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Am 28. und 29. Oktober 1938 sind im Rahmen der sog. "Polenaktion" etwa 17.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit über Nacht aus dem Dritten Reich ausgewiesen worden - ein bisheriger Höhepunkt der Diskriminierungsmaßnahmen des NS-Regimes gegenüber den Juden. Unter den Deportierten befanden sich auch die Eltern Herschel Grynszpans, dessen Anschlag auf den Botschaftssekretär vom Rath in Paris als Vorwand für die sog. "Reichskristallnacht"-Pogrome am 9. und 10. November 1938 diente. Vor dem Hintergrund der polnischen Innenpolitik wie der deutsch-polnischen Beziehungen und der internationalen…mehr

Produktbeschreibung
Am 28. und 29. Oktober 1938 sind im Rahmen der sog. "Polenaktion" etwa 17.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit über Nacht aus dem Dritten Reich ausgewiesen worden - ein bisheriger Höhepunkt der Diskriminierungsmaßnahmen des NS-Regimes gegenüber den Juden. Unter den Deportierten befanden sich auch die Eltern Herschel Grynszpans, dessen Anschlag auf den Botschaftssekretär vom Rath in Paris als Vorwand für die sog. "Reichskristallnacht"-Pogrome am 9. und 10. November 1938 diente. Vor dem Hintergrund der polnischen Innenpolitik wie der deutsch-polnischen Beziehungen und der internationalen Zusammenhänge behandelt der Autor detailliert die Genese und den Verlauf der Ausweisungsaktion, die Aufnahme der Deportierten in Polen sowie die Reaktionen auf diese Ereignisse in Polen wie im Ausland. Ein Großteil der Deportierten sammelte sich in dem damaligen Grenzort Bentschen/Zbaszyn; die dortigen Lebensumstände bilden einen weiteren Schwerpunkt des Buches. Der Verfasser hat Archive in Polen, Israel, den USA und Großbritannien sowie Zeitzeugenberichte und die polnische wie internationale Presse ausgewertet.
Autorenporträt
Jerzy Tomaszewski (1930-2014) war Professor für Geschichte Ostmitteleuropas im 20. Jh., Neueste Geschichte sowie die Geschichte der Juden an der Universität Warschau. Seine Forschungsschwerpunkte waren Minderheitenfragen, insbesondere die Geschichte der Juden in Polen, und die polnische Wirtschaftsgeschichte. Er leitete u. a. das Warschauer Mordechaj Anielewicz-Forschungszentrum für Geschichte und Kultur der Juden in Polen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2003

Grynszpans Eltern
Wie das "Dritte Reich" 1938 polnische Juden vertrieb

Jerzy Tomaszewski: Auftakt zur Vernichtung. Die Vertreibung polnischer Juden aus Deutschland im Jahre 1938. Aus dem Polnischen von Victoria Pollmann. Fibre Verlag, Osnabrück 2002. 331 Seiten, 24,50 [Euro].

Auf Initiative der polnischen Regierung beschloß das Parlament in Warschau Ende März 1938 ein Gesetz, das die Aberkennung der polnischen Staatsbürgerschaft für jene Bürger ermöglichte, die "sich ununterbrochen mindestens fünf Jahre nach Entstehung des polnischen Staates im Ausland aufgehalten und dadurch die Verbindung zum polnischen Staat verloren" haben. Was Verlust der "Verbindung zum polnischen Staat" konkret bedeutete, war dem Gesetz nicht zu entnehmen. So verschwommen diese Bestimmung erschien, so folgenschwer war sie für die im Ausland lebenden Juden polnischer Nationalität.

Anlaß für das im Eilverfahren verabschiedete Gesetz war die Annexion Österreichs durch das "Dritte Reich" am 13. März 1938. Die polnische Regierung befürchtete, daß etwa 20000 größtenteils verarmte Juden nach Polen zurückkehren würden, um der drohenden Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Die in Warschau gehegten Hoffnungen, daß niemand in Berlin die tatsächliche Zielsetzung des Gesetzes durchschauen würde, erwiesen sich jedoch als Trugschluß. Das Auswärtige Amt erkannte sehr schnell, daß die polnische Regierung die Rückkehr der Juden in ihr Land verhindern wollte. Bereits im Mai 1938 ließ die deutsche Botschaft in Warschau das polnische Außenministerium wissen, daß der Besitz eines polnischen Passes hinreichender Beweis sei für die Bindung an den polnischen Staat. Deshalb dürfe "für alle Inhaber eines polnischen Passes das Entziehen der Staatsbürgerschaft auf der Grundlage des neuen Gesetzes nicht in Anwendung kommen".

Auf der Basis vornehmlich polnischer Quellen kann Jerzy Tomaszewski schlüssig nachweisen, daß das polnische Gesetz eine einseitige Aufkündigung verschiedener Bestimmungen der Friedensverträge von 1919 mit Deutschland und Österreich bedeutete. Unbeeindruckt von deutschen Gegenmaßnahmen, die unter anderem in einer Polizeiverordnung vom 22. August 1938 das Erlöschen der Aufenthaltsberechtigung im Reichsgebiet vorsahen, "wenn der Ausländer seine Staatsangehörigkeit wechselt oder verliert", verfügte das polnische Innenministerium Mitte Oktober 1938, daß jeder polnische Bürger, der sich außerhalb des Landes aufhalte, seinen Paß zur Registrierung bei dem für ihn zuständigen Konsulat vorlegen und darin einen Kontrollvermerk eintragen lassen müsse. Pässe, die diesen Vermerk nicht enthielten, verloren nach dem 29. Oktober ihre Gültigkeit und berechtigten nicht mehr zum Grenzübertritt nach Polen. Die überaus kurzfristige Terminierung sollte den weiteren Zustrom polnischer Juden aus Deutschland verhindern. Tomaszewski kommt zu dem Schluß, daß "der Verfasser dieses unglückseligen Erlasses im Innenministerium saß und sein einziges Ziel darin bestand, die Rückkehr von Menschen zu verhindern, die über keine Mittel zum Lebensunterhalt verfügten". Niemand habe sich über die internationalen Folgen dieser Entscheidung Gedanken gemacht.

Am 26. Oktober 1938 wies das Auswärtige Amt seinen Botschafter in Warschau an, im polnischen Außenministerium ein Aide-mémoire zu überreichen, das auf ein Ultimatum hinauslief. Demnach sollten die in Deutschland befindlichen Juden polnischer Staatsangehörigkeit "vorsorglich sofort mit kürzester Frist aus dem Reich verwiesen werden". Die deutsche Regierung würde von Ausweisungen nur absehen können, wenn polnischerseits von der Verordnung vom 6. Oktober Abstand genommen oder eine bindende Erklärung abgegeben würde, daß Polen sich auch zur Übernahme von Inhabern polnischer Pässe ohne den Kontrollvermerk verpflichte.

Als Warschau auf diese ultimative Forderungen nicht einging, wurden am 28./29. Oktober 1938 etwa 17000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit von den deutschen Exekutivbehörden ausgewiesen und an die polnische Grenze deportiert. Unter den Deportierten befanden sich auch die Eltern und Geschwister von Herschel Grynszpan, der 1938 illegal in Paris lebte. Sein aus politischen und persönlichen Umständen motiviertes Revolverattentat auf den Legationssekretär Ernst vom Rath am 7. November in der deutschen Botschaft in Paris, dem der deutsche Diplomat erlag, benutzten die Nationalsozialisten als Vorwand zu den reichsweiten Pogromen am 9. und 10. November 1938.

Dem Autor ist es gelungen, Genese und Verlauf der Ausweisungsaktion sowie die Aufnahme der nach Polen deportierten Juden detailliert und kritisch zu analysieren. Gleichwohl bleibt die komplementäre Berücksichtigung der in deutschen Archiven überlieferten Aktenbestände bei einer Neuauflage des Buches wünschenswert.

HANS-JÜRGEN DÖSCHER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.02.2003

Rasch, rasch über die Grenze
Die Nazis vertrieben polnische Juden aus dem Reich zurück nach Osten – wo sie sie wenig später ermordeten
JERZY TOMASZEWSKI: Auftakt zur Vernichtung. Die Vertreibung polnischer Juden aus Deutschland im Jahre 1938, Fibre-Verlag, Osnabrück 2002. 331 Seiten, 24,50 Euro.
Es war eine von langer Hand vorbereitete Aktion: Ende Oktober 1938 schoben die deutschen Behörden innerhalb von drei Tagen insgesamt 17000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus dem gesamten Reichsgebiet über die Ostgrenze ab. Die Vertriebenen hatten meist nur wenige Minuten Zeit bekommen, ihre Sachen zusammenzupacken. Die „Polen-Aktion”, wie die Nazi-Behörden die Deportation intern nannten, wurde indes von den internationalen Medien kaum beachtet. Wenige Tage später wurden nämlich in der „Reichskristallnacht” Synagogen angezündet und die Geschäfte jüdischer Besitzer zerstört. Auch beschäftigte sich die Presse mit den neuen Begrenzungen, welche die britische Regierung für jüdische Einwanderer nach Palästina verfügte.
Der international renommierte Historiker Jerzy Tomaszewski, der das „Mordechaj-Anielewicz-Forschungszentrum für Geschichte und Kultur der Juden” in Polen leitet, hat nach der Auswertung von Akten und Augenzeugenberichten nun eine mustergültige Studie dazu vorgelegt. Erschienen ist sie in der noch jungen Serie „Clio in Polen”, herausgegeben vom Deutschen Historischen Institut in Warschau, das in den wenigen Jahren seiner Existenz bereits zu einer wichtigen Instanz im deutsch-polnischen Dialog und Diskurs geworden ist.
Die „Polen-Aktion” vom Oktober 1938 war ein dunkler Fleck nicht nur in der deutschen, sondern auch in der polnischen Geschichte: Die Deutschen wollten die polnischen Juden nicht länger dulden, die Regierung in Warschau aber wollte sie überhaupt nicht aufnehmen. Die Mitte der dreißiger Jahre in Polen an die Macht gekommenen Nationaldemokraten betrieben gegenüber den Juden im Lande zunehmend eine Politik, die diese in die Emigration treiben sollte: Ihnen wurde der Aufstieg in den Behörden verwehrt, in den Universitäten wurden die „Judenbänke” eingeführt. Namentlich im Osten des Landes kam es immer häufiger zu Übergriffen nationalistischer Gruppen auf jüdische Mitbürger. Premierminister Felicjan Slawoj-Skladkowski erklärte dazu: „Juden schlagen – nein! Sie boykottieren – bitte ja!” Auch der Primas der katholischen Kirche, Kardinal August Hlond, empfahl den Gläubigen, nicht bei Juden zu kaufen, bezeichnete es aber als Sünde, sie anzugreifen und ihre Geschäfte zu demolieren.
Gleichzeitig hatte die Regierung in Warschau mit einer Wirtschaftskrise zu kämpfen, für die nationalistische Kreise das „internationale Judentum” verantwortlich machten. Als die polnische Botschaft in Berlin berichtete, dass die deutschen Behörden offenbar die Abschiebung der polnischen Juden planten, beschloss die Regierung, deren Immigration zu blockieren. Ihnen sollte schlicht die Staatsbürgerschaft aberkannt werden.
Ab ins Niemandsland
Die meisten betroffenen Familien lebten seit Jahrzehnten im Deutschen Reich, die polnische Staatsangehörigkeit war weitervererbt worden, doch sprach ein Großteil von ihnen kein Polnisch mehr. Das Fehlen kultureller Beziehungen zu Polen lieferte das Argument für die Regierung in Warschau, ihre Pässe für ungültig zu erklären.
Doch die Nazi-Behörden erfuhren von diesen Plänen und reagierten schnell mit der „Polen-Aktion”. Die polnischen Konsulate wurden von der Initiative völlig überrascht. Auch die Diplomaten, die sich verpflichtet fühlten, den polnischen Staatsbürgern Schutz zu gewähren, konnten nicht verhindern, dass diese faktisch enteignet wurden. Der Leipziger Generalkonsul Feliks Chiczewski gewährte mehreren hundert Juden sogar Unterschlupf, um sie vor Übergriffen der Nazi-Schlägertrupps zu schützen. Doch letztlich konnte er ihre Abschiebung nicht verhindern.
Überfordert waren auch die polnischen Grenzer. Sie erhielten zunächst keine Anweisungen, wie sie sich verhalten sollten. Etliche Grenzposten wurden geschlossen, so dass ein Teil der Vertriebenen mehrere Tage bei Regen und Wind im Niemandsland ausharren musste. Die Abschiebung bedeutete indes keineswegs die Rettung vor dem Nazi-Terror. Zehn Monate später marschierte die Wehrmacht in Polen ein. Die planmäßige Ermordung der Juden begann, und die meisten Betroffenen der „Polen-Aktion” überlebten den deutschen Besatzungsterror nicht.
THOMAS URBAN
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Höchstes Lob findet Rezensent Thomas Urban für Jerzy Tomaszewskis Studie zur Vertreibung der polnischen Juden aus Deutschland im Jahr 1938. "Mustergültig" findet er die Arbeit des polnischen Historikers und lange überfällig. Denn dieses Kapitel sei nicht nur in der deutschen, sondern auch in der polnischen Geschichte ein dunkler Fleck. Ende Oktober 1938 schoben die deutschen Behörden innerhalb von drei Tagen insgesamt 17.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit über die Grenze nach Osten ab. Doch Polen, dessen Regierung selbst eine zunehmend aggressive antisemitische Politik betrieb, wollte seine jüdischen Staatsbürger nicht zurückhaben - und versuchte vergeblich, die Abschiebung dadurch zu verhindern, dass es ihre Pässe kurzerhand für ungültig erklärte.

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