Produktdetails
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2003

Irrwisch im Wagner-Wald
Slavoj Zizeks "Der zweite Tod der Oper"

Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek tut das, was nach dem Vorbild von Sokrates eigentlich die Aufgabe eines jeden Philosophen sein sollte: herumstreifen, die Leute anreden, in Gespräche verwickeln und mit gewagten Thesen wie Fragen heilsame, erkenntnisförderliche Verwirrung stiften. Wer Vorträge von ihm gehört hat, weiß, wieviel er weiß, wie vielfältig er assoziieren kann und wie mäandernd sein Diskurs sein kann: ein spekulativer Sprungkünstler. Dabei hat er viele Interessen, eine davon gilt der Oper, die er kennt und liebt und so durchaus zum Objekt seiner interpretierenden Begierde macht. Hat sein Zugang zum Musiktheater selbst entschieden libidinöse Züge, so kommt ihm dabei auch noch ein Ahnherr zur Hilfe: Jacques Lacan. Und mit dessen psychoanalytischem Instrumentarium unternimmt er es, nicht zuletzt Wagners Kosmos zu erschließen.

Darum geht es hauptsächlich in "Der zweite Tod der Oper", einer doppelbödigen Formulierung: Denn "tot" war für Zizek die Oper von Anfang an, als Zwitter von Musik und Theater. Doch der "zweite Tod" bedeute, so Zizek, eigentlich ihre Auferstehung durch Radikalisierung, zumindest der Exegese. Und in kühnen, bisweilen recht waghalsigen Exkursen gelingt es ihm, die "untoten" Protagonisten gerade Wagners so mit hermeneutischem Leben vollzupumpen, daß die gute alte Zombie-Gattung plötzlich wieder lebensprall dasteht.

Fast wie ein Irrwisch lichtert Zizek durch den Wald der Wagnerschen Motiv-Abgründe, und seine Einfälle, riskanten Lesarten - mögen sie auch keineswegs immer allen Exaktheits- und Triftigkeits-Kriterien der Opern-Philologie entsprechen - haben doch nicht selten den Reiz quasi sokratischer Verunsicherungsstrategien. Natürlich haben es ihm besonders die manifesten wie latenten Aspekte von Sexualität in der Oper angetan. Und auf manche Ideen, Analogien, Deduktionen muß man erst einmal kommen. Tristans Warten auf Isolde im dritten Akt mit Tom Tykwers Film "Lola rennt" zu parallelisieren, Orests Muttermord und Parsifals Zurückweisung Kundrys ähnlich zu sehen und in Verlängerung Salomes Küssen des abgehauenen Jochanaan-Haupts als umgekehrten Rache-Lusterfüllungs-Akt: Deutungen, die man nicht in allen Punkten teilen muß, die aber doch aufschlüsselnden Schlaglichtcharakter haben. An Querverweisen, oft zum Film, fehlt es nicht, und mit Lust legt es Zizek immer wieder darauf an, Opernkonstellationen nicht nur anders zu erzählen, sondern sie regelrecht weiterzufabulieren, skurrile Varianten zu erfinden - Zizek als nachträglicher Weichensteller der Operndramaturgien.

Nicht alles ist so neu, wie es klingt, auch einige Irrtümer sind ihm unterlaufen, und manches bleibt doch recht hypothetisch, ja pure Spekulation. Aber wie man Kunst, Psychoanalyse und Politik anregend zusammendenken kann, das immerhin läßt sich dem Buch entnehmen, dessen Fußnoten tatsächlich mit Notenköpfen signalisiert werden. So fällt vom Text auch etwas für die Musik ab, und sei es nur graphisch.

GERHARD R. KOCH.

Slavoj Zizek: "Der zweite Tod der Oper". Aus dem Englischen von Hans-Hagen Hildebrandt. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2003. 190 S., geb., 16,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Gerhard R. Koch zeigt sich beeindruckt von Slavoj Zizeks assoziativen Fähigkeiten: Eine Parallele zwischen dem Warten von Tristan auf Isolde und "Lola rennt" - darauf muss man erst mal kommen! Aber was so "ein spekulativer Sprungkünstler" ist, der "lichtert" ohne allzu große Besorgnis um wasserdichte Philologie "durch den Wald der Wagnerschen Motiv-Abgründe" und zeigt, worauf man mit Liebe zur Oper und Lust auf Hermeneutik alles so kommen kann - "wie man Kunst, Psychoanalyse und Politik anregend zusammendenken kann". Koch hat sich anstecken lassen, ist Zizeks "waghalsigen Exkursen" gefolgt und denkt gar nicht daran, den zur Ordnung rufenden Zeigefinger zu erheben. Denn "heilsame, erkenntnisfördernde Verwirrung", sei bekanntermaßen ein sokratisches Prinzip und Aufgabe eines jeden Philosophen. Beifall!

© Perlentaucher Medien GmbH