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Produktdetails
  • Verlag: edition diskord
  • 1999.
  • Seitenzahl: 655
  • Deutsch
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 882g
  • ISBN-13: 9783892956532
  • ISBN-10: 3892956537
  • Artikelnr.: 08056642
Autorenporträt
Günter Gödde (Dr. phil.) ist Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis und Dozent, Supervisor sowie Lehrtherapeut an der Berliner Akademie für Psychotherapie. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte der Psychoanalyse, Verhältnis von Psychoanalyse und Philosophie sowie von Therapeutik und Lebenskunst.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.07.2000

Wo Nietzsche war, sollte Freud werden
Und Schopenhauer konnte manchmal vermitteln: Günter Gödde beschreibt einen Mittelweg für die Entstehung des „Unbewussten”
Die Theorie des Unbewussten ist eines der unabdingbaren Wesenselemente der Psychoanalyse. Sie ist dies so sehr, dass das Wort „das Unbewusste” mit dem psychoanalytischen Verständnis der Sache „das Unbewusste” identisch scheint. Wer von „Unterbewusstsein” spricht, tut unmittelbar kund, dass er bewusst von etwas anderem spricht – oder nicht weiß, wovon er spricht.
Die starke Position dieser Teiltheorie, der zweifellos eine Schibboleth-Funktion zukommt – an ihr scheiden sich die Geister, insbesondere die philosophischen –, verführt indes leicht zu einer rückblickenden Verfälschung der Geschichte. Man ist nur allzu sehr bereit, den psychoanalytischen Neubeginn mit einer Art Geburt der Psychoanalyse aus dem selbstanalytisch erprobten Geiste ihres Schöpfers gleichzusetzen – zumal dann, wenn die aktuelle historische Betrachtung allzu sehr auf eine Relativierung und Minimierung der Freudschen Leistungen hinausläuft, wie dies etwa in den neueren Arbeiten zur Psychobiologie der Fall ist (Stichwort: Psychodarwinismus).
Es gilt einen vermittelnden Weg (keinen Mittelweg!) zu finden zwischen einer internen Geschichte der Psychoanalyse, die stets in der Gefahr steht, ihre Gründungsakte zu überhöhen und Hagiographie zu betreiben, und einer allgemeinen Geschichte der Wissenschaften oder der Diskurse, die an der Entstehung der Psychoanalyse beteiligt waren. Und nicht zuletzt geht es um das Verhältnis von Psychoanalyse und Philosophie. Das 19. Jahrhundert ist das Zeitalter der Ablösung der Human- und Sozialwissenschaften von Geist und Methode der Philosophie. Freud hat die Psychoanalyse stets als eine Erfahrungs- und Beobachtungswissenschaft begriffen und sich als Empirist und Positivist verstanden.
Was Günter Göddes Buch leistet, ist genau jene Integration von Vorgeschichte und Geschichte der Psychoanalyse, von innerer und äußerer Betrachtung, die es braucht, um jede voreilige Reduktion der psychoanalytischen Theorie zu vermeiden. Die Theorie des Unbewussten erweist sich weit weniger als der monolithische Block, für den sie angesehen wird. Vielmehr lassen sich bei Freud selbst an den werkgeschichtlichen Etappen der Theorie des psychischen Apparates und des Triebes unterschiedliche Integrationen, teils auch Vermischungen der drei großen Konzeptionen des Unbewussten festmachen, die in der Vorgeschichte der Psychoanalyse bestimmend waren: Gödde unterscheidet die Konzeption eines „kognitiven” Unbewussten (von Leibniz bis Helmholtz), eines „vitalen” Unbewussten (Herder, Goethe, Schelling, Carus) und eines „triebhaft irrationalen” Willens (Schelling, Schopenhauer, von Hartmann, Nietzsche). Freuds eigene Entwicklung wird von Gödde als Erweiterung eines kognitiv verstandenen Unbewussten (unbewusste Gedanken!) durch vitale und triebhaft irrationale Elemente dargestellt, die schließlich in der Theorie des Todestriebs, der Konzeption des Es und der zunehmenden Betonung einer irreduziblen Destruktivität zu einem konzeptionellen Umbruch führte.
Dies wird von Gödde sehr plausibel dargestellt, beinhaltet aber eine Orientierung an einem sehr allgemeinen Bild der Freudschen Psychoanalyse, das die nachfreudianischen Revisionen und Auseinandersetzungen nahezu unbeachtet lässt. Um anzudeuten, was dabei auf dem Spiel steht: Lacan (der mit seiner „strukturalen Psychoanalyse” im Buch ganz beiläufig eingeordnet wird, doch bereits im ansonsten soliden Personenregister fehlt) hat alles dafür getan, um die Dimension eines triebhaft irrationalen Unbewussten wieder aus der psychoanalytischen Theorie zu entfernen, ohne dabei eine der Etappen der Freudschen Triebtheorie auszuschließen. Doch da der Schwerpunkt des Buches weniger auf der innertheoretischen Auseinandersetzung der Psychoanalyse als auf einer „Genealogie” ihrer Grundkonzepte liegt, ist dies bestenfalls als Einwand gegen eine Lektüre des Buches zu verstehen, die verkennt, wie hier das Aktuell-Theoretische in der Schwebe gehalten ist.
Großen Raum nehmen die Beziehungen von Schopenhauer zu Freud und von Nietzsche zu Freud ein, wobei sich Gödde auf eine Vielzahl neuerer Untersuchungen stützen kann, nicht zuletzt auf die Studie von Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud (siehe SZ vom 28./29. 3. 98), die er angemessen würdigt. Angesichts einer Arbeitsweise, die mehr auf Großfresken abzielt, kann Gödde der von Gasser durchgeführten wechselseitigen Durchdringung der theoretischen Optionen von Nietzsche und Freud en détail wenig hinzufügen. Insgesamt aber gelingt ihm so etwas wie eine Triangulation Schopenhauer-Nietzsche- Freud, in der sich für manchen Bezug zwischen Freud und Nietzsche, der sich nicht auf direkte Rezeption zurückführen lässt, der von Freud weniger massiv verweigerte Schopenhauer als vermutlich gemeinsame Wurzel erahnen lässt. Wie überhaupt Gödde jene Denker an Kontur gewinnen lässt, die wesentlich das 19. Jahrhundert beherrscht haben und mit ihm trotz ihres damaligen Erfolges weitgehend vergessen wurden: Johann Friedrich Herbart, Carl Gustav Carus, Eduard von Hartmann, um nur die Wichtigsten zu nennen.
HANS-DIETER GONDEK
GÜNTER GÖDDE: Traditionslinien des „Unbewussten”. Schopenhauer – Nietzsche – Freud. Edition Diskord, Tübingen 1999. 656 Seiten, 78 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2000

Was der Wille erlebt, erreicht die Nachwelt nicht immer
Hat Freud Nietzsche nun studiert oder musste er ihn gar nicht lesen? Günter Gödde sucht Traditionslinien des Unbewussten

Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud waren sich der Ereignishaftigkeit ihres Denkens bewusst, das jeweils einen Umsturz in der abendländischen Diskursordnung bewirkte - die Genealogie, indem sie den Wert der Werte in Frage stellte, den Zufall als Herrn ihrer Geschichte und die Interpretationsbedürftigkeit als ihr eigentliches Wesen erkannte; die Psychoanalyse, indem sie das Bewusstsein in Frage stellte, das Unbewusste als Herrn des Ich und die Triebhaftigkeit als sein eigentliches Wesen durchschaute. Nietzsche bezeichnete sich im Kapitel seiner Autobiografie "Ecco homo", das Antwort auf die Frage gibt, "Warum ich ein Schicksal bin", umstandslos als "Dynamit". "Es wird einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen - an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung herausbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war."

Und Freud - der Nietzsches Diktum gekannt haben kann, "nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtnis" - prägte den Hörerinnen und Hörern seiner "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" die Erinnerung an den Namen Freud ein, indem er ihn mit der "dritten und empfindlichsten Kränkung" der menschlichen Größensucht nach Kopernikus und Darwin verknüpfte. Doch wie vergleicht man Ereignisse miteinander? Foucault hat, um Nietzsche, Freud und Marx zueinander in Beziehung setzen zu können, die Ereignishaftigkeit ihres Denkens selbst zum Thema gemacht und sie als "Diskursivitätsbegründer" bezeichnet: Ihre Texte haben dauerhaft eine neue Dimension des Denkens erobert, in der sich noch ihre Gegner bewegen müssen, wollen sie mitreden.

Der Berliner Psychoanalysehistoriker und Psychotherapeut Günter Gödde ist im Fall von Schopenhauer, Nietzsche und Freud den umgekehrten Weg gegangen; er betont als verbindendes Moment nicht den Bruch mit herkömmlichen Denkweisen, sondern verankert Freuds Metapsychologie in der Philosophiegeschichte und bettet Schopenhauer, Nietzsche und Freud in gemeinsame "Traditionslinien des ,Unbewußten'" ein, allen voran die "Denktradition des ,triebhaft-irrationalen' Willens", den Gödde vom "kognitiven" Unbewussten bei Leibniz, Kant, Herbart, Fechner und Helmholtz und vom "vitalen" Unbewussten bei Herder, Goethe, Schelling und Carus abgrenzt. Weil Gödde gleichzeitig die verschiedenen Entwicklungsphasen sorgfältig rekonstruiert, in denen sich Freuds Konzeption des Unbewussten in der Auseinandersetzung mit diesen widerstreitenden Traditionslinien wandelt, kann sein Buch auch als umfassende Einführung in die Psychoanalyse und ihre Entstehungsgeschichte gelesen werden.

Den Fluchtpunkt der von Gödde ausgezogenen Traditionslinien bildet "die implizite Philosophie" der Psychoanalyse, wie sie in Freuds Anthropologie zum Ausdruck kommt. Sie ist geprägt von der Anschauung des Menschen als "homo natura". Im Gegensatz zu Arthur Schopenhauer aber, der in eigenen klinischen Beobachtungen Freuds Entdeckung der Verdrängung vorweggenommen hat, ist diese Natur gänzlich naturwissenschaftlich-empirisch entzaubert. Im Gegensatz zu Nietzsche, der im Menschen lediglich "das noch nicht festgestellte Thier" sah, erschöpft sie sich bei Freud aber auch nicht in ihrer Formbarkeit. So nimmt Freud in den Augen von Gödde eine "Mittelstellung" ein, wobei die "radikale Absage an die Metaphysik Nietzsche und Freud gegen Schopenhauer vereint".

Gödde hat eine intellektuell sehr redliche Arbeit vorgelegt: Die einschlägigen Monografien und Aufsätze zu Freuds Schopenhauer-Rezeption von Bernd Nietzsche, Margret Kaiser-El-Safti und Marcel Zentner und zu Freuds Nietzsche-Rezeption von Reinhard Gasser (F.A.Z. vom 21. April 1998), Renate Schlesier und die Beiträge zum Sammelband von Johann Figl sind sorgfältig und kritisch ausgewertet; neue Quellenfunde hat Gödde selbst zur Diskussion nicht beizutragen. Unter den möglichen Verbindungsfiguren zwischen Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud - unter denen Gödde zu Recht die Bedeutung von Josef Paneth herausstreicht, der Freud leider verlorene Briefe über seine Begegnung mit Nietzsche 1884 geschrieben hat - fehlt lediglich Otto Gross.

In der Frage nach Freuds vermeintlicher Abhängigkeit von Nietzsche schließt sich Gödde nahezu vorbehaltlos Gasser an; er plädiert modifizierend nur für die philosophiegeschichtliche Erweiterung des Fragehorizonts. Beide halten die von Freud in seinen Selbstdarstellungen mehrfach thematisierte - und noch immer erklärungsbedürftige - Berührungsscheu für glaubwürdig, ein Nietzsche-Studium Freuds für ausgeschlossen. Renate Schlesier dagegen kommt in ihrer 1997 veröffentlichten Studie auf Grund derselben Indizien wie Gasser und Gödde zum gegenteiligen Schluss. Freuds zielsicher ausweichende Selbstdarstellungen setzen in ihren Augen "fraglos ein gründliches Nietzsche-Studium voraus". Doch wo die Interpretation der Interpretation als "Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen" (Nietzsche) auf dem Spiel steht, darf sich niemand wundern, wenn der Kampf um die Deutungsmacht weitergeht.

MARTIN STINGELIN

Günter Gödde: "Traditionslinien des ,Unbewußten'". Schopenhauer, Nietzsche, Freud. edition diskord, Tübingen 1999. 656 S., geb., 78,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

In einer gelehrten Rezension kommt Martin Stingelin zu dem Schluss, dass der Autor hier eine "intellektuell sehr redliche Arbeit vorgelegt" habe. Neue Quellen kann er in diesem Band zwar nicht ausmachen, andererseits erläutert der Rezensent, wie Gödde die Beiträge anderer Autoren zur Schopenhauer- bzw. Nietzsche-Rezeption zusammengetragen und ausgewertet hat. Die Frage, inwiefern Freud mit dem Werk Nietzsches vertraut war, wird hier - wie Stingelin feststellt - allerdings auch nicht geklärt. Gödde behauptet, dass Freud diese Werke nicht kannte, Stingelin weist jedoch auf einen Aufsatz von Renate Schlesier hin, die "auf Grund derselben Indizien" zu einem gegenteiligen Ergebnis kommt. "Der Kampf um die Deutungsmacht" geht also weiter, resümiert Stingelin. Lobend hebt er jedoch hervor, dass Gödde sehr genau die Phasen nachzeichnet, "in denen sich Freuds Konzeption des Unbewussten in der Auseinandersetzung mit diesen widerstreitenden Traditionslinien wandelt". Daher sei der Band als Einführung in die Psychoanalyse durchaus von Wert, meint Stingelin.

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