allem als Teil des "Selbstverständnisses" einer Gesellschaft über ihre moralischen und kulturellen Wurzeln, erklärt der Rezensent einverstanden. In den Beiträgen werde luzide herausgearbeitet, wie sich im historischen Kontext die unterschiedlichen Auffassungen vom Verhältnis von Religion und Staat entwickelt haben, lobt Böckenförde, der das "fachlich hohe Niveau" der einzelnen Beiträge hervorhebt. Als interessante Einzelaspekte greift Böckenförde die Kruzifix- und die Kopftuchdebatten oder den Religionsunterricht in der Schule heraus, und er stellt anerkennend fest, dass es den Autoren gelingt, die "unterschiedlichen Grundlagen" für die in beiden Ländern heftig geführten Debatten präzise darzulegen.

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