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Produktdetails
  • Verlag: Frederking & Thaler / Marino, M.
  • Originaltitel: Sweet and Sour Milk
  • Seitenzahl: 284
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 398g
  • ISBN-13: 9783894058067
  • ISBN-10: 3894058064
  • Artikelnr.: 24072505
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2001

Rebellion im Heldenschädel
Blutrotes Somalia: Nuruddin Farahs Roman "Bruder Zwilling"

Sein Vater dolmetschte die alte Sprache für den neuen Gouverneur, seine Mutter die alten Erzählungen für die neue Zeit, er selbst übersetzt sein junges Land für die ganze Welt: Nuruddin Farah, ein Ruheloser zwischen Bayreuth und Baidoa, zwischen London und Los Angeles, Khartum und Kampala, Kaduna und Kapstadt, singt ein Stück Somalia. Ist ein Stück Somalia. Hat eine der vielen Geschichten Afrikas auf dem Weg von Unterdrückung zu Unterdrückung: Im Jahre 1945 wird Farah im Süden der Kolonie geboren; er erlebt die Stunde Null der Republik, studiert in Indien, kehrt zurück. Schreibt, lehrt, eckt an: Siyad Barre, der selbsternannte Vorsitzende des Obersten Revolutionsrates und spätere Präsident Somalias, verurteilt den Schriftsteller in den Siebzigern zum Tod. Doch Farah, rechtzeitig gewarnt, entkommt. Zwei lange Jahrzehnte wird er die Heimat nicht wiedersehen und sich als Exilautor mit Veröffentlichungen, Stipendien und Preisen über Wasser halten. Nuruddin Farahs Curriculum vitae liest sich wie ein Roman: ein historischer, politischer Künstlerroman; ein guter Roman. "Sweet and Sour Milk" dagegen, Farahs 1979 veröffentlichter Auftakt zur Romantrilogie "Variations on the Theme of an African Dictatorship", ist ein schlechter. Jetzt ist das Buch unter dem Titel "Bruder Zwilling" zum zweiten Mal auf deutsch erschienen.

Wo du hingehst, will auch ich hingehen - so lautet das Versprechen, das Zwilling Loyaan seinem toten Bruder Soyaan gibt. Aber auf welche Abwege hatte der sich verirrt? War er vergiftet worden? Von einer Frau? Vom Geheimdienst? Loyaan wagt sich an unbequeme Fragen, unbequeme Antworten. Der Musterbruder mit dem Musterjob bei der somalischen Regierung hatte also ein Doppelleben geführt, hatte heimlich Frau und Kind gehabt und die Rebellion im Kopf: kein Ruhmesblatt für das System, das den toten Freiheitskämpfer flugs zum regierungstreuen Unsterblichen, zum "Märtyrer der Revolution" umfrisiert. Für diese große Lüge läßt sich so mancher kleine Mann einspannen. Selbst Soyaans Vater verkauft die Seele seines toten Sohns für ein paar Silberlinge.

Der einzige, der nicht mitspielen mag bei der zweiten, der moralischen Ermordung Soyaans, ist sein Zwillingsbruder Loyaan. Aber er muß scheitern. Das Räderwerk der Macht rotiert, wie üblich gut geschmiert, wie üblich rot gefärbt. Farah allerdings geht es weniger um die blutigen Fakten als um die dunklen Faszinationen - für den Schrecken, der hier "General" heißt, für die Gratwanderung zwischen Liebedienerei und Überlebensstrategie, für das Mißtrauen, das alle Menschen in einer Diktatur regiert. Seine "Variations on the Theme of an African Dictatorship" haben einen angestrengt poetischen Klang. Da horcht der afrikanische Pollux immerzu auf seinen Daimon, der Belehrungen erteilt, etwa für das Gespräch mit dem gleisnerischen Minister: "Du hast Macht über ihn. Halt sie fest, laß sie nicht los, laß sie nicht aus den Augen, damit sie dich nicht betrügt, damit sie sich nicht ungeliebt fühlt und woanders Anschluß sucht, wie ein Hündchen, das mit seiner Zunge den Schmerz der Einsamkeit hechelt, wie eine Katze, die sich einfach jedem anschließt." Die unerbittliche "Stimme in seinem Innern" fordert den armen Kerl auf: "Du mußt dabei helfen, daß die Drähte des Antagonismus und die Masse der ungenutzten menschlichen Elektrizität sich treffen und verschmelzen . . . in dir müssen sich die Kräfte des Lebens (Loyaan) und die Kräfte des Todes (Soyaan) treffen; in dir muß sich sammeln und treffen das anfanglose Ende einer Nachgeburt: leck sie, solange sie noch feucht ist." Und so weiter und so weiter.

Da versteigt sich die Mutter der Zwillinge zu wilden Anschuldigungen und Schwarzer Magie, derweil "die Brunnen ihrer Augen" überfließen von Tränen - und die Bilder ihres Autors Amok laufen. "Ihre Wimpern stippten in jenen Teich ein und aus wie Küken, die mit ihren Krallen hungrig im Staub scharren. Ihre sintflutartige Reaktion schnürte ihr die Kehle zusammen." Und für die Freundin mit den "schön geformten Schenkeln", dem "wundervollen Körper" gilt: "Die Umrisse ihrer wunderschönen Figur zeichneten die Karte ihrer sexuellen Geographie." Man ist dem Übersetzer geradezu dankbar für Schlichtheiten wie die Feststellung, "daß jeder Zwilling den anderen vervollständigte, der wiederum ihn ergänzte" - hat der Lektor, so es einen gab, doch selbst die megalomanen Miniaturgleichnisse am Anfang jedes Kapitels stehengelassen ("wie der knochenlose Fötus, gefangen in den Membranen der Mutterschaft") und all die Mysterien unserer zwei männlichen Helden: "Das Haar in seinen Achselhöhlen war dichter geworden vom Humus seines Schweißes."

Der schwitzende Leser jedenfalls denkt unwillkürlich: "Streichen!" Denn die metaphysischen Kraftmeiereien und poetischen Prassereien, die kleinkarierten Klischees und geblähten Belanglosigkeiten entstammen keineswegs dem genialischen Übersprudeln traditioneller Erzählkultur auf dem Schwarzen Kontinent. Mit strengen Strichen hingegen hätte der Verlag einen schmalen, aber spannenden und konzisen Roman über die Verflechtung somalischer Sitten und afrikanischer Diktatur, eine treffsichere Studie jüngster somalischer Vergangenheit zwischen Zaubersprüchen und kommunistischem Manifest, zwischen den Gebeten der Scheichs und den Kommandos der Militärjunta vorlegen können. Ganz ohne variations.

ALEXANDRA M. KEDVES

Nuruddin Farah: "Bruder Zwilling". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Hielscher. Marino bei Frederking & Thaler, München 2000. 287 Seiten, geb., 39,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Alexandra M. Kedves macht keinen Hehl daraus, dass sie das ereignisreiche Leben des Autors für den wesentlich besseren Roman hält als das vorliegende Buch. Sie moniert einen "angestrengt poetischen Klang", und darüber hinaus scheint es sie für nicht sehr gelungen zu halten, dass der "afrikanische Pollux" immerzu von seinem "Daimon" belehrt wird, wofür sie zahlreiche Zitate anfügt. Passagen dieser Art hätten ihrer Ansicht nach den Rotstift des Lektors erfordert, der einen Teil dieser "metaphysischen Kraftmeiereien und poetischen Prassereien, die kleinkarierten Klischees und geblähten Belanglosigkeiten" aus dem Text gestrichen hätte. Dann hätte ihrer Ansicht nach durchaus ein "spannender und konziser" Roman dabei herauskommen können, der darüber hinaus ein interessantes Bild von den Sitten, der Diktatur und der Geschichte Somalias hätte bieten können.

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