Produktdetails
  • Verlag: Faber & Faber, Leipzig
  • Seitenzahl: 155
  • Abmessung: 17mm x 134mm x 206mm
  • Gewicht: 318g
  • ISBN-13: 9783932545542
  • ISBN-10: 3932545540
  • Artikelnr.: 24043423
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.02.2001

Leer- und Wendejahre
Rainer Klis erzählt, wie Rudi Gelder die Reifung verweigerte
Vater Gelder, ein ehrgeiziger SED-Mann, will seinen siebenjährigen Sohn mit kalten Duschen und Tauchübungen für den Exerzierplatz trimmen. Doch Rudi will nicht, schweift ab, schaut lieber dem gemalten Mädchen, das die Schwimmhalle ziert, auf den Schlitz. Die Schwimmstunde wird für ihn zur Einübung in die Kunst abweichenden Sehens: Mit dem verstohlen-voyeuristischen Blick auf das Bild erwacht eine eigensinnige Kinder- und Künstlerseele.
Die Romanhandlung, aus 29 kunstvollen Episoden geknüpft, beginnt 1963 und endet kurz nach dem Mauerfall. Erzählt wird – aus der Froschperspektive – die Geschichte einer verweigerten Reifung. Der Protagonist, ein buckliger Bruder Oskar Matzeraths und entfernter Vetter von Hesses Hans Giebenrath, steht für den Typus des intellektuellen Jugendlichen in der DDR, für das Lavieren des Künstlers zwischen Anpassung und Resistenz. Durch die Begegnung mit „West-Literatur”, mit Hesse, Nietzsche und Kafka, die ihm sein Freund Udo Unger heimlich beschafft, gerät Rudi Gelder immer mehr ins Abseits, schreibt Subversives – das Abseits, kein sicherer Ort, sondern eine stets gefährdete Fluchtburg. Die Angst vor Denunziation und Stasi ist allgegenwärtig.
Alles, was der Müßiggänger tut, geschieht in Abgrenzung zum Vater-Typus, einem „Helden der Arbeit” (der sich nach dem Staatsbankrott umbringen wird). Rudi lässt sich dennoch von ihm in die FDJ drängen. Er ist weder Untertan noch Held. Auch kein Wendehals: „Ich war wieder, wo ich angefangen hatte”, bilanziert der 33-jährige Ich-Erzähler schließlich seine Leer- und Wendejahre. Er hat die „Bildungsstationen” Arbeit (als Schlosser, Kraftfahrer, Buchhändler und Hungerkünstler), Religion und Liebe überlebt, ohne eine stabile Identität entwickelt zu haben. Sein (Roman-)Ende als Vertreter für Schmierfette ist trist. Seine Frau Tamara und Sohn Leo haben ihn verlassen. Der Abend des Vertreters zieht sich in die Länge, ist kein dionysisches Fest. Die subtile Erzählerironie macht auch vor dem „Wendeopfer” Rudi nicht Halt.
Rainer Klis beschönigt nichts und belehrt niemanden, er verschafft, wie bereits in seinen Streifzügen durchs Indianerland, auch den heute befremdlich klingenden Stimmen Gehör. Dem 1955 in Karl-Marx-Stadt alias Chemnitz geborenen Autor – der übrigens 1989 das Neue Forum und dann die SPD in der DDR mitgegründet hat –, ist der Roman Der Abend des Vertreters zu einem vor allem konzeptionell überzeugenden Stück autobiografischer Miniatur-Prosa geraten.
MARCUS SANDER
RAINER KLIS: Der Abend des Vertreters. Roman. Verlag Faber & Faber, Leipzig 2000. 156 Seiten, 32 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2001

Schmierfettiges
Rainer Klis erzählt vom "Abend des Vertreters"

Rainer Klis erzählt die Geschichte eines ostdeutschen Jungen, der erst Maschinenschlosser, dann Schriftsteller und zuletzt Vertreter von Schmierfetten wird. Der Leser begleitet den Jungen mit seinem Vater ins Schwimmbad. Aus der Dusche strömt das heiße und dann, zur Abhärtung, das kalte Wasser. In der chlorhaltigen und lauten Halle muß der Sechsjährige den Anweisungen des Vaters folgen: "Noch mal jetzt. Wie ein Frosch es macht. Langsam und kräftig. Arme vor, Beine strecken - ausatmen. Ausatmen, hab' ich gesagt! Wie ein Frosch es macht! Langsam, hab' ich gesagt! Und strecken." Ein Junge muß schwimmen können, auch wenn er lieber die haarfeinen Risse der Hallenbadkacheln beobachtet.

Die besten Episoden dieses Buches bestehen aus klar konturierten Szenen, aus Momentaufnahmen des Helden und seiner Welt in knapper Syntax. Sie bieten Raum für Details, für den Chlorgeruch der Atmosphäre. Episoden dieser Art finden sich vornehmlich im ersten Teil des Buches, das nach den Szenen der Kindheit die Neugier der Adoleszenz und den unwilligen Einstieg des Heranwachsenden in das Bauschlosser-Berufsleben abbildet. Die Distanz des rückblickenden Ich-Erzählers hilft bei der Pointierung der Szenen und schafft einen Abstand, der auch der sprachlichen Gestaltung zugute kommt.

Diese Zeichen erzählerischer Souveränität schwinden mit dem Beginn einer Liebesgeschichte und der Dichterexistenz des Protagonisten. Handlungsstränge mit festem Personal lösen die Grenzen der Einzelszenen auf. Nicht mehr schlaglichtartig beleuchtet, erscheinen Kunst und Liebe merkwürdig fahl: "Im Sommer heirateten Tamara und ich, und im September wurde unser Sohn Leo geboren, um den sich in den nächsten Monaten alles drehen sollte. Wir waren glücklich. In der Zeit, als Leo laufen lernte, war ich öfter mit Tschaikowski unterwegs. Wir traten in Kulturhäusern, Jugendclubs und verräucherten Studentenkellern auf, in Weimar, Cottbus, Rostock und Berlin, Tschaikowski, der inzwischen eine Soloplatte bekommen hatte und auch schon in Warschau und Westberlin bei Free-Jazz-Festivals aufgetreten war, wechselte zwischen Gitarre und Querflöte. Ich las Gedichte." Die schwächsten Teile des Buches bestehen aus lieblos zusammengerafften Informationen. Beliebig erscheinende Handlungssprünge treten an die Stelle der kleinen Schritte, die dem behaupteten Glück mit Sohn Leo angemessener wären.

Mit dem sozialen Abstieg des Helden laufen die Episoden vollends auseinander. Die Dichtung ernährt keine Familie, nicht nach der Schließung der Kulturhäuser und der Wende. Die politischen Großereignisse scheinen hinter den zunehmenden Eheproblemen und den ökonomischen Zwängen auf, die den Protagonisten nun zum Handel mit Schmierfetten zwingen. Wollen die Episoden, die schon längst keine mehr sind, auf einen Zusammenhang von großer und kleiner Geschichte hindeuten? Schaut man genau, bleibt der Protagonist immer der gleiche Träumer. Kraft- und Orientierungslosigkeit gab es in der DDR und gibt es im vereinigten Deutschland, genau wie die in Rudi Gelders Familie verbreitete Schwermut, von der die Großmutter sagt, sie befalle Kommunisten und Christen: "Schwermut ist das Schlimmste, was es gibt."

SANDRA KERSCHBAUMER

Rainer Klis: "Der Abend des Vertreters". Roman. Verlag Faber & Faber, Leipzig 2000. 156 S., geb., 32,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Schwermut ist das Schlimmste, was es gibt.", konstatiert die Großmutter der Romanfigur. Genau in dieser Schwermut sieht auch Sandra Kerschbaumer die Geschichte des Rudi Gelder versinken. Während seiner Kindheit spricht der Ich-Erzähler fein und liebevoll detailgenau, mit seinem Erwachsenwerden verlieren aber sowohl das Buch als auch sein Protagonist an Ruhe und Unbefangenheit, meint die Rezensentin. Der soziale Abstieg, der mit dem Älterwerden und dem Ende des geteilten Deutschlands einhergehe, mache aus dem Poeten letztendlich einen Schmierfetthändler. Eventuell kann man im Verhältnis zwischen formalem und inhaltlichem Fortschreiten des Buches eine Aussage entdecken, so Kerschbaumer. Welche, sagt sie nicht.

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