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Dieses Buch leistet die Rekonstruktion eines für die Literaturgeschichte folgenreichen Prozesses: die Überlagerung des Literatursystems durch die Massenmedien im Laufe des 19. Jahrhunderts und das damit verbundene Gendering des gesamten literarischen Lebens. Ausgehend vom Boom der periodischen Printmedien und der extensiven Praxis des Romanvorabdrucks werden - entgegen der üblichen Verfallsperspektive - einerseits die Funktionsänderungen beschrieben und die Spielräume ausgelotet, die die Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch ihr Aufgehen in den Familien- und…mehr

Produktbeschreibung
Dieses Buch leistet die Rekonstruktion eines für die Literaturgeschichte folgenreichen Prozesses: die Überlagerung des Literatursystems durch die Massenmedien im Laufe des 19. Jahrhunderts und das damit verbundene Gendering des gesamten literarischen Lebens. Ausgehend vom Boom der periodischen Printmedien und der extensiven Praxis des Romanvorabdrucks werden - entgegen der üblichen Verfallsperspektive - einerseits die Funktionsänderungen beschrieben und die Spielräume ausgelotet, die die Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch ihr Aufgehen in den Familien- und Rundschauzeitschriften hinzugewinnt. Zum anderen erweisen sich in dieser medienhistorischen Perspektive die zentralen Kategorien der Literaturwissenschaft - Autor, Werk, Gattung - als dringend revisionsbedürftig.
Autorenporträt
Günter, ManuelaManuela Günter (PD Dr. phil.) lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Medien, Autobiographie des 18.-20. Jahrhunderts, Gender/Cultural Studies sowie Shoah-Literatur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2008

Vorabdrucke sind was für Weiber

Wahre Kunst hat in der Zeitung nichts verloren, der ganze Betrieb verweichlicht die Literatur nur: Manuela Günter ist den Affären zwischen Schriftstellern und Medien auf der Spur.

Pustkuchen hieß der Mann, der den alten Goethe schier zur Verzweiflung brachte. Dieser ebenso talentierte wie ambitionierte Lehrer aus Lemgo hatte es tatsächlich gewagt, ein Werk des Olympiers schon vor dessen Publikation zu parodieren. Als die von Goethe mehrmals und über Jahre hinweg angekündigte Fortsetzung des Romans "Wilhelm Meisters Lehrjahre" einfach nicht kommen wollte, nahm Pustkuchen die Sache selbst in die Hand. Im Februar 1821 erschien anonym "Wilhelm Meisters Wanderjahre", drei Monate vor dem Erscheinen eines Romans desselben Titels aus der Feder Goethes. Pustkuchen war allerdings kein bloßer Plagiator und schon gar kein Scherzbold; er arbeitete vielmehr in ernster, ja, man muss geradezu sagen: in heiliger Absicht. Mit seinem Werk wollte er zeigen, wie Goethe zu übertreffen wäre, vor allem, wie man dessen von den Zeitgenossen oft als unmoralisch beanstandetes Personal durch wahrhaft edel handelnde Figuren ersetzen könne.

Der von der Verbesserung Mitteleuropas beseelte Pädagoge Pustkuchen startete damit einen Frontalangriff auf die beiden tragenden Säulen des Literatursystems der Goethe-Zeit: die Souveränität des Autors und die Autonomie des Werkes. Das wurde ihm dadurch erleichtert, dass Goethe Teile des sich über Jahrzehnte zusammenfindenden Stoffs der "Wanderjahre" zuvor schon in Zeitschriften veröffentlicht hatte. Die verstreut publizierten Novellen, die Goethe nur zögernd zum Novellenkranz der "Wanderjahre" zusammenfasste, erzeugten beim Publikum den Wunsch nach weiteren Geschichten dieser Art, jedoch keineswegs die Erwartung eines letztlich überkonstruierten Monumentalwerks. Das aber strebte Goethe an, und Pustkuchen wollte es auch, nur anders, nämlich moralischer. Doch damit verdarb er dem Weimarer auf Jahre hinaus den Spaß an seinen eigenen "Wanderjahren". Gelesen wurden vor allem die falschen "Wanderjahre", während Goethes schließlich zu einem umfangreichen Roman ausgewachsenes Buch von einer gewogenen, offenbar aber gelangweilten Leserin als "etwas breit wie eine gute Nudelsuppe" bezeichnet wird.

Manuela Günter führt diese Begebenheit in ihrem Buch "Im Vorhof der Kunst" gleichsam als Urszene eines Konflikts an, der im neunzehnten Jahrhundert an der Basis des Literaturbegriffs ausbricht: Die von einer anonymen Öffentlichkeit genutzten Zeitungen und Zeitschriften unterwandern das Verhalten der Autoren und zersetzen das kompakte System einer Literatur als autonomer, an Lesererwartungen nicht ausgerichteter Kunst. Das würde noch hingehen, wäre in diesen schleichenden Prozess keine tief wirkende Differenz eingezeichnet. Während nämlich die große Kunst, die Günter unter das Label "Literatur" stellt, auf einer entschieden männlichen Haltung des Schöpferischen beruhte, gaben die periodischen Medien den Ort einer genießenden, pluralen und, wie nicht wenige meinten, promisken Haltung ab, die grundsätzlich als weiblich identifiziert wurde. Die derart ins Bewusstsein der Zeitgenossen eingeprägte Differenz männlich/weiblich wird für Günter zum Leitfaden für die Beurteilung des neunzehnten Jahrhunderts als Literaturepoche insgesamt. An ihrem Ausgangspunkt steht das innige Verhältnis zwischen dem schreibendem Mann, der zum gefeierten Dichter wird, und der bewundernden, liebenden Leserin.

Entscheidend ist, dass, angefangen mit Goethe, die bedeutenden Autoren des neunzehnten Jahrhunderts ausnahmslos "Affären mit Medien" eingegangen sind. Sie taten dies nicht zuletzt, weil sie erkannten, dass sie nur über aktuelle Publikationswege in Zeitungen und Zeitschriften Leser und vor allem Leserinnen für sich gewinnen konnten. Das große Werk mit seiner monoman "männlichen" Unbedingtheit blieb demgegenüber zwar ein Objekt der Bewunderung, wurde als solches aber immer mehr zu einer autistischen Angelegenheit.

Der bewusste Rückzug ästhetisch radikaler Schriftsteller wie Flaubert oder Nietzsche an einen der Öffentlichkeit nicht mehr erreichbaren Ort schöpferischer Selbstumkreisung spricht nicht zuletzt für die durchschlagende Wirkung dieser Entwicklung. Die Position der männlichen Kunst gegen den kompromittierenden Betrieb und die von ihm bewirkte Feminisierung der Literatur war nur noch in völliger Autarkie zu haben. Die Mehrzahl der Autoren des neunzehnten Jahrhunderts, das zeigt Günter in überzeugender Art und Weise, ist diesen Weg aber nicht gegangen.

Vor allem das Paradigma "Realismus", das im Zentrum der literarischen Phänomenologie jenes Jahrhunderts steht, repräsentiere, so Günter, die stilbildende Durchmischung des männlichen Kunstanspruchs mit der weiblichen Medialisierung. Die den damaligen Literaturbetrieb beherrschende Form der Novelle sowie der Feuilletonroman bildeten Katalysatoren einer Literatur, die gelesen (und verkauft) und nicht mehr nur bewundert werden wollte. Im Zuge dieser Öffnung zum Publikum hin entstand die Illusion eines literarischen Realismus, in dessen Verklärungsästhetik gleichwohl auch die Ansprüche "männlichen" Kunstwollens aufgehoben waren.

Manuela Günter demonstriert, dass es sich bei dieser Innovation nicht in erster Linie um einen Modus der Selbsterhaltung des Systems der autonomen Werke, als vielmehr um eine ästhetisch kaschierte Medienstrategie handelt. Gerade Theodor Fontane erwies sich in der Nutzung von Zeitungen und Zeitschriften für seine Publikationsversuche als wahrer Virtuose. Vom Journalismus herkommend, lag ihm nichts näher, als für ein breites Publikum gut lesbare Texte zu verfassen. Die Übertragung der dabei gewonnenen Möglichkeiten auf die Kunst des Romans lässt Fontane in den Augen Günters zu einem "medialen Chamäleon" werden, "das je nach Bedarf Publikationsorte, Genres, Themen oder auch die politische Farbe wechselt".

Dass hierin der Anspruch der hehren Kunst aufgeweicht wurde, ließ Fontane weitgehend kalt. Sein unentwegt plauderndes Personal trägt schon alle Züge einer verweiblichten Literatur. Der Effekt einer Feminisierung der Literatur durch realistische Schreibweisen gipfelt jedoch, wie Günter zeigt, in Paul Heyse, der es sich, trotz oder auch wegen seiner Erfolge, gefallen lassen musste, als "Literaturweib" verspottet zu werden.

So weit war es Ende des neunzehnten Jahrhunderts also gekommen. Und doch ereignete sich gerade hier die Rückkehr des männlichen Kunstanspruchs mit seiner Behauptung erdabgewandter Artistik und auratisch sich selbst bespiegelnder Werke. Nietzsche übernahm es, diese unzeitgemäße Position mit einem enormen theoretischen und kulturkämpferischen Aufwand einzuführen. Dafür sprechen nicht zuletzt auch seine katastrophalen publizistischen Strategien, die dazu führten, dass sein entstehendes Werk zunächst kaum wahrgenommen werden konnte. Noch deutlicher zeigt es sich aber in seiner Auseinandersetzung mit Richard Wagner. Das Projekt Bayreuth interpretiert er als Anbiederung autonomer Kunst mit ursprünglich metaphysischem Anspruch an ein im Grunde verständnisloses Publikum und zeiht Wagner neben anderem gerade deshalb explizit der Verweiblichung. Nietzsche hingegen arbeite, so Günter, an der "Austreibung des Publikums, das immer an die mediale Existenzweise von Kunst erinnert".

Manuela Günter hat in ihrer als Kölner Habilitationsschrift entstandenen Studie eine Sicht auf die Entwicklung und die Praxis der Literatur im neunzehnten Jahrhundert entfaltet, die ausnahmslos schlüssige Thesen zu bieten hat. Gerade dies scheint auch ein Problem des Buches zu sein. Die Ordnung des Diskurses wird so widerstandslos und zweifellos durchgesetzt, dass man das Gefühl bekommt, hier werden alle Falten emsig geglättet und alle Hürden leicht übersprungen.

Der anfangs die Lektüre noch etwas erschwerende systemtheoretische Jargon (der jedoch nach fünfzig Seiten weitgehend in den Hintergrund tritt) lässt die Vermutung wachsen, dass gerade den universitären Theoretikern kleine und durchaus auch größere Affären mit Medien aller Art ganz gut tun würden. Allerdings demonstriert Manuela Günter in ihrem Buch so deutlich wie sonst kaum jemand vor ihr, dass echte Kunst männlich ist, sich aber gerade deshalb den Lockungen des Weibes ständig ausgesetzt sieht und ihnen nicht selten erliegt. Meinte Goethe dies, als er am Schluss von "Faust II", nun schon wieder erkennbar erholt von der Affäre Pustkuchen, das geflügelte Wort vom Ewigweiblichen an bedeutsamer Stelle eingeflochten hat?

CHRISTIAN SCHÄRF

Manuela Günter: "Im Vorhof der Kunst". Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert. Transcript Verlag , Bielefeld 2008. 378 S. , br., 34,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Studie von Manuela Günter zur Differenz männlich/weiblich in der Literatur des 19. Jahrhunderts kann Christian Schärf einiges abgewinnen. Sowohl die Rückzüge ins Autistische von Autoren wie Flaubert und Nietzsche, als auch die stilbildende Durchmischung von "männlichem Kunstanspruch" und "weiblicher Medialisierung" im literarischen Realismus, in Novelle und Feuilletonroman, kann Schärf mit Hilfe dieses Buches besser verstehen. Dass Günter "ausnahmslos schlüssig" argumentiert, weckt beim Rezensenten allerdings die Vorstellung von allzu emsig geglätteten Falten. Dem ihm zu Beginn der Lektüre heftig ins Gesicht schlagenden "systemtheoretischen Jargon" dagegen hätte Schärf gerne mehr "weibliche", medial geprägte Affären gewünscht.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Als umfassende literatur- und zugleich mediengeschichtliche Längsschnittstudie leistet die Arbeit von Manuela Günter Beachtliches.« Rolf Parr, Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 2010 »In jedem Fall handelt es sich um eine höchst bemerkenswerte, anregende Darstellung von hoher perspektivischer Produktivität, die die ihr gebührende Wirkung haben wird.« Erhard Schütz, GERMANISTIK, 3 (2009) »[Für dieses Buch gilt], dass es zur Standardliteratur in der Publikations- und Kommunikationswissenschaft werden sollte, auch als Brücke zu einer Medienwissenschaft, die animos zu ignorieren sich niemand leisten kann, der zu den Gebildeten im Fach zählen will.« Wolfgang R. Langenbucher, m&z, 3 (2009) »Ausnahmslos schlüssige Thesen.« Christian Schärf, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.09.2008