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"Bremen", fragt einmal Ivan, der Held des Romans, "ist das Stadt, Pension, Hafen oder Lager?" Dragan Velikic verwebt die Schicksale dreier Generationen von Emigranten und erzählt vom ungewöhnlichen Leben des Straßenbahnfahrers Emil Kohot, vom absoluten Gehör Ivan Bazarovs, vom Verschwinden Johann Kastendieks und von Belgrader Hotels und Karlsbader Pensionen.

Produktbeschreibung
"Bremen", fragt einmal Ivan, der Held des Romans, "ist das Stadt, Pension, Hafen oder Lager?" Dragan Velikic verwebt die Schicksale dreier Generationen von Emigranten und erzählt vom ungewöhnlichen Leben des Straßenbahnfahrers Emil Kohot, vom absoluten Gehör Ivan Bazarovs, vom Verschwinden Johann Kastendieks und von Belgrader Hotels und Karlsbader Pensionen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Dieses morbide, rätselhafte Mitteleuropa!
Dragan Velikic spannt sepiablaue Netze / Von Eva Menasse

Eine mitteleuropäische Familiensaga, eine Atmosphäre wie hinter beschlagenem Glas, ein Ton wie hinter dunklem Samt: Der Großvater Vladimir Bazarov, ein Klavierstimmer, geboren in Odessa, über die einst üblichen Umwege - Budapest, Berlin - nach Belgrad gelangt, er stirbt vor dem Klavier der schönen Olivera Ermolenko, die einst mit seinem Sohn "befreundet" war, an einem Herzinfarkt. Der Vater Igor Bazarov, ein Musiker, der eine einzige Nacht mit Olivera verbrachte, danach mit Teodora einen Sohn zeugte, den er nie sah, denn er ist im Weltkrieg bei Bremen verschollen. Der Sohn endlich, Ivan, der Igors absolutes Gehör geerbt hat, aber "die musikalische Tradition der Familie nicht fortsetzen" wird, der mit Frauen kein Glück hat, bevor jene Olivera seine Geliebte wird, die beinahe seine Mutter geworden wäre. Und dann ist da noch Emil Kohot, dessen bastardischer Name - nicht das tschechische "Kohout", nicht das slowakische "Kohut" - genau zu seinem Leben paßt. Emil, der Teodora zu seiner dritten Frau nimmt und damit des kleinen Ivan Stiefvater wird, ist der Wiedergänger aus den früheren Romanen von Dragan Velikic, ein Mann der Schiene und der vielen Sprachen, als Straßenbahnfahrer beschäftigt in Subotica, Prag, Wien, Budapest und schließlich Belgrad. Fünf Städte, fünf Sprachen, drei Frauen - "der Akzent war ganz eigentlich sein Zuhause, und das Verpflanztsein der Raum seiner Ansässigkeit" -, doch immer derselbe Beruf, dieselben Rituale: zehn Zigaretten am Tag, zwei Glas Rotwein zum Mittagessen, abends ein Joghurt und ein Hörnchen.

"Der Name ist die Topographie", schon der erste Satz ist Velikic' immergleiches Programm, denn in all seinen Büchern und Romanen vermißt er besessen Südost- und Mitteleuropa, folgt so leidenschaftlich wie hoffnungslos den Schienen, die diese vielgestaltige, vielsprachige, in immer kleinere Teile zersplitternde Weltgegend als letztes miteinander verbinden. Die Geschichten und Lebensläufe, die er erzählt, zerfallen ihm dabei auf melancholische Weise in Bruchstücke, darin dem Erdteil parallel, der aber nicht aus Melancholie, sondern immer mit neuer Gewalt zerbricht.

Dieses Buch nun, "Der Fall Bremen", das beginnt wie ein sepiafarbenes Familienepos aus versunkener Zeit, löst sich gegen Ende beinahe in den philosophischen Reflexionen seines in jeder Weise unfruchtbaren Helden Ivan Bazarov auf. Denn dieser Ivan nützt seine Talente nicht mehr, das "Hinausschieben" ist das "grundlegende Axiom seines Lebens". Großvater und Stiefvater haben in den Metropolen Mitteleuropas Lebensjahre verbracht, der Enkel Ivan hingegen reist nicht einmal. Statt dessen wird er, eine ironische Berufswahl angesichts seiner kosmopolitischen Familie, Hotelportier. Nur mehr auf diese Weise nimmt er an der großen Welt teil - mittels Touristen, die bei ihm hereinschneien. Das ist nicht zuletzt ein boshafter Hieb auf Belgrad.

Ivan, der letzte aus einer exemplarisch europäischen Sippe, hat nur eine einzige, ebenso erstaunliche wie sinnlose Besonderheit: Er trägt ein wucherndes Archiv im Kopf. Biographien, Anekdoten, Namen, Ansichtskarten verbinden sich zu einem Gestrüpp von Geschichten, die sich aufeinander beziehen, aneinander assoziativ entwickeln. Manisch betrachtet er Postkarten, meditiert sich in sie hinein, spaziert darin herum und lernt, über ihren Rand hinauszugehen, sie zu erweitern. Eine seiner Lieblingskarten zeigt den Potsdamer Platz in Berlin, vor dem Krieg natürlich; dort besteigt er in der Nachfolge seines Stiefvaters Emil Kohot eine Straßenbahn, die längst nicht mehr fährt, und stellt sich vor, an die Peripherie von Berlin zu reisen. Tag für Tag überprüft und erweitert Ivan das Archiv in seinem Kopf; darüber vergißt er zu leben.

Mit dem geschwollenen moralischen Zeigefinger der Pragmatiker und Analytiker hat man vom Westen her Dragan Velikic mehr als einmal vorgeworfen, sich um das "aktuelle" Buch, das "politische" Buch, den brandheißen Kommentar zu Serbien, zu Milosevic zu drücken. Man würde dann vielleicht die Serben besser verstehen, jammerte gar einer, der sich dann auch nicht schämte, auf Ivo Andric hinzuweisen, der hätte das doch auch gekonnt und sei immer noch aktuell. Ja, es ist wahr, die Aktualität und die Gewalt kommen in Velikic' Büchern nicht vor, jedenfalls nicht so, wie sich auf Erleuchtung hoffende Konsumenten das wünschen. Aber die Sprache der Literatur ist auch nicht die der politischen Kommentare. Von letzteren hat Velikic übrigens reichlich verfaßt, in allen möglichen europäischen Zeitungen, und damit reichlich seine Schuldigkeit als Intellektueller und Serbe getan.

Mit seiner Literatur aber bildet Velikic sehr genau und auf vielen parabelhaften Ebenen ab, was ihm wichtig ist. Man nehme nur seinen Ivan Bazarov, der sich im entscheidenden Moment, nämlich 1991, nachdem Olivera gestorben ist, von der Welt gänzlich abwendet, bloß noch in seiner von ihr geerbten Wohnung lebt, sich philosophische Notizen macht, die er dann zwischen Buchseiten steckt und damit gewissermaßen beerdigt.

Die Erzählbewegung in "Der Fall Bremen" ist so gesehen die traurigste, die sich denken läßt. Erst greift der Erzähler zurück in die Familiengeschichte, fördert dort Liebesgeschichten und schrullige Anekdoten zutage. Doch der Blick zurück hilft nicht weiter, er schafft nur einen ungenauen romantischen Hintergrund für eine trostlose Gegenwart, für einen Helden, der keine Zukunft, ja nicht einmal eine Gegenwart hat. Die Zukunft, die Vitalität, die Fortpflanzung ist in eine andere Weltgegend weitergewandert, so deutet es zumindest das überraschende, aber für Ivan bedeutungslose Ende an. Denn Ivans Vater Igor, da hat Ivans Instinkt ihn nicht getäuscht, hat wirklich den Zweiten Weltkrieg überlebt - doch Ivan wird es nie erfahren. Ohne Gedächtnis aufgefunden, ersetzte Igor Bazarov einer Witwe den Gatten, indem er sich von ihr einreden läßt, dieser Verschollene zu sein. So kommt er, dem also nur der totale Gedächtnisverlust das Entkommen vom Balkan ermöglicht, nach Amerika, zeugt einen weiteren Sohn, einen fröhlichen Amerikaner, der später eine Spielzeugfabrik übernehmen und nicht bloß ein Kind haben wird: "Als seine Frau Barbara zu Beginn des Jahres 1984 Zwillinge bekam, kannte er in den darauffolgenden Tagen keinen anderen Zustand als den der Begeisterung."

Daß dieser Amerikaner namens Felix Kastendiek mehrmals nach Belgrad reist, in jenem Hotel absteigt, in dem Ivan Bazarov Empfangschef ist, von diesem bespitzelt und mit Mädchen für die Nacht versorgt wird, ist wieder typisch für den Autor, der so gern ein loses Netz über die Romanwelten breitet, ein Netz, das Geschlossenheit andeutet, von dem seine Figuren aber nichts wissen.

Deshalb kann Dragan Velikic leichtherzig auf die Beschäftigung mit isolierten Balkanereignissen verzichten: Weil er das Große im Blick hat, dieses morbide, rätselhafte Europa, dessen Geschichte, Zusammenhänge und geistige Verfassung. Und weil er dafür seine ganz eigene, so poetische wie ironische Sprache und Form gefunden hat.

Dragan Velikic: "Der Fall Bremen". Roman. Aus dem Serbischen übersetzt von Bärbel Schulte. Ullstein Verlag, Berlin 2002. 237 S., geb., 22,- .

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Karl-Markus Gauß ist von dem sechsten Roman des Serben Dragan Velikic über Orte, Personen und Dinge, die mit der Stadt Bremen in Verbindung stehen, tief beeindruckt. Vor allem das Talent des Autors, alles miteinander zu verknüpfen, real und in der Phantasie, lobt er. Mit "kompositorischem Raffinement" lasse Velikic seinen Protagonisten Ivan Batarov, ein Portier in Belgrad, nach den Spuren seines Vaters suchen, der im Zweiten Weltkrieg in einem Zwangsarbeiterlager bei Bremen verschollen ist. Besonders begeistert ist der Rezensent von der "Leichtigkeit", Souveränität und "Beiläufigkeit", mit der Velikic Distanzen zu überwinden und "Welthistorie" in eine Familiengeschichte zu packen wisse. Auch wenn sich Gauß an manchen Stellen etwas weniger Doppelbödigkeit gewünscht hätte, hält er Velikic zweifellos für einen Autor, der gekonnt "bizarre Anekdoten", "markante Details" und "kluge Reflexionen" in seinem Roman untergebracht habe und die Kunst beherrsche, den modernen Roman eines Broch oder eines Musil "spielerisch mit postmodernem Zauber- und Blendwerk" zu verbinden.

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