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Produktdetails
  • Verlag: Autorenhaus
  • Seitenzahl: 382
  • Deutsch
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 474g
  • ISBN-13: 9783932909399
  • ISBN-10: 3932909399
  • Artikelnr.: 12757864
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.02.2005

Was im Kopf ein- und ausbricht
Schreiben, Heilung und Krankheit: Eine Neurologin über Kreativität
Es sind zwei Sätze, die den Leser gleich zu Beginn aufhorchen lassen. „Ich bin vernarrt in das Schreiben” ist der eine. „Ich bin besessen von Krankheiten und wie sie meine Patienten verändern” ist der andere. Es weckt Neugier, wie eine Neurologin, denn von einer solchen stammen sie, zu diesen Formulierungen kommt. Erwartet man nicht von Ärzten üblicherweise, dass ihre Texte in den schnöden wissenschaftlichen Formen des Passivs und der dritten Person verfasst sind? Dass sie nicht derart frei heraus „Ich” sagen?
Ganz anders macht es Alice W. Flaherty von der Universität Harvard. Neben der Ärztin in ihr war es ihr persönliches Schicksal, das sie antrieb, „Die Mitternachtskrankheit” zu verfassen: „Ich schrieb dieses Buch als Versuch, mir selbst zu erklären, was in meinem Hirn ausgebrochen (oder eingebrochen) war, um mich, fast gegen meinen Willen, zur Schriftstellerin zu machen.” Nach dem Tod ihrer zu früh geborenen Zwillingssöhne verfiel Flaherty in eine Stimmungsstörung mit manisch-depressiven Zügen. Dies löste bei ihr Hypergrafie aus: den Zwang zu schreiben.
Ein leeres Blatt war der Neurologin von da an ein Graus, die Tastatur eines Computers war die Aufforderung zu tippen, tagelang, nächtelang, hin und her gerissen zwischen Glücksmomenten und Momenten der Niedergeschlagenheit. „Ich konnte nicht aufhören, es riss mich fort von meiner Familie und meinen Freunden.” Flaherty nahm nach der Genesung ihr Erlebnis zum Anlass, aus einer neurologischen Perspektive nachzudenken über den Rausch des Schreibens und sein weiter verbreitetes Pendant, die Schreibblockade; und sie nahm diese Störungen zum Anlass, über das von Legenden umrankte Phänomen der schriftstellerischen Kreativität im Allgemeinen zu reflektieren.
Muse und Schläfenlappen
Flahertys These, die aus der Beobachtung von Menschen mit Schläfenlappenveränderungen - beispielsweise einer Schläfenlappen-Epilepsie - resultiert, zielt auf die bislang vernachlässigte Rolle des Schläfenlappens im kreativen Prozess. Damit widerspricht Flaherty den vielen, aus ihrer Sicht vereinfachenden Theorien, die den Sitz der Kreativität ausschließlich in der rechten Gehirnhälfte verorten. Darüber hinaus gelte es, dem limbischen System als dem Sitz unserer Emotionen und Triebe stärkere Beachtung zu schenken.
Flahertys Buch richtet sich keineswegs nur an ein medizinisch vorgebildetes Fachpublikum. Auch will es nicht mit besserwisserischer Geste der Naturwissenschaft ehrwürdige kulturelle Vorstellungen wie den Kuss der Muse in das Reich des Aberglaubens verbannen. Solcher Determinismus liegt Flaherty fern. Ihr geht es vielmehr um die Frage, was die „seltsame Empfindung” des Musenkusses verursacht und warum Künstler nach wie vor ihre „besten Gedanken” einer Kraft zuschreiben, die außerhalb ihrer selbst liegt.
Die Antwort: Das „Empfinden, dass die Gedanken fremd sind, unterstreicht etwas Wesentliches an der Art der kreativen Ideen: Sie überraschen und verblüffen den Schöpfer.” Oder in den Worten des Schriftstellers Octavio Paz: „Welchen Namen wir der Stimme auch geben - Inspiration, das Unbewusste, Schicksal, Zufall, Offenbarung - es ist immer die Stimme des Anderen.”
„Die Mitternachtskrankheit” ist ein facettenreiches, leidenschaftlich argumentierendes Buch. Ob Agrafie, Hypergrafie, Synästhesie - Flaherty entwickelt dazu so gar nicht schreibgehemmte Gedanken, die sich zwischen Medizin, Philosophie und Literatur hin und her bewegen, dazu zahlreiche Fallbeispiele. Dabei schreibt sie immer im Wissen um die eigene Fehlbarkeit. „Viele dieser Gedanken sind vorläufig”, heißt es im Vorwort. Damit wird sie bei allen, die Kreativität suchen, ebenso Sympathie finden wie mit dem Satz, der sich irgendwo im Text versteckt: „Ich denke, bis mir schwindelig wird.”
FLORIAN WELLE
ALICE W. FLAHERTY: Die Mitternachtskrankheit. Warum Schriftsteller schreiben müssen. Schreibzwang, Schreibrausch, Schreibblockade und das kreative Gehirn. Autorenhaus Verlag, Berlin 2004. 382 Seiten, 19,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Das Schreiben samt all seiner Zwangserscheinungen wie Schreibzwang oder Schreibblockade, bergen keine Geheimnisse mehr, glaubt man der Neurologin Alice Flaherty. Wie der Rezensent Hans-Ulrich Treichel erklärt, macht Flaherty - die selbst unter Schreibzwang gelitten hat - das Schreiben zu einer neuronalen Angelegenheit und legt Forschungsergebnisse offen, die der Aktivität der Schläfenlappen besondere Bedeutung in Bezug auf das Schreiben beimessen. Je höher die Aktivität, desto stärker der Drang zum Schreiben. Tatsächlich sollen literarische Größen wie Flaubert oder Dostojewski an Schläfenlappenepilepsie gelitten haben. Dieses Ausmaß an Aktivität, so der Rezensent, sei dann wohl das, was landläufig Inspiration genannt werde. Was allerdings nicht heißen solle, dass jede Person mit gesteigerter Schläfenlappenaktivität zwangsläufig ein Flaubert oder ein Dostojewski sein müsse. Insgesamt erscheint dem Rezensenten Flahertys Buch zwar "anregend und erhellend", doch bemängelt er auch eine gewisse Tendenz, "unter starkem Rededruck", zu "Redundanzen und gelegentlicher Ideenflucht": Ein wenig mehr Präzision und Kürze wäre durchaus wünschenswert gewesen.

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