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Es ist lange kein Buch wie dieses erschienen. Keines, das diese Fülle, diese Aufmerksamkeit, Gewissenhaftigkeit und zugleich Beschwingtheit hätte, diesen Ernst und diese Offenheit. Und keines von solcher Sprachmacht. Es enthält die Notizen, die Peter Handke sich gemacht hat, "ohne festen Wohnsitz, in der hier memorierten und evozierten Zeit, vom November 1987 bis zum Wieder-Seßhaftwerden im Juli 1990". Er selber nennt es "die letzte Phase meines Mit-Schreibens mit den täglichen und nächtlichen Geschehnissen". Es war ein Reisen, das ganz sich selbst überlassen war, ein Unterwegssein, dessen…mehr

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Produktbeschreibung
Es ist lange kein Buch wie dieses erschienen. Keines, das diese Fülle, diese Aufmerksamkeit, Gewissenhaftigkeit und zugleich Beschwingtheit hätte, diesen Ernst und diese Offenheit. Und keines von solcher Sprachmacht.
Es enthält die Notizen, die Peter Handke sich gemacht hat, "ohne festen Wohnsitz, in der hier memorierten und evozierten Zeit, vom November 1987 bis zum Wieder-Seßhaftwerden im Juli 1990". Er selber nennt es "die letzte Phase meines Mit-Schreibens mit den täglichen und nächtlichen Geschehnissen".
Es war ein Reisen, das ganz sich selbst überlassen war, ein Unterwegssein, dessen Ziel immer weit vor dem Reisenden lag und doch in jedem Augenblick erreichbar war. Es führte durch Jugoslawien, nach Griechenland, nach Ägypten, quer durch Europa, nach Japan und immer wieder in den slowenischen Karst. Aus den Augenblicken wurden Tage, Wochen, Monate und Jahre - Zeit, in der Räume durchquert wurden, die ebenso außen wie innen liegen.
Autorenporträt
Peter Handke, geboren 1942 in Griffen, Kärnten, lebt in der Nähe von Paris. Zuletzt erschienen: 'Untertagblues. Ein Stationendrama', 2003, und 'Don Juan (von ihm selbst erzählt)', 2004.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.08.2005

Luft, Wasser und Herzschlag
Weltvertrauen, Bücherrucksack: „Gestern unterwegs” - Peter Handkes Reise-Aufzeichnungen von November 1987 bis Juli 1990
Im November 1987 notiert Peter Handke beim Gang über einen Friedhof bei Klagenfurt die Grabinschriften aus dem 19. Jahrhundert, „zum Abschied aus Österreich”, wie er schreibt: „,Hier ruhet einsam Valentin Ratschnig. . . in der finsteren Todtenhülle, beweint von den Verlasenen‘”. Tags darauf ist Handke dann schon jenseits der Grenze, in Jesenice - erste Station auf einer fast drei Jahre dauernden Wanderschaft, die ihn unter anderem nach Griechenland, Ägypten, Alaska, Japan, Schottland, Portugal, Belgien, Holland, Frankreich, Deutschland und immer wieder nach Zentralspanien und in den slowenisch-friaulischen Karst führen wird.
Zu Fuß, im Bus, Zug und Flugzeug bewegt sich Handke kreuz und quer durch die Welt, in einem Zustand, der die Freiheit des Schweifens mit einem Exerzitium der Aufmerksamkeit vereint. Wie in den Jahren zuvor führt er ein Notizbuch, das nun als vorläufig letzter Band seiner Aufzeichnungen vorliegt. „Gestern unterwegs” ist, nicht nur weil es fast immer unter freiem Himmel „spielt”, eines der weltzugewandtesten und - um eines seiner Lieblingswörter zu benutzen - „luftigsten” Handke-Bücher, ein Buch, das man nicht auslesen kann, sondern immer wieder zur Hand nehmen möchte, um mit ihm die Wirklichkeit vielfältiger, unterschiedener und deutlicher zu sehen als sonst.
Sonnenscheindauer der DDR
Mit den Notizen von „Gestern unterwegs”, so Handke in der Vorrede an den „lieben Leser”, sei die Phase seines „Mit-Schreibens mit den täglichen und nächtlichen Geschehnissen” beendet gewesen. „Gestern unterwegs” ist Handkes fünftes Journalbuch seit dem „Gewicht der Welt” von 1977, und jedes Mal ist dabei der Zeitraum zwischen Niederschrift und Veröffentlichung größer geworden. Zwischen dem letzten Eintrag in „Gestern unterwegs” und der Publikation dieser Aufzeichnungen liegen fünfzehn Jahre. Handkes jüngstes Buch ist entstanden, als Jesenice noch in Jugoslawien lag. Der Krieg auf dem Balkan hat noch nicht stattgefunden; nur hier und da, wenn beiläufig von Unruhen im Kosovo die Rede ist, ahnt man etwas von den Erschütterungen des kommenden Jahrzehnts. Vom politischen Handke, dem publizistischen Partisanen, der Gerechtigkeit für Serbien fordert, ist hier noch nichts zu sehen und zu lesen. Die Jahre 1987 bis 1990 sind, so wie Handke sie überliefert, eine friedliche Zeit.
Das liegt weniger am Charakter der Zeit als am Charakter von Handkes Schreiben. Politik, Nachrichtenstoff, überhaupt Mitteilungen aus zweiter Hand, bleiben hier wie sonst in seinem Werk ausgespart - obschon Handke auch auf Wanderschaft häufig in die von ihm verfluchten Zeitungen zu schauen und über die Weltlage bestens orientiert scheint. Nur ist die Weltlage kein geeigneter Gegenstand für ein Schreiben, das mit jedem Satz von der Empirie des eigenen Leibes ausgeht.
Einmal fragt sich Handke: „Aus der Luft und dem Wasser, woraus ich bestehe, habe ich mithilfe des Herzschlags und des Bedenkens doch schon dies und das gemacht?” Erst durch Herzschlag und Bedenken erhält das leibliche Dasein einen Rhythmus und einen Gegenstand. Insgeheim sind Handkes Notizen jener Jahre doch am Puls der Zeit, einer verborgenen, aber dennoch allgemeinen Zeit, die der Leser, sofern sie ihn angeht, auch als die eigene begreifen kann. Auch am 9. November 1989 hat Handke etwas aufgeschrieben, und zwar Folgendes: „,Zum ersten Mal seit dem 31. Dezember 1970 wird seit dem gestrigen 8. November wieder die Sonnenscheindauer der DDR regelmäßig verbreitet‘”.
Der Titel „Gestern unterwegs” hat eine temporale Pointe. Mit dem neuen Notizbuch sei, schreibt Handke, der„Übergang oder die Übergänge vom puren Mit-Schreiben (...) zum nachträglichen, leicht zeitversetzten Notieren” bezeichnet. Nicht mehr die schriftlichen Reflexe auf soeben Geschehenes, wie etwa im „Gewicht der Welt”, sondern die Aufzeichnung dessen, was gestern geschah. „Gestern”, so beginnen viele dieser Notizen, „Gestern der Hubschrauber an den Klippen, lange verharrend über der Brandung...” oder „Gestern, unterwegs nach Nikko, die schmalen, jeweils auch gar kurzen Feldwege hoch auf den Böschungen der Reisfelder. . . ”.
Was gestern unterwegs geschah und wichtig war auf Handkes Bedächtigkeits-Parcours, hat Eingang gefunden in seine Notizbücher; alles Übrige nicht. Denn Handke ist, nach einer treffenden Unterscheidung des Philosophen Peter Strasser, kein „mimetischer”, sondern ein „projektiver” Schriftsteller. Der projektive Schriftsteller versetzt sich nicht in Andere hinein, sondern Andere in sich selbst. Zu dieser Handke-typischen Gestimmtheit gehört, dass sie in Bezug auf das Schriftsteller-Ich zwar mitteilsam, hinsichtlich der Person Peter Handke hingegen ziemlich schweigsam ist.
Es herrscht in diesem Buch wie in anderen Handke-Journalen eine Informationsregie, die manches überscharf beleuchtet, anderes gewollt im Dunkeln lässt. Die Poetisierung des Alltags kann nur dann gelingen, wenn die nicht poesie-, das heißt verwandlungsfähigen Themen und Gegenstände ausgeschieden werden.
„Gestern, als es noch nicht regnete, bei trockenem Asphalt, landete neben einem liegenden Platanenblatt ein Spatz, und das Blatt flog davon kurz auf; als ein anderer Spatz landete, rollte von ihm ein Steinchen hin auf das Blatt”, hält Handke irgendwo in Slowenien fest. Aus solchen wie entrückten, hypersubtilen Wahrnehmungen des Kleinen und Kleinsten, in denen sich Unscheinbares zu einer Art Handlung, ja bisweilen zu (Spatzen-)„Epopöen” fügt, ist Handkes Literatur seit jeher gemacht; von Menschen dagegen wird oft nicht mehr geboten als „Silhouetten und ferne Umrisse”.
Es gehört zu Handkes Versuchssituation, dass er Distanz zu den Mitmenschen hält, und es gehört zur Stimmung seines Schreibens, dass es die mittlere Realität, die Themenwelt der Gegenwartsliteratur ignoriert oder allenfalls spöttisch streift.
Wenn einmal technische Geräte oder Medien ins Bild treten, dann sind auch sie wundersam verzaubert. Im Hotelfernseher läuft wie zufällig John Fords „The Searchers”, und die Jukebox spielt ausgerechnet „Rainy Day Women” von Bob Dylan. In einem literarischen Projekt, das wie Handkes auf eine Befreundung mit der Welt zielt, muss auch die Welt mitspielen und diejenigen Dinge bereit halten, mit denen sich Freundschaft schließen lässt. Wenn sie sich nicht von selbst zeigen, muss die verwandlungswillige und -fähige Phantasie des Schriftstellers mitunter helfend hinzutreten.
Eine Freudenlehre, eine Weltvertrauensübung, so etwa könnte man die leitende Idee hinter Handkes inständigem Tagwerk umschreiben. Es ist ein asketisches, mönchisches Ideal, das hinter dieser Praxis hervor scheint, ganz wie es die beiden Klosterbrüder auf dem Buchtitel verkörpern, wenn sie, zeigend der eine, wie fragend der andere, in ihren hellen Kutten vor dem Schatten eines Kreuzes dahin schreiten. „. . . und jetzt sitze ich bald schon zwei Stunden im jardinillo von Alcázar, ganz hinten, beim letzten Baum, und spüre mich immer reiner werden (wie vor vierzehn Monaten am Vormittag am Square des Batignolles), allein vom Sitzen, Schauen, Bedenken, Zurück- und Vordenken - Freudigkeit, Stille, Durchlässigkeit, Schwäche - wie es mein Ideal ist -”, schreibt Handke im März 1989 in sein Journal.
Solche Notizen finden sich häufig in „Gestern unterwegs”: Der Autor hat seine Arbeitsposition eingenommen, und lässt die Wirklichkeit zu sich kommen; und wenn er nur lange genug nichts tut, nimmt diese die Einladung an und es geschieht ein weltliches Wunder. Wie gereinigt erscheint dann der Alltag und das Schreiben als ein Inbegriff von körperlicher und seelischer Gesundheit, eine durch geduldige Einversenkung erzeugte Übereinstimmung mit der Welt ringsum, wie sie vielleicht so intensiv nur jemand empfinden kann, der ihr Gegenteil kennt. Oft enden Handkes Eintragungen mit einer Nachbemerkung wie „mein Ideal”, die das Erlebte bekräftigen und als Lebenslehre verewigen soll. Weil diese Lehre im Kern auf eine Feier des Vorhandenen hinausläuft, kann sie hier und da fast klingen wie ein Schlagertext: „Möwen im Himmelblau, Glanz eines Frauenhaars”, heißt es einmal, aber dann, ganz anders als im Schlager und eher wie in einem Psalm: „- weiter mit deinen Erscheinungen, Lebenswelt, Gott schütze euch, unbekannt-bekannte Passanten”.
Zwei Jahre und neun Monate ist der Schriftsteller durch die Welt gezogen, mit Büchern (von Theophrast bis Ilse Aichinger) in beiden Jackentaschen, mit Tschechow und Wittgenstein, Hölderlin und Machado als Reisebegleitern, mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken, romanische Kirchenfresken und Altarbilder studierend, arbeitend und müßig gehend, lesend, forschend, mit Wenigen im Gespräch und auf vertraulichem Fuß, wie es scheint, nur mit namenlosen Geliebten. Unterwegs entstehen Bücher wie der „Versuch über die Müdigkeit” und der „Versuch über die Jukebox”, und beim Gehen werden Gedanken gesammelt für ein Buch namens „Der Bildverlust” (woraus am Ende dann zwei Bücher werden, nämlich „Mein Jahr in der Niemandsbucht” und eben „Der Bildverlust”).
Tranchiermesser und Bildverlust
„Was mir für den ‚Bildverlust‘ vorschwebt: Prosa des vollkommen Faktischen - dieses Faktische aber soll ebenso vollkommen, gereinigt und gelichtet sein durch ‚das Vorwaltende des oberen Leitenden‘ (wie Goethe einst das Wirken des Geistes umschrieb) - dieses soll in den faktischen Sätzen nach-, mit-, vorzittern”, schreibt er einmal und ein andermal will er sich „das Tranchiermesser des Bilderdenkens durch das geredeverwucherte Gehirn schieben”.
Noch ein andermal will er mit seiner Sprache „Tranchieren, zum Ursprünglichen hin”. Das Bilderdenken ist Handkes Heilmittel gegen die von ihm beargwöhnte Fach- und Begriffssprache der Philosophie. „,Meine Welt ist erschöpft‘ (so etwa der Anfang des ‚Bildverlusts‘)”, schreibt er, und überhaupt fallen ihm unablässig Anfangssätze, Schlusssätze und selten einmal, wie er belustigt anmerkt, Sätze für den Mittelteil ein - wie ja auch das vorliegende Buch ein Buch der Ansätze und der Anfangssätze ist und keines der erzählerischen Durchführung.
Ein Mangel ist das nicht. Man kann mit Handkes Tagebüchern womöglich glücklicher werden als mit seinen großen Romanen, denn die „Prosa des vollkommen Faktischen” gelingt eher in Protokollformen als in episch breiten Erzählungen. Auch Handke selbst fragt sich einmal: „Könnte der sogenannte ‚Geist der Erzählung‘ nicht auch eine Art Dämon sein, ein Ausdruck der Angst vor dem Einzelnen, Unzusammenhängenden, Fragmentarischen?” In Fragment-Büchern wie „Gestern unterwegs” ist jedenfalls die ganze Kunst des Schriftstellers Peter Handke enthalten.
CHRISTOPH BARTMANN
PETER HANDKE: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2005. 554 Seiten, 25 Euro.
„Und jetzt, da die Geschichte als das große Märchen der Welt, der Menschheit, dem Anschein nach Tag für Tag weiterging, sich weitererzählte, fortzauberte . . ., wollte er sich versuchen an einem so weltfremden Gegenstand wie der Jukebox, einer Sache für ,Weltflüchtlinge‘, wie er sich jetzt sagte.” Peter Handke in seinem „Versuch über die Jukebox”(1990).
Fotos: Isolde Ohlbaum, f1 online
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2005

Spähender Faun
Peter Handkes Wanderjahre: Das Journal "Gestern unterwegs"

Weihnachten 1987 notierte Peter Handke: "Würde ich eine Statue schaffen wollen, dann die des über die Schulter Blickenden." Der spähende Rückblick wird ihm zum ästhetischen Ideal - als Künstler wie als Beobachter. Diese Rollen sind auch gar nicht zu trennen, denn: "Nicht ich mache mir ein Bild, es zeigt sich (mir)." Was Handke sieht, ist geoffenbarte Welt, durchaus auch im theologischen Sinne. Doch erst der Zugriff im Rückblick fixiert das jeweilige Bild. So beginnen zahlreiche Notate der Jahre 1987 bis 1990 mit der lapidaren Bemerkung "Gestern:" - um dann das durch den Schlaf ruhiggestellte, vom Traum angereicherte und vom Erwachen gefilterte Erlebnis in Worte zu fassen.

"Mit-Schreiben" hat Handke das Verfahren bei seinen bisherigen vier Aufzeichnungssammlungen genannt, doch im November 1987, nach einem tiefen privaten Einschnitt, wandelte sich seine Konzeption von solcher Mit- zur Nach-Schrift. Fünfzehn Jahre nach Abschluß dieser Phase, die er selbst bis zum Juli 1990 datiert ("Danach fand und findet im übrigen kaum mehr ein Mit-Schreiben im Sinn der früheren Journale statt", heißt es im Vorwort), hat er nun die Notizen jener zweieinhalb Jahre publiziert: aus den damaligen Journalen "kopiert", also nicht bearbeitet; nur etliche Lektürefrüchte und Kunstwerkbeschreibungen sollen entfallen sein. Der Titel des fünften Aufzeichnungsbuchs ist gleichsam programmatisch: "Gestern unterwegs".

Dessen Texte entstanden in einer biographisch unruhigen Zeit, ehe der österreichische Schriftsteller ein neues dauerhaftes Domizil in Frankreich fand. Seine allein für das Jahr 1988 aus den Notizen rekonstruierbaren Reisen führten ihn in vierzehn Länder: nach Griechenland, Ägypten, Frankreich, Belgien, Holland, Japan, Alaska, Großbritannien, Portugal, Spanien, Österreich, Italien, Jugoslawien und Deutschland. Handke, der große Fürsprecher der Bedächtigkeit und der Verwurzelung, war von Unrast getrieben und über weite Strecken zu Fuß unterwegs. Das Gehen erschloß sich als die ihm gemäße Form der Wirklichkeitswahrnehmung. "Eines weiß ich: Die Welt im Gehen, Schauen, Bedenken, Betrachten, Weitergehen stellt sich anders dar als die Welt in den Zeitungen."

Mit dieser italienischen Aufzeichnung vom Oktober 1989 wird beiläufig ein Schlachtfeld eröffnet, auf dem Handke sich in den Folgejahren als Kombattant, Kriegsberichterstatter und Märtyrer zugleich tummeln sollte. Sein Zweifel am Bild der Welt, wie es die Medien malten, trieb ihn in den neunziger Jahren zum nimmermüden Einsatz für die vermeintliche Sache Serbiens. Dieses Engagement trübte den Eindruck eines bloß der Schönheit verpflichteten Protokollanten, als der sich Handke zuvor geriert hatte. Tatsächlich ist in "Gestern unterwegs" die kommende militärische Auseinandersetzung in Jugoslawien nur zu ahnen. Im August 1987 liest der Reisende zwar während einer Bahnfahrt in Mazedonien frühe Gedichte von Hölderlin und notiert: "Gott bewahre uns vor einem nationalen Aufbruch." Doch anderthalb Jahre später findet er im spanischen Linares eine Zeitung mit der Überschrift "Yugoslavia a los linderos de una guerra civil", und dazu fällt ihm nicht mehr ein als die Bemerkung: ",Los linderos', die Grenzwege, die Schwellen". Und er ergänzt in Klammern: "Name der Tageszeitung von Linares: ,Ideal'; neben der Redaktion die ,Ideal Bar'."

Ist das ein Kraussches "Dazu fällt mir nichts ein"? Unwahrscheinlich, denn Kraus wie Thomas Bernhard zählen zu Handkes literarischen Feindbildern. Handke sah sich damals noch als Betrachter des Unpolitischen, und so äußert er sich im November 1989 auch nur indirekt zum Fall der Mauer, obwohl er damals auf eigenen Lebensspuren im Taunus wandert. Keine Spur aber von der Diarienlust eines Peter Rühmkorf, wie sie dessen gleichzeitig entstandenes "Tabu 1" zeigt. Dabei pflegt auch Handke einen bisweilen geradezu faunischen Blick, zumal wenn es um die spärlichen Zeugnisse eigener Verliebtheit geht. Da weicht die existentialistische Selbstbetrachtung dem mit einemmal wieder aktiven Blick auf andere - den sonst nur Handkes Ausführungen zu Kindern spüren lassen. Wunderhübsch dabei die Bemerkung, daß der Mensch eine Spezies sei, bei der die "Raupen" weitaus schöner seien als die fertigen Wesen.

In den meisten seiner Aufzeichnungen ist Handke jedoch ganz bei sich, und deshalb darf "Gestern unterwegs" als ein Buch bezeichnet werden, das alles in den Schatten stellt, was wir von ihm seit fünfzehn Jahren lesen konnten - seit den Büchern eben, die noch in jener Phase der Unrast entstanden sind: der "Versuch über die Müdigkeit" und der "Versuch über die Jukebox", beide 1989 jeweils binnen weniger Tagen in Spanien geschrieben. In "Gestern unterwegs" spürt man diese beiden Textgewitter schon Monate vorher aufziehen. In diesen Passagen ist "Gestern unterwegs" vor allem Werkstatt.

Aber das Buch ist auch Chronik, Rechenschaftsbericht, ästhetische Theorie. Und Steinbruch, in dem schon etliche Passagen der Romane "Mein Jahr in der Niemandsbucht" und "Das Bilderverbot" vorformuliert wurden. Das indes sind die hemmenden Teile auf der Suche nach der verwanderten Zeit. Wo Handke sonst präzise ist, weil er fixieren will, was sich ihm gezeigt hat, ist er hier verschwurbelt, weil er die Bilder frei auszumalen beginnt.

Aber wer braucht den Romancier Peter Handke? Auf seiner Tippeltour durch ein "vereintes Europa der Feldwege und Ackermauern" gelingen ihm Momentaufnahmen, die nur mit dem Attribut der Feinmalerei aus der niederländischen Kunstgeschichte adäquat beschrieben werden können: Miniaturen alltäglicher Szenen in höchster Brillanz, in der mit dünnsten Pinseln Effekte hingetupft werden, die eine höhere Form des Realismus entstehen lassen. "In der zunehmenden Düsternis erschien dann ein Leuchten, klein, in einem der Feldmandelbäume: Harz war da ausgetreten und hatte sich an einem Zweig verklumpt, und durch dieses Klümpchen schien da oben die letzte Helligkeit des Himmels, in dem Harzball gesammelt und konzentriert." Ein solcher Einschluß des Lichts ist das, was Handke in den besten seiner Notate gelingt.

Sie können canettiesk sein, wenn er Typen bildet, den Fragenarr etwa oder die Zeithaberin. Auch der Wechsel zwischen "ich" und "er" bei der Selbstbeschreibung löst beim Leser dieselben subtilen Jagden nach inhaltlichen Kriterien für diese Distanzierung aus - doch sie bleibt hier wie da erfolglos. Handke allerdings sucht weniger als Canetti nach Schemata anthropologischen Verhaltens. Statt dessen notiert er immer wieder Verben für bestimmte Phänomene: für die Sonne (sie "läßt mich zurechtfinden"), für die Bewegung von Blättern im Nachtwind (sie "wirtschaften"), für Nußbaumblätter im Fallen (sie "brechen"), für die Müdigkeit (sie "gibt das Augenmaß"). Anderweitig längst bewährte Wörter reichern als Umschreibungen die Beschreibungen an - und alles jenseits jeder Metapherntheorie, aus schierem Mut, einen Vorgang in seiner Besonderheit zur Sprache zu bringen. Wie ein Botaniker in seinem Herbarium ungewöhnliche Exempla der Pflanzenwelt sammelt, so stellt Handke eine Kollektion von Wortbedeutungen zusammen, die nie ein Ohr zuvor gehört hat.

Auch das also ist "Gestern unterwegs": ein Sprachlabor. Ein gewagtes Unterfangen angesichts einer in Cividale notierten Maxime: "Vergiß nicht, du Idiot, daß Sprachlosigkeit (auch) deine Stärke ist." Das eingeklammerte Wort aber mildert die Strenge des Verweises - wie die zahlreichen Fragezeichen, die nach Aussagesätzen stehen und somit den Schatten des Ungewissen über manch schillernde Formulierung werfen. Seine Heimstatt findet der Wortwanderer Handke im Zweifel, und in einer französischen Redewendung die Rechtfertigung dafür: ",Ça n'entre pas dans la question'; als sei das Fragen, die Frage ein Haus, und ist sie das denn nicht? Eine Hütte, ein Obdach, ein Unterstand". Die eigene Frage im Notat legitimiert für Handke, was anderen als fragwürdig gelten mag.

Was sich uns in seinem Sprachspiel zeigt, ist ein Virtuosenstück des Schreibens, das mit Kategorien wie Aphorismen, Entwürfen, Maximen, Notaten oder auch Aufzeichnungen nur schwer zu fassen ist. Handke selbst bezeichnet seine Arbeit gleich mehrfach als "Tagewerk" - und suggeriert damit Handarbeit. Doch dieses Schreiben ist eine Sache des Kopfes: des konsequenten Schulterblicks, der eine andere als die gewohnte geradlinige Ansicht fokussiert. Kein Wunder, daß die Lektüre der Evangelientexte, der sich Handke im Februar und März 1990 widmete, eine besonders wichtige Erkenntnis erbracht hat: "Immer wieder spricht Jesus zu den Leuten ,sich umwendend'."

Handke ist in "Gestern unterwegs" noch kein Prophet. Gottlob. Er schafft auch keine Statuen, aber dem Schulterblick hat er ein Denkmal gesetzt. Nicht Bildhauer, Bildbauer muß man ihn dafür nennen.

Peter Handke: "Gestern unterwegs". Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990. Jung und Jung, Salzburg 2005. 553 S., br., 25,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Martin Meyers Besprechung zollt stilles Lob für Handkes hohe "Kunst des Sehens und Bedenkens". Allerdings sei "Gestern unterwegs" ein Buch für "langsame" und "geduldige" Leser, die sich auf Handkes Wahrnehmungsprinzip des "Zeit-Habens" mit entsprechender Gelassenheit einlassen können, mahnt der Rezensent. Das Buch enthalte tagebuchartige Reiseaufzeichnungen vom November 1987 bis zum Juli 1990, die der Autor zunächst in Slowenien, dann in Griechenland, Agypten, Frankreich, Spanien, Schottland und wieder am Mittelmeer anfertigte. Handkes häufig apercuhaften Aufzeichnungen enthielten zudem "Moralisches" und "Autobiografisches". Moralisch im "Stil von Maximen und Reflexionen" und auch als gelegentliche Selbstermahnung und "Gewissensforschung" des Autors. Um dem Vorwurf der Naivität vorherzukommen, verweist der Rezensent auf "Zeilen der präzisesten Reflexion" über Sterblichkeit, Liebe, Glück, über Wut und Zorn. "Nicht naiv, doch entrückt; nicht einfältig, aber entspannt" ist aus Sicht des Rezensenten eine solche Haltung, und sie sei "sogar grundiert von einem Humor, der die Hinfälligkeiten des Lebens mit Fassung erträgt".

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Rowohlt-Verleger Alexander Fest im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf die Frage: »Welches Buch hätten Sie gern verlegt?« »Von den Büchern der letzten Jahre sicherlich Handkes Gestern unterwegs. Ich hatte Handke eigentlich nie richtig gelesen, bis Martin Walser mir vor einigen Jahren das Gewicht der Welt nannte, das müsse ich kennen. Da las ich es, beeindruckt. Kurz darauf kam dann Gestern unterwegs heraus, das ich dann dreimal gelesen habe in den letzten Jahren. Ein nicht auszuschöpfendes Buch, schon weil es kein Wissen weitergeben, so gut wie nichts lehren, nichts erzählen will. Es will bloß gelesen und im Lesen angenommen und verstanden werden. Ich kann hier schwer ausdrücken, welchen Genuss mir das verschafft hat.«