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Zwei Bücher, ein Leben dies ist gewiss eines der ungewöhnlichsten Selbstzeugnisse der europäischen Literatur der letzten Jahrzehnte: Peer Hultberg, einer der großen Menschenerzähler Dänemarks, hat in zwei nahezu gleichzeitig entstandenen Büchern versucht, seiner Existenz auf den Grund zu gehen, um herauszufinden, woher er kam und wie er wurde, der er war. Das eine ist eine Selbstbiografie, die so gar nicht als der stolze Bericht über Geleistetes daherkommt, sondern gedacht und geschrieben ist als ein präzises und unerbittliches Selbstgespräch. Das adoptierte Kind gutbürgerlicher Eltern, der…mehr

Produktbeschreibung
Zwei Bücher, ein Leben dies ist gewiss eines der ungewöhnlichsten Selbstzeugnisse der europäischen Literatur der letzten Jahrzehnte: Peer Hultberg, einer der großen Menschenerzähler Dänemarks, hat in zwei nahezu gleichzeitig entstandenen Büchern versucht, seiner Existenz auf den Grund zu gehen, um herauszufinden, woher er kam und wie er wurde, der er war. Das eine ist eine Selbstbiografie, die so gar nicht als der stolze Bericht über Geleistetes daherkommt, sondern gedacht und geschrieben ist als ein präzises und unerbittliches Selbstgespräch. Das adoptierte Kind gutbürgerlicher Eltern, der gute Schüler mit seinen rätselhaften Einsamkeitsgefühlen, der Heranwachsende, der seinen Körper zu begreifen versucht und merkt, dass er sich sexuell anders orientiert, als die Eltern es wollen müssen. Das zweite Buch ist ein Brief an die Mutter, der begonnen wurde auf dem Rückweg von ihrer Beerdigung. Für eine Abrechnung scheint es noch zu früh, aber die Mutter-Sohn-Konventionen lösen sich bereits auf. Zwischen der Strenge des Urteils, dem Wunsch, nicht zu verletzen, und der Notwendigkeit, es doch zu tun, und sei es sich selbst, bewegt sich dieser Brief an die tote Mutter.
Autorenporträt
Peer Hultberg, geboren 1935 in Kopenhagen, Dänemark, gestorben 2007. 1993 erhielt er den Nordischen Literaturpreis, 2001 den Hubert-Fichte-Literaturpreis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2010

Wie irritierend ist es, dass du tot bist

Requiem aus dem Grab: Peer Hultberg erzählt in seinem posthum erschienenen Doppel-Werk meisterlich von der Suche nach einem verschütteten Leben.

Von Heinrich Detering

Davon hat niemand gewusst: Jahrelang hat der Schriftsteller Peer Hultberg an einem Erinnerungsbuch geschrieben, und niemand, nicht einmal sein Lebenspartner, ahnte, dass da in heimlicher Arbeit ein Riesenwerk entstand. Denn riesenhaft ist das Ergebnis wahrhaftig: Mehr als fünfhundertzwanzig Seiten umfasst der eine Band, immerhin noch hundertzehn Seiten der zweite. Und doch ist schon die Rede von zwei Bänden missverständlich. Beide Bücher folgen nicht auf-, sondern stehen vielmehr nebeneinander, bezogen auf denselben Stoff, aber gerichtet an zwei unterschiedliche Adressaten. Denn während Hultberg sich daranmachte, die Geschichte seines Lebens zu erzählen, die zur Geschichte einer Kindheit und Jugend wurde, mit Ausblicken und Zeitsprüngen, starb seine Mutter. Kurz nach der Beisetzung begann er mit der Arbeit an einem zweiten parallelen Text: einem Brief an die Tote. Es sind dieselben Erinnerungen, um die beide Manuskripte kreisen, in ganz unterschiedlichen Tönen und Perspektiven.

2009, zwei Jahre nach Hultbergs Tod, wurde dieses in seiner Weise singuläre Werk einem wenig respektvollen, aber ziemlich erschütterten Dänemark präsentiert. Schon seine bloße Existenz ist überraschend. War nicht gerade Peer Hultberg der Meister der Mimikry gewesen, der Virtuose der Rollenspiele und der Camouflage? Hatte seine Kunst nicht gerade darin bestanden, in seinen Büchern Hunderte von Figuren, Lebende und Tote, gleichberechtigt reden zu lassen, jeden in seiner Art? Seine monumentalen Hauptwerke "Requiem" und "Die Stadt und die Welt", aber auch seine kleineren Prosawerke, hatten sich addiert aus lauter kleinen Monologen und Zeitraffer-Geschichten. Da murmelten und flüsterten die lebenden Toten, die unerkannt durch unsere Metropolen eilen; da waren schattenhafte Gestalten, die doch alle aussahen wie gute Bekannte, unterwegs in einem aus Kino- und Reisebildern collagierten Amerika; da plapperte das gierig-eilfertige Dauergeschwätz der gegenseitigen Nachrede, das buchstäblich "die Stadt und die Welt" als unendlich bösartiges Stimmengewirr erfüllte, aus den hundert Mündern der schon bei Lebzeiten abgestorbenen Nachbarn und Kollegen. "Die Stadt": Das hätte überall sein können, und es war doch immer wieder jenes ansehnlich-behäbige Städtchen Viborg, in dem Hultberg als Adoptivkind bei gutbürgerlichen Eltern aufwuchs, die ruhmreiche Kathedralschule besuchte und erfuhr, was es heißt, in der Provinz eines auf seine Toleranz stolzen Landes seine Homosexualität zu entdecken. Nichts davon hat Hultberg später, als er zu einem Schriftsteller europäischen Ranges geworden war, als er längst schon in Hamburg lebte und als seine Bücher internationale Auszeichnungen erhielten, jemals verheimlicht. Und dennoch war er auf strikte Diskretion bedacht, weil er befürchtete, diese Bücher könnten von ebenjener Klatschsucht, von der viele ihrer Figuren leben, auf ihre biographischen Voraussetzungen reduziert und damit in ihrem Kunstcharakter verfehlt werden. Das galt auch für den bürgerlichen Beruf, den er - der promovierte Polonist und Übersetzer - nach seiner Rückkehr von einer Universitätsanstellung in England schließlich ausübte. Hätten all seine Leser gewusst, dass dieser Autor als Psychotherapeut arbeitete und dass er sich intensiv mit C. G. Jung befasst hatte, sie hätten die mythischen Muster vermutlich leichter erkannt, in deren Spuren er seine modernen Agamemnons und Klytämnestras gehen ließ. Aber sie hätten sie, das fürchtete er, auch mit dem Hinweis auf die einschlägigen Theorien abgetan, statt in seinen Spiegeln sich selbst zu erkennen.

In seiner Selbstbiographie hat Hultberg seit dem Herbst des Jahres 1987 den genau entgegengesetzten Weg eingeschlagen, in einer wahren Schreib-Eruption. Während der Arbeit an "Die Stadt und die Welt" hat er das Manuskript 1989 wieder aufgenommen und dann liegenlassen; mit tagebuchartig datierten Abschnitten von 1992 und 1998 bricht der Text ab, ein Riesentorso. Die Erinnerung beginnt mit dem Augenblick, in dem der Erzähler als Kleinkind zu seinen Adoptiveltern kommt, und sie reißt ab mit dem Versuch des jungen Mannes, bei diversen Zimmerwirtinnen "a room of one's own" zu finden. Der Schreiber, der so ausdauernd versucht, "Ordnung in die Dinge aus meiner Kindheit und frühen Jugend in Viborg" zu bringen, ist selbst "verblüfft darüber, an wie viel ich mich erinnere". Es sind Figuren und Geschichten, wie nur Hultberg sie erzählen kann. Sie ergeben das manchmal komische, oft beklemmende Porträt einer Bürgerwelt, die eindrucksvoll klarmacht, was "repressive Toleranz" heißen und wie sie sich im Alltag auswirken kann. In dieser aus intimer Kenntnis und unstillbarer Hassliebe erlebten Welt ist der Held gefangen wie Tonio Kröger in Lübeck - und ihr gegenüber gewinnt er im Schreiben eine Freiheit, der er doch niemals ganz trauen kann. Noch auf den letzten Seiten steht da der ungeheure Ausruf eines Schriftstellers, dessen Werk doch zu Dänemark gehört wie Joyces Geschichten zu Dublin: "Ach, wie schön ist es doch, weg von Dänemark zu sein, Dänemark, wie ich dieses Land doch hasse, wie ich es doch bereue, dass ich je aus England zurückgekommen bin, um mich mit einem solchen Land zu solidarisieren. Das ist ja auch der Grund dafür, dass ich nicht mehr schreiben will, ja, genau ,will' . . . Dänemark ist ein Fluch." Wie eine Antwort steht dann, wenige Seiten später, auf dem letzten Blatt die in Klammern gesetzte, gleichsam beiseite gesprochene Bemerkung: "(Oh, wie herrlich, dies schreiben zu können, ohne daran zu denken, Geld verdienen zu müssen, dass es veröffentlicht werden muss, während ich noch lebe.)"

Genau diese Unbekümmertheit macht Hultbergs Doppel-Buch so lesenswert. Hier erzählt ein Schriftsteller, der auf der Suche nach seinem verschütteten Leben allen literarischen Ehrgeiz fahrenlässt und eben damit seine Souveränität erweist. Gerade weil es ihm jetzt weder auf Komposition noch auf Kohärenz ankommt, erzählt er eine so bewegende Geschichte, scharf, genau und rücksichtslos gegenüber sich und anderen. Mit dem distanzierten Blick des Psychologen und der Empathie des geübten Erzählers beobachtet er den jungen Mann, der er selbst einmal gewesen ist und dessen sexuelle Identitätsfindung in kein coming-out-Schema passen will: "Die Dinge sind mehr als latent vorhanden. Sie sind so nah an der Oberfläche, dass von ihnen Gebrauch gemacht werden kann . . . Es fehlt nur noch die endgültige Benennung, durch die sie den abschließenden Sprung in die volle Bewusstheit machen werden . . . Es war natürlich keine Rede von Sexualität, und ich glaube, ich wäre höchst verblüfft gewesen, wenn das Wort genannt worden wäre, aber gerade in diesem halbbewussten Zustand hätte ich wohl verstanden."

So analytisch kühl solche Passagen sich lesen, so hautlos stehen auf einmal Sätze da wie diese: "Meine Einsamkeit in Viborg, als ich elf, zwölf Jahre alt war, war so entsetzlich, dass ich mich ihr beinah nicht nähern kann. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hörte ich auf zu weinen, und ich habe seitdem nie mehr weinen können."

Die Mutter erscheint in dieser Jugendgeschichte oft wie die Personifikation des Stadtgeredes, des common sense und seiner Urteile. Dass sie im schmaleren zweiten Band selbst zur eigentlichen Heldin wird, ist ebenso folgerichtig wie anrührend. Auch hier erspart der Schreiber ihr und sich selbst nichts, und auch hier kommt die Mühe des Verstehenwollens allen Bekundungen von Abscheu und Ablehnung in die Quere. Am Ende des fortgesetzten, aus längeren und kürzeren und wiederum tagebuchartig datierten Abschnitten heranwachsenden Briefes steht die Notiz: "Oh, wie irritierend ist es, dass Du tot bist." Irritierend, in der Tat, so irritierend wie dieses ganze böse und hassliebevolle Requiem, diese Stimme aus Hultbergs Grab, diese Stimme eines lebenden, eines ungemein vitalen Toten.

Peer Hultberg: "Selbstbiografie / Brief". Aus dem Dänischen von Angelika Gundlach. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2010. 2 Bände, zus. 636 S., geb., 36,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Peter Urban-Halle ist entsetzt von der Trostlosigkeit der von Peer Hultberg geschilderten Verhältnisse. Das soll eine Kindheit und Jugend sein? Auch mit dem Hinweis, dass Hultberg hier nicht seine leiblichen Eltern beschreibt, die das adoptierte Heimkind nicht kannte, bleiben die Kälte und die Härte, mit der in diesen autobiografischen Aufzeichnungen aus dem Nachlass des Autors mit der Vergangenheit abgerechnet wird, für den Rezensenten schockierend. Nein, Glück sieht anders aus, da ist sich Urban-Halle sicher. Dass aus Hultberg kein humoristischer Schriftsteller werden konnte, leuchtet ihm ein, ebenso der Ursprung mancher bislang dunklen Textpassage aus Hultbergs Werk. Bei allen vermuteten Übertreibungen bleibt dieses Buch gerade auch in dieser uns überlieferten unbearbeiteten Fassung für den Rezensenten ein eindrückliches Dokument einer seelischen Katharsis.

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