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Eine umfassende Bestandsaufnahme des Theaters im heutigen China.

Produktbeschreibung
Eine umfassende Bestandsaufnahme des Theaters im heutigen China.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2018

Kleine Gesellschaft auf der Bühne
Man lacht, um sich bedeckt zu halten, sich zu entziehen: Ein guter Einblick in das zeitgenössische chinesische Theater
Was es für ein Theater hat, sagt viel aus über ein Land. Die europäische Theatertradition, erwachsen aus der griechischen Antike, war China lange fremd. Hier wurde auf der Bühne jahrhundertelang vor sich hin gesungen, nicht miteinander geredet. Dazu gibt es in diesem Buch über das zeitgenössische Theater in China einen Essay des klugen französischen Philosophen und Sinologen François Jullien.
Er stellt fest, dass China die einzige große Kultur ist, die nicht mit einer großen Erzählung angefangen hat, einem Epos. Ein Heldenepos, das sei „viel Anstrengung, viel Lärm und wenig Wirkung“. Anders die Chinesen. Sie schätzen, so Jullien, „diskrete Wirksamkeit“. Es fehle in China außerdem ein Mythos darüber, wie die Welt entstanden ist und wozu? Das hat die Chinesen nicht wirklich interessiert. „Häufig wird gesagt, unsere Moderne oder Postmoderne sei das Ende der großen Erzählungen“, schreibt Jullien. „China hat eine solche große Erzählung niemals gekannt.“
Menschen stehen auf der Theaterbühne – im antiken Athen, im Shakespeare-England, an den Münchner Kammerspielen 2018 – und reden aufeinander ein, beziehungsweise miteinander. Sie versuchen oft, jemanden von irgendwas zu überzeugen. O Romeo, leg deinen Namen ab … . Im klassischen Chinesischen gab es bis zur Moderne nicht einmal ein Verb für „überzeugen“. Das neuere Verb shuofu bedeutet: Sprechen-unterwerfen, was nach Gewalt klingt. „Bemerkenswerterweise haben die Chinesen die Praxis des Überzeugens nicht der gesprochenen Sprache anvertraut“, schreibt Jullien. „Das griechische Theater trägt genau das in sich, es ist eine Art Überzeugungsspiel.“
Auch die Unterscheidung Komödie / Tragödie ist ein westliches Konzept. In China lacht man in der Regel nicht, weil man etwas lustig findet, sondern um sich bedeckt zu halten, sich einer Situation zu entziehen. Es ist strategisches Lachen.
Das alles prägt den chinesischen Alltag und auch die chinesische Theaterszene. Die wenigsten Leser dieser Zeitung werden je in ein chinesisches Theater gehen, aber das gilt auch für viele Chinesen. Viele Chinesen können sich einen Theaterbesuch nicht leisten, andere haben kein Interesse. Das traditionelle Gesangtheater hat es da etwas leichter als das vom Westen (etwa von Brecht oder von Majakowskij) inspirierte Sprechtheater.
Chinesische Theatermacher, die in diesem Buch zu Wort kommen, versprühen nicht grade viel Optimismus. Seit der Blütezeit in den Achtzigerjahren seien kaum gute Stücke entstanden, sagt der Kritiker und ehemalige Theaterleiter Lin Kehuan. Die Blütezeit war eine Reaktion auf Maos blutige Kulturrevolution. Als nach Maos Tod 1976 die Schrauben etwas gelockert wurden, durften wichtige Bühnen wie das Volkskunsttheater in Peking oder das Chinesische Jugendkunsttheater eine Weile experimentieren.
Damals kam Brechts Galileo Galilei auf die Bühne, der Klassiker „Das Teehaus von Lao She“ wurde ohne ideologische Einflüsterungen neu inszeniert. Dieses Stück zeigt fünfzig stürmische Jahre im Leben eines Teehausbesitzers, den Zerfall des Kaiserreichs, die Gründung der Volksrepublik, den Krieg mit Japan. Der Autor Lao She, der sehr viel für die chinesische Literatursprache getan hatte, ertränkte sich gleich zu Beginn der Kulturrevolution im Pekinger See des Großen Friedens.
Die Blütezeit währte dann auch nicht lange. Nach dem Massaker am Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni 1989 wurden die Schrauben wieder angezogen, und seitdem ist eine merkwürdige Kulturindustrie entstanden, die den Geist des Kommerzes und die staatliche Kontrolle unter einen Hut bringt. Zahlreiche Theaterhäuser werden vom Poly-Konzern betrieben, dem kommerziellen Arm der Volksbefreiungsarmee, der sonst Waffen- und Immobiliengeschäfte macht. Diese Theater zeigen meist kitschigen Trash.
Die Szene unabhängiger, kreativer Bühnen ist klein. „Gesellschaftstheater jenseits der Gesellschaft“ heißt ein Kapitel in diesem Buch. Zu dieser Szene gehört etwa die Grasbühne, ein experimentelles Theaterkollektiv aus Schanghai. Der künstlerische Leiter der Grasbühne Zhao Chuan beschreibt eine interessante Erfahrung: Sie durften mal in der Banketthalle eines Vier-Sterne-Hotels in der Stadt Huaihua in der Provinz Hunan auftreten. Das Stück – „Kleine Gesellschaft, Teil I und Teil II“ – zeigt das Leben von Bettlern, Behinderten und Prostituierten. Im Publikum saß die lokale Creme de la Creme: Wirtschaftsbosse und Parteifunktionäre, viele bereits betrunken.
„Natürlich erhoben sich nicht wenige“, erinnert sich Zhao Chuan, „mit von Alkohol verursachtem Schluckauf, um selbst einmal Theater zu spielen, bezeichneten uns als Verlierer dieser Gesellschaft und sagten, es sei eine Tragödie, ein solches Stück zu machen.“ Auf seine Art entfaltet das Theater hier eine ungeheure Wirkung. Ein gutes Buch, das einem China näher bringt. Man kann es lesen, ohne Ahnung von China zu haben oder von Theater. Gerade dann sollte man es vielleicht lesen.
TIM NESHITOV
Cao Kefei, Sabine Heymann, Christoph Lepschy (Hrsg.): Zeitgenössisches Theater in China. Alexander Verlag, Berlin 2017. 440 Seiten, 38 Euro.
Viele können sich einen
Theaterbesuch nicht leisten
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