79,90 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Versandfertig in ca. 2 Wochen
payback
0 °P sammeln
  • Buch mit Leinen-Einband

Der opulent ausgestattete Bildband dokumentiert erstmals zusammenhängend die Reisen Kafkas in die Schweiz und nach Italien, die vor allem der Beobachtung fremden Alltagslebens galten, aber auch Konsequenzen für die Entstehung des Verschollenen hatten. Die Verwendung bisher unbekannter Veröffentlichungen Max Brods, der Kafka zweimal in den Süden begleitete, sowie die Einbeziehung zeitgeschichtlicher Quellen, insbesondere von Reiseliteratur und Fahrplänen, erlaubten eine minutiöse Rekonstruktion der Reiserouten sowie die Identifizierung und Lokalisierung der Monumente, Ereignisse und…mehr

Produktbeschreibung
Der opulent ausgestattete Bildband dokumentiert erstmals zusammenhängend die Reisen Kafkas in die Schweiz und nach Italien, die vor allem der Beobachtung fremden Alltagslebens galten, aber auch Konsequenzen für die Entstehung des Verschollenen hatten. Die Verwendung bisher unbekannter Veröffentlichungen Max Brods, der Kafka zweimal in den Süden begleitete, sowie die Einbeziehung zeitgeschichtlicher Quellen, insbesondere von Reiseliteratur und Fahrplänen, erlaubten eine minutiöse Rekonstruktion der Reiserouten sowie die Identifizierung und Lokalisierung der Monumente, Ereignisse und Örtlichkeiten, die in den spärlichen Reiseaufzeichnungen der Freunde zwar erwähnt, aber nicht benannt oder beschrieben werden. 473, teils farbig wiedergegebene historische Abbildungen, Ergebnis langjähriger Recherchen, veranschaulichen diese Urlaubserfahrungen Kafkas in chronologisch angelegten Bildsequenzen und vergegenwärtigen sie so vor dem Auge des Betrachters.

"Unverantwortlich ohne Notizen zu reisen, selbst zu leben." Franz Kafka, Reiseaufzeichnungen
Autorenporträt
Der Germanist Hartmut Binder (*1937) ist mit zahlreichen Arbeiten zur Prager deutschen Literatur hervorgetreten und gilt als besonderer Kenner von Leben und Werk Franz Kafkas. Seine Kommentarbände zu den Erzählungen und Romanen Kafkas (1976) sowie das von ihm herausgegebene zweibändige Kafka-Handbuch (1979) sind international anerkannte Standardwerke der Forschung, seine Kafkas Welt betitelte Chronik in Bildern (2008) dokumentiert minutiös alle erfaßbaren Lebensumstände des Prager Autors und seines Umfelds, während die Monographie Kafkas Verwandlung (2004) der Entstehung, Deutung und Wirkung dieser berühmten Erzählung gewidmet ist. Binder veröffentlichte außerdem Bücher und Aufsätze zu Oskar Baum, Otokar Brezina, Rainer Maria Rilke, Hugo Salus, Johannes Urzidil, Ernst Weiß, Franz Werfel und anderen Autoren des Prager Kulturkreises sowie zu Vereinen und zur Sozialgeschichte der böhmischen Metropole. Bei Vitalis erschienen unter anderem Wo Kafka und seine Freunde zu Gast waren (2000), Mit Kafka in den Süden (2007), Gustav Meyrink. Ein Leben im Bann der Magie (2009), Kafkas Wien (2012), Prag - Literarische Spaziergänge durch die Goldene Stadt (2017) und Gestern abend im Café - Kafkas versunkene Welt der Prager Kaffeehäuser und Nachtlokale (2021).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.2008

Unverantwortlich, ohne Notizen zu reisen

Franz Kafka und Max Brod sind die eigentlichen Erfinder von Anleitungen zum kostengünstigen Reisen. Hartmut Binder begleitet sie dabei als Bildreporter.

Im März 1911 veröffentlichte Max Brod in der "Frankfurter Zeitung" ein Feuilleton mit dem Titel "Der Wert der Reiseeindrücke". Darin unterscheidet er zwei Typen von Touristen - die einen zählen bloß alle Sehenswürdigkeiten auf und sind "mit ihrer Ansicht schnell im reinen"; die anderen schweifen von Detail zu Detail und glauben nicht daran, dass man jemals "einen Extrakt des bereisten Landes zu sehen und zu studieren bekommt". Zur zweiten Gruppe zählte sich Brod mit seinem Freund Franz Kafka, den er im September 1909 nach Riva am Gardasee und im August und September 1911 an den Vierwaldstätter See, nach Lugano, Mailand und Stresa am Lago Maggiore begleitete.

Beide führten darüber Tagebuch, um hinterher ihre unterschiedlichen Beobachtungen der gleichen Orte und Ereignisse miteinander zu vergleichen. Kafka war davon überzeugt, es sei "unverantwortlich, ohne Notizen zu reisen", und er fügte hinzu: "Was nicht aufgeschrieben ist, flimmert einem vor den Augen." Beide Methoden, die des Bildes und die der Schrift, führt jetzt der unermüdliche Kafka-Forscher Hartmut Binder in einem opulent ausgestatteten Band zusammen. Die bislang völlig unzureichend erläuterten Reisetagebücher Kafkas erhalten so einen auf annähernd fünfhundert Fotos und Handzeichnungen basierenden minutiösen Kommentar. So korrigiert Binder durch Bildvergleiche bestehende Zuschreibungen, selbst von Brods eigenen Aufnahmen. Oder er rekonstruiert anhand von Zug- und Schiffsfahrplänen, von Reiseführern und Stadtkarten, von Zeitungsartikeln und Werbeprospekten jeden Schritt.

Hier ist ein gründlicher Literaturdetektiv am Werke, der jede Abfahrtszeit und jeden Eintrittspreis kennt, Kafka und Brod mit gleicher Selbstverständlichkeit in ein alkoholfreies Restaurant in Zürich, zum Nacktbaden am Gardasee oder ins legendäre Bordell "Al vero Eden" in Mailand begleitet. Der erste Teil des Bandes gilt den Reisen nach Riva del Garda und Umgebung. 1909 fährt Kafka mit den Brüdern Max und Otto Brod, 1913 nochmals allein an den Gardasee. Das Hafenensemble in Riva bestimmt später die Szenerie in der Erzählung "Der Jäger Gracchus" von 1917. Binder findet für jede Erwähnung das passende Vorbild - für die Kaimauer, den Brunnen, das Denkmal, die Kneipe, den Glockenturm, selbst das Schönbrunner Gelb des Palazzo del Comune oder die gelbbraunen Segeltücher rückt er aus dem Text ins Bild. Sicher will er damit nicht die seltsame Geschichte vom tot herumirrenden Jäger entzaubern, der dem Bürgermeister von Riva am Ende erklärt, er fahre "mit dem Wind, der in den untersten Regionen des Todes bläst". Doch kühn spekulierenden Lesern, die überall kafkaeske Szenerien wittern, scheint er entgegenhalten zu wollen, dass es in Kafkas rätselhaften Werken noch immer konkrete Wirklichkeitssplitter zu entdecken gilt.

Literarische Bezüge bleiben dabei nicht auf Kafkas Werke beschränkt. Während des Kuraufenthalts 1913 besucht er auf den Spuren Goethes Malcésine, wo der Dichter 1786 durch das Abzeichnen der Scaligerburg unter Spionageverdacht geraten war. Und für Kafkas Wahl des Sanatoriums Dr. von Hartungen in Riva dürfte eine Rolle gespielt haben, dass Thomas Mann hier 1901 Gast gewesen war. Er wusste das durch Otto Brod, zudem besaß er Thomas Manns Erzählung "Tristan" von 1902, die den Schauplatz als Sanatorium "Einfried" mit seinen "Laubengängen und kleinen Pavillons" variiert. An Skurrilität kann es die von Kafka vorgefundene Gesellschaft im Sanatorium Hartungen mit den Patienten um den "verwesten Säugling" Detlev Spinell in Thomas Manns Novelle zwar nicht ganz aufnehmen; doch auch hier ist einiges los. Kafka ist hinter einer "kleinen Schweizerin" her, am Tisch gefällt er sich in völliger Schweigsamkeit, der ebenfalls wortkarge General neben ihm erschießt sich ein paar Tage später in seinem Zimmer.

Einen Höhepunkt der ersten Italien-Reise bildet der Ausflug per Schiff und Zug nach Brescia, wo im September 1909 eine internationale Flugschau stattfand. Hier traten die Pioniere der Luftfahrt an, allen voran der Kanalflieger Louis Blériot und sein Landsmann Henri Rougier, der an jenem Besuchstag einen Höhenrekord von 116 Metern aufstellte. Daneben waren der Amerikaner Glenn Curtiss (mit seinem über den St. Gotthard transportierten Doppeldecker) und die Italiener Alessandro Anzani und Mario Calderara zu bewundern. Im vornehmen Publikum tummelten sich auch Giacomo Puccini und Gabriele d'Annunzio, der sogar einmal mitfliegen durfte. Binder wird nicht müde, den genauen Standort Kafkas und der Brods zwischen der Ehrentribüne und den billigeren Sitz- und Stehplätzen auszumachen, die Angebote im Restaurant und am Getränkestand zu inspizieren, die Signalflaggen und die unterschiedlichen Fluggeräte zu erklären, jeden der oft nur hüpfenden Flugversuche genau zu kommentieren.

Wichtiger ist die "Idee eines sportlichen Zweikampfs" zwischen Brod und Kafka. Sie wollten ihre Beobachtungen und Aperçus unabhängig voneinander zu Papier bringen und als Feuilletons publizieren, nicht zuletzt, um das hohe Eintrittsgeld zu kompensieren. Kafkas "Die Aeroplane in Brescia" erschien in der Prager Zeitung "Bohemia", Brods Beitrag hingegen in der Halbmonatsschrift "März". Binders erhellende Vergleiche beider Perspektiven bestätigen Kafkas Aufmerksamkeit für das weniger Augenscheinliche, für "Beobachtungen, die er selbst für unwesentlich hält". Oft zielt sein Blick auf die Physiognomien im Publikum, etwa Puccinis "Trinkernase", verweilt lange bei einem versagenden Motor, der wie ein Schüler vor der Klasse immer wieder steckenbleibt, oder sympathisiert mit den kühnen "Aviatikern", die "in einem Holzgestell verfangen" eine "unsichtbare Gefahr" auf sich nehmen.

Aus den Paralleltagebüchern der zweiten Italien-Reise wollten Kafka und Brod unter den Figurennamen Richard und Samuel auch öffentlich berichten. Davon ist 1912 aber nur das Kapitel "Die erste lange Eisenbahnfahrt" erschienen. Wieder bewähren sich beide als Angehörige jener zweiten von Brod charakterisierten Art zu reisen, nicht als Baedeker-Touristen also, sondern als weltoffen beobachtende Schriftsteller. Auf dem Weg von München über Zürich und Luzern nach Lugano zeichnet sie der wache Blick für kulturelle Differenzen aus, sie heben Unterschiede in der Kleidung, den Speisen, den Verhaltensweisen hervor, Auge und Ohr registrieren überall fremde Gebärden und Sprachen. Brod versucht sich gar mit einigen Gedichten, und Kafka studiert mit besonderer Aufmerksamkeit Gesichter von Mitreisenden. Im Zug nach Mailand fasziniert ihn etwa eine jüdisch wirkende junge Italienerin, deren Ausdruck "sich im Profil ins Unjüdische verschiebt", wenngleich ihre Nase "jüdischer gebogen" ist als die scharf gekrümmte ihres Vaters.

Eine Idee verdient noch eine besondere Hervorhebung. Kafka und Brod, die stets mit recht begrenztem Budget unterwegs waren, sind die eigentlichen Erfinder von Anleitungen zum kostengünstigen Reisen. "Billig" sollten sie heißen und alle aus finanziellen Gründen Daheimgebliebenen über ihren Irrtum aufklären. Im teuren Lugano, konzipiert auf Briefpapier des "Hotels Belvedere", versprachen sich die Freunde von dieser "epochemachenden Erfindung" einen Ausweg aus allen Sorgen. Es war ein Einfall, so Brod, "der uns zu Millionären machen und vor allem der scheußlichen Amtsarbeit entreißen sollte". Freilich blieb es beim spielerischen Gedanken, den andere dann später zu Geld machten - zum Glück natürlich, so will man meinen, denn die deutsche Literaturgeschichte wäre sonst bedeutend ärmer geblieben.

ALEXANDER KOSENINA

Hartmut Binder: "Mit Kafka in den Süden. Eine historische Bilderreise in die Schweiz und zu den oberitalienischen Seen". Vitalis Verlag, Prag 2007. 418 S., geb., 79,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Alexander Kosenina freut sich riesig über diesen "minutiösen Kommentar" zu Kafkas Reisetagebüchern. Dass Hartmut Binder nicht dabei gewesen sein soll, als Kafka und Brod zusammen das Mailänder Bordell "Al vero Eden" besuchten, kann er eigentlich kaum glauben. Derart gründlich misst Binder mit Zeichengriffel und Fotoapparat die Texte an der Wirklichkeit, dass er sogar die Erinnerung der Autoren noch zu korrigieren vermag, staunt der Rezensent. Dass der Rechnungsprüfer im Autor nicht gänzlich die Oberhand über die Texte gewinnt, kann Kosenina allerdings auch versichern. Literarische Bezüge und der Vergleich zwischen der Perspektive Brods mit derjenigen Kafkas (beide keine "Baedeker-Touristen") machen das Buch für ihn zum Lesegenuss. Und nebenbei, weil Kafkas Reisekasse eher überschaubar war, zum frühen Ratgeber in Sachen günstig Reisen.

© Perlentaucher Medien GmbH