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  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Verlag: Sandstein
  • Seitenzahl: 188
  • Abmessung: 280mm x 168mm x 15mm
  • Gewicht: 705g
  • ISBN-13: 9783930382965
  • ISBN-10: 3930382962
  • Artikelnr.: 12300948
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2003

Serenus Zeitblom sah nicht alles
Das heitere Gesicht der Reformation: Ein Prachtband läßt die Renaissance-Stadt Torgau aufleben

Im "Doktor Faustus" schildert Thomas Mann als Chronist Serenus Zeitblom die alten Städte "recht mitten im Heimatbezirk der Reformation". Sie, denen er "Kaisersasch" als Vaterstadt seines "Tonsetzers Adrian Leverkühn" hinzuerfindet, erscheinen als Stätten, deren Identität dieselbe ist "wie vor dreihundert, neunhundert Jahren, wo bildmäßig Entscheidendes aus Pietät, das heißt aus frommem Trotz gegen die Zeit und aus Stolz auf sie, zur Erinnerung und Würde stehenbleibt". Fasziniert und beunruhigt fährt der Dichter fort: "Aber in der Luft war etwas hängengeblieben von der Hysterie des ausgehenden Mittelalters, etwas von latenter seelischer Epidemie. Möge es gewagt klingen, aber man konnte sich denken, daß plötzlich eine Kinderzug-Bewegung, ein Sankt-Veits-Tanz, das visionär-kommunistische Predigen irgendeines ,Hänselein' mit Scheiterhaufen hier ausbräche." Wer vor der Wende Wittenberg oder Eisenach, Grimma oder Eisleben besuchte, dem konnte es ähnlich ergehen wie Manns Zeitblom: Verwittert und freudlos muteten diese Städte an, grau vom ehrwürdigen Alter, aber auch von Lethargie, unter der man Groll zu ahnen glaubte. Die Renaissance, jene lebensfrohe Schwester der strengen Reformation? In den Orten, die beider Geburtsstätten gewesen waren, hatte Trübsal die Heiterkeit ersetzt und brachte der Verfall der Bauten den düsteren gotischen Kern der strahlenden deutschen Renaissance zum Vorschein.

So auch in Torgau. Zwar hatte die Stadt im gesamtdeutschen Gedächtnis ihren Platz als Ort, wo am 25. April 1945 sich an der Elbe die sowjetischen und die amerikanischen Truppen trafen. Aber ihr Ruhm als Juwel der Renaissance war mit der deutschen Teilung verblaßt. Nur der 1536 errichtete "Große Wendelstein" von Schloß Hartenfels tauchte in hiesigen Kunstbänden als Meisterstück gotisch inkarnierter Renaissance auf. Doch man benutzte historische Fotografien, so als gebe es das Original nicht mehr. Aber es steht noch, und das fester denn je: Stadt und Schloß nämlich werden seit der Wende sorgfältig restauriert. Und mit jedem Jahr tritt damit das heitere Gesicht der Renaissance deutlicher hervor. Nicht, daß darüber die Vermischung der antiken Elemente mit gotischen zurückträte: Nein, das, was Thomas Mann benennt, wenn er seinen Zeitblom schreiben läßt, die Reformation sei "einer Brücke (zu) vergleichen, die nicht nur aus scholastischen Zeiten herüber in unsere Welt freien Denkens, sondern ebensowohl auch zurück ins Mittelalter führt", diese Zwiegebundenheit auch der Baukunst jener Epoche tritt uns in den restaurierten Bauwerken Torgaus entgegen. In den Giebeln zum Beispiel der Schloßbauten, deren Obelisken so schlank und spitz starren wie gotische Fialen, oder im Wendelstein selbst, dessen Pfeiler schlank und federnd wie gotisches Stabwerk aufwachsen, was in fast manieriertem Kontrast steht zu dem Schildgiebel, der über allem sitzt wie ein antiker Helm.

Die anrührende Wunderlichkeit solcher Mischungen bezeugt ein schlichtes reformatorisches Denkmal - der Grabstein Katharinas von Bora, Luthers Ehefrau. Sie ist in Witwentracht dargestellt, als stehe sie aufrecht in einer Nische mit Kleeblattbogen. Auch der ornamentale Faltenwurf ihres Mantels und die Knitterfalten ihrer weißen Haube atmen Spätgotik. Doch das gealterte Gesicht mit tiefen Mundfalten ebenso wie die gespreizten hageren Hände, mit denen sie ein Gesangbuch gleich einem Schutzschild vor den Oberkörper hält, sind purer, der Antike nachempfundener Verismus. Der Grabstein steht in Torgaus Marienkirche. Dort sind auch Bildtafeln Lucas Cranachs d.Ä. zu sehen, die "Vierzehn Nothelfer" von 1507 und der gleichzeitig entstandene "Schmerzensmann", erstere mit fratzenartigen Gesichtern so gotisierend wie ein abgemilderter Grünewald, letztere mit klassischen Körpern, als habe Mantegna den Pinsel mitgeführt.

Torgau war damals eine glanzvolle Residenz, blickte auf sechshundert Jahre Geschichte zurück, auf slawische Ursprünge, den Auftakt 973 als Grenzfeste Kaiser Ottos II., den Aufstieg unter Herzog Albrecht und Kurfürst Ernst im fünfzehnten Jahrhundert, die Blüte, als ab 1487 in ihr die Ernestiner residierten. Große einheimische Maler und Architekten wie Cranach oder Konrad Krebs waren dort tätig, aus Italien und Frankreich kamen Auftragswerke der Kurfürsten hierher. Das Stadtbürgertum stand dem Hof kaum nach. Das zeigt Torgaus Rathaus, ein Renaissancepalast, der Hartenfels ebenbürtig ist. Zu seinen Besonderheiten zählt die Einvernahme der romanischen, in der Gotik und zur Renaissancezeit umgebauten Nikolaikirche, die von Flügelbauten des Rathauskomplexes umschlossen ist - ein in Deutschland einmaliges Ensemble. Die Kirche, mehrmals umgebaut und teilweise entstellt, wird nun erforscht und restauriert; eine Aufgabe, mit der man zu Zeiten der DDR begann, als 1973 das Rathaus saniert wurde.

Ein weiteres, für die Renaissance typisches Bauprinzip bietet Torgau in seltener Qualität - die für heutige Begriffe nahezu monotone Gleichgestaltung ganzer Fassadenreihen zugunsten von Ebenmaß und ausgewogenen Proportionen. Es ist in den mächtigen Häusern Markt 3 und 4 manifestiert, die vier identische Renaissancegiebel, einheitliche Stockwerkshöhen und -einteilungen aufweisen. Auch hier liegt einem das Wort vom Palast auf der Zunge.

All dies samt vielen stattlichen Bürgerhäusern mit antikisch bemalten Balkendecken, Vertäfelungen, Gewölben und Fensternischen hat in Torgau überdauert. Alles ist im Sammelband Tilmann von Stockhausens vorzüglich dokumentiert und interpretiert. Im kommenden Jahr wird er Begleitbuch der zweiten Sächsischen Landesausstellung sein, wenn die Stadt sich als einzigartiges historisches Gesamtkunstwerk präsentiert. Dazu, daß Torgau derart auftrumpfen kann, hat die chronische Finanznot der DDR beigetragen, die Abrisse ebenso verhinderte wie massenhaften Ersatz durch Plattenbauten. Doch der wahre Grund, daß dieses Kleinod der deutschen Renaissance so weitgehend unverändert erhalten blieb, ist derselbe, der einst die Schönheit Nürnbergs oder Regensburgs bewahrte: der jähe Verlust an Bedeutung, mit dem eine Bürgerschaft bald außerstande zu weitreichenden Veränderungen war. Für Torgau schlug diese entscheidende Stunde im Jahr 1547, als nach der Schlacht bei Mühlberg Torgau an die Albertiner überging, die ihre glanzvolle Residenz in Dresden nicht aufgeben wollten. Die Stadt wurde Nebenschauplatz und verlor ein gut Teil ihrer kostbaren beweglichen Kunstwerke. Im Jahr 2004 werden sie als Leihgaben noch einmal an ihren Ursprungsort zurückkehren.

DIETER BARTETZKO.

"Torgau - Stadt der Renaissance". Herausgegeben von Tilmann von Stockhausen für die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Redaktionell barbeitet von Cecilie Hollberg unter Mitarbeit von Annemarie von Velsen-Zwerweck. Michel Sandstein Verlag, Dresden 2003. 188 S., Farb- u. S/W-Abb., br., 15,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dieter Bartetzko berichtet viel Wissenswertes über die Kunstschätze und Baudenkmäler, die man in Torgau finden kann und lobt dann, das alles sei in diesem Sammelband von Tilmann von Stockhausen "vorzüglich dokumentiert und interpretiert". Der "Prachtband" wird, so erfährt man außerdem, Begleitbuch der zweiten Sächsischen Landesausstellung im nächsten Jahr sein, in deren Zusammenhang sich Torgau als einzigartiges historisches Gesamtkunstwerk präsentieren wird. Unter den in Torgau versammelten und hier kommentierten Baudenkmälern hebt der Rezensent unter anderem das "in Deutschland einmalige" Ensemble von Rathaus und Kirche in Torgau hervor, wo nämlich die Kirche von Flügelbauten des Rathauskomplexes, eines Renaissancepalastes umschlossen ist, der dem Torgauer Schloss Hartenfels ebenbürtig ist. Außerdem hebt der Rezensent das besondere Ineinander von Renaissance- und Reformationsstilen hervor, das man in Torgau, wie zum Beispiel auch in Wittenberg, Eisenach, Grimma und Eisleben, studieren könne.

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