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Während des Ersten Weltkrieges erhielt der Direktor des Reichenheimschen Waisenhauses, einer Einrichtung der Berliner Jüdischen Gemeinde, 754 Feldpostsendungen. Die meisten stammen von ehemaligen Zöglingen, die als Soldaten in der deutschen und der österreichisch-ungarischen Armee dienten. Diese Schreiben bezeugen den selbstverständlichen Patriotismus ihrer Verfasser, zugleich aber auch die wachsende Kritik am Krieg. Indem die vorliegende Sammlung den Dienst jüdischer Soldaten dokumentiert, setzt sie die gegen antisemitische Anfeindungen gerichtete Aufklärungsarbeit jüdischer Verbände fort.

Produktbeschreibung
Während des Ersten Weltkrieges erhielt der Direktor des Reichenheimschen Waisenhauses, einer Einrichtung der Berliner Jüdischen Gemeinde, 754 Feldpostsendungen. Die meisten stammen von ehemaligen Zöglingen, die als Soldaten in der deutschen und der österreichisch-ungarischen Armee dienten. Diese Schreiben bezeugen den selbstverständlichen Patriotismus ihrer Verfasser, zugleich aber auch die wachsende Kritik am Krieg.
Indem die vorliegende Sammlung den Dienst jüdischer Soldaten dokumentiert, setzt sie die gegen antisemitische Anfeindungen gerichtete Aufklärungsarbeit jüdischer Verbände fort.
Autorenporträt
Hermann Simon, geb. 1949 in Berlin. Nach Abitur an altsprachlich betonter Schule Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin: Geschichte und Orientalia, anschließend Graduiertenstudium in Prag zur Spezialisierung auf Orientnumismatik. Dr. phil. Arbeit auf diesem Gebiet von 1975-88 an den Staatlichen Museen zu Berlin. Seit 1988 Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.06.2002

Der Tommy kann uns ins Rohr hineinsehen
Und die Belgier sind deutschfeindlich: Die erste geschlossene Edition von Feldpostbriefen jüdischer Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg
Am schmerzhaftesten ist, was die Briefe nicht erzählen. Was man nur ahnt. „Die Vorkommnisse, von denen ich gern berichten würde, brieflich aber nicht kann”, so schreibt der Infanterist Herbert Czapski im März 1917, „beziehen sich auf Erlebnisse der jüd. Soldaten denen gegenüber das Benehmen des Hauptmanns auch gegen das Kaiserwort: ,Ich kenne keine Parteien mehr‘ verstößt.” Er hatte nämlich nur noch Deutsche kennen wollen, der Kaiser, als der Erste Weltkrieg ausbrach, denn alle sollten ja ins Feld ziehen: Die Sozis, die Arbeiter und die Juden – wie der Musketier Czapski, viertes Bataillon, vierte Kompanie, dritte Korporalschaft.
Aber nun, im Feldlager bei Warschau stellte Czapski fest, dass sich die Juden zwar wie alle anderen totschießen lassen durften, aber lebendig auch nach zwei Jahren Krieg etwas weniger gleich waren als andere: Als er den Brief aufgab, lag die „Judenzählung” ein halbes Jahr zurück, jene schmachvolle Prozedur, mit der das Kriegsministerium angeblich Gerüchte über jüdische Drückberger hatte entkräften wollen, in Wahrheit aber vor allem dem Antisemitismus in den Offiziersrängen nachgab. Deutsche Juden in der Uniform Seiner Majestät – da musste etwas faul sein. Rathenau hatte erbittert geklagt: „Je mehr Juden in diesem Krieg fallen, desto nachhaltiger werden ihre Gegner beweisen, dass sie alle hinter der Front gesessen haben, um Kriegswucher zu betreiben”. Das war nicht das kokette Spiel mit Diskursgrenzen, sondern glasklares Ressentiment.
In den zwei Bänden mit Feldpostbriefen jüdischer Soldaten von 1914 bis 1918, die die Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum” und das Militärgeschichtliche Forschungsamt Potsdam herausgegeben haben, die Simone Hank und Hermann Simon des Centrum Judaicum um Biografien der Absender ergänzt haben, findet die Judenzählung nicht statt. Hunger, Durchfall, Läuse, Dreck und Tod, die Routine des Tötens und Sterbens – aber kein Antisemitismus. Dass sie lange keinen Rabbi mehr gesehen haben – auch Leo Baeck diente als Feldrabbi –, dass die Preise für jüdische Wurst stiegen, das konnte man schreiben. Aber über die Schikane, die aus den Patrioten, die sich in Scharen freiwillig gemeldet hatten, Juden machte, schrieb man nicht.
Die 754 Feldpostbriefe aus der Feder von 81 Schreibern sind die erste geschlossene Edition von Briefen jüdischer Soldaten aus diesem Weltkrieg – und sie gelten einem Adressaten: Siegmund Feist, Direktor des Reichenheimschen Waisenhauses in Berlin, Weinbergsweg 13. Vor sieben Jahren wurden die beiden Teile des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, in Dahlem und Merseburg, zusammengelegt, als der Feist-Nachlass in die Gegenwart gespült wurde .
Man weiß nicht viel über das jüdische Waisenhaus. Aber dass mancher Zögling dem „sehr verehrten Herrn Direktor” versicherte, seine Zucht sei eine hervorragende Vorbereitung auf den Kommiss gewesen, verrät einiges. Feist schickte Zeitungen und Geld, das vor allem, bekam aber selbst Spenden und Feldpostkarten, auf denen die Zöglinge zu Pferde, vor Geschützen oder im Lazarett posierten. Auch eine Frau war unter den Briefeschreibern, Alice Fabian, die im Zentraleinkauf der Truppe in Brüssel arbeitete: „Die Belgier selbst sind furchtbar deutschfeindlich, sodaß man sich sehr in acht nehmen muß”, schreibt sie, ganz deutsch national. Überhaupt werden die Briefe gerade dort spannend, wo sie einen Blick auf die widerstreitenden Identitäten erlauben. So berichtete der Unterarzt Otto Köhler nach dem Einfall in Russland: „Der allgemeine Eindruck war der, daß man glaubte, von einer guten Stube in einen Misthaufen gekommen zu sein. Unsere Glaubensgenossen machten einen üblen Eindruck ... mit unangenehmer Unterwürfigkeit begrüßten sie uns.”
Nicht alle Briefschreiber beobachteten gleich scharf; für manche war es die einzige Korrespondenz ihres Lebens. Dass sich auch bei den Tapfersten Ernüchterung einstellte – „Unsere Feuerstellung ist mieserabel. Der Tommy kann uns ins Rohr hineinsehen.” –, dass die Verpflegung jämmerlich, die Zahl der Toten und Deserteure steigend und die Hoffnung auf Frieden verzweifelt war, darin teilten die jüdischen Kanoniere die Erfahrungen aller anderen Soldaten Seiner Majestät.
Von den 100000 jüdischen Soldaten des Ersten Weltkrieges blieb jeder zehnte im Feld. Auch fünf Feist-Zöglinge fielen. Die meisten Briefschreiber aber starben im Zweiten Weltkrieg – durch ihr Land, nicht für ihr Land. Deutsche Juden in Uniform, das ist der radikalste Assimilationsversuch, das Angebot einer Anpassung mit höchstem Einsatz – dem des eigenen Lebens. So geben die Bände gerade dort, wo sie von Normalität berichten, Zeugnis von einer furchtbaren Täuschung.
SONJA ZEKRI
SIMONE HANK / HERMANN SIMON: Feldpostbriefe jüdischer Soldaten 1914 – 1918. Verlag Hentrich & Hentrich, Teetz 2002. 2 Bände, 744 Seiten, 48,60 Euro.
„Ich zu Pferde mit Bursche und Schlachtross”, so unterschrieb der Unterarzt Otto Köhler seinen Kartengruß in die Heimat.
Foto: Verlag Hentrich & Hentrich
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

754 Feldpostbriefe aus der Feder von 81 Schreibern, darunter auch eine Frau, haben Simone Hank und Hermann Simon zusammen mit der Stiftung Neue Synagoge Berlin Centrum Judaicum und dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt Potsdam herausgegeben, berichtet Sonja Zekri. Diese Briefe waren allesamt an eine Adresse gerichtet: an Siegmund Feist, den Direktor des Reichenheimischen Waisenhauses in Berlin. Gefunden wurden sie, informiert die Rezensentin weiter, vor sieben Jahren im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Richtig "schmerzhaft" an diesen Berichten aus dem ersten Weltkrieg findet Zekri, was zwischen den Zeilen steht. Nämlich die Assimilationsversuche deutscher Juden, deren radikalste Ausformung die Bereitschaft war, für Deutschland zu sterben, obwohl sie für die Militärs letztlich Juden blieben, so die Rezensentin. Die meisten der hier versammelten Briefeschreiber, der "Feist-Zöglinge", seien, merkt die Rezensentin bitter an, nicht im ersten, sondern im zweiten Weltkrieg gestorben, und zwar nicht "für ihr Land", sondern "durch ihr Land".

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