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Boltanskis Werk und sein Umgang mit dem Holocaust stellt eine Herausforderung auch an Disziplinen jenseits der Kunstwissenschaft dar.Christian Boltanski gehört zu den international renommiertesten Gegenwartskünstlern. Sein künstlerischer Umgang insbesondere mit der Erinnerung an den Holocaust hat diesen Ruf weit über die Kunstwelt hinaus begründet. In einer geisteswissenschaftlichen Forschungssituation, in der Erinnerungskulturen und Phänomene des kulturellen Gedächtnisses im Zentrum des Interesses stehen, sind seine Beiträge eine Herausforderung auch für Disziplinen jenseits der…mehr

Produktbeschreibung
Boltanskis Werk und sein Umgang mit dem Holocaust stellt eine Herausforderung auch an Disziplinen jenseits der Kunstwissenschaft dar.Christian Boltanski gehört zu den international renommiertesten Gegenwartskünstlern. Sein künstlerischer Umgang insbesondere mit der Erinnerung an den Holocaust hat diesen Ruf weit über die Kunstwelt hinaus begründet. In einer geisteswissenschaftlichen Forschungssituation, in der Erinnerungskulturen und Phänomene des kulturellen Gedächtnisses im Zentrum des Interesses stehen, sind seine Beiträge eine Herausforderung auch für Disziplinen jenseits der Kunstwissenschaft. Das Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen hat Christian Boltanski eingeladen, um an seinem Werk Leistungen und Grenzen künstlerischer Arbeit am kulturellen Gedächtnis auszuloten - im Vergleich zur wissenschaftlichen Arbeit an diesem Gedächtnis. Christian Boltanski hat eine Arbeit beigetragen, die hier erstmals publiziert wird. Sie bedient sich einzelner Blätter aus der Zeitschrift »Signal«, die von 1940 bis 1945 von der deutschen Wehrmacht produziert und nur im Ausland verkauft wurde. Das seinerzeit unter (bild-)journalistischen Gesichtspunkten bahnbrechende Produkt wurde allein in den ersten drei Jahren in mehr als hundert Millionen Exemplaren und bis zu zwanzig Sprachen im Ausland verkauft. Boltanski hat aus zwanzig Heften des »Signal« jeweils einen farbigen Doppelaufschlag herausgenommen. Das Zusammentreffen der auf der linken und der rechten Seite des Blattes gedruckten Bilder ist zwar rein drucktechnisch bedingt, aber doch zugleich die Botschaft der Zeitung: Stets stehen »überlegene« Wehrtechnik und »überlegene« Kultur zusammen - und weisen den Weg in ein nach dem deutschen Sieg vermeintliches vereintes ideales Nachkriegseuropa.Inhalt:Christian BoltanskiSignalBernhard JussenSignal - Zur EinleitungSignal - An IntroductionThomas LentesLiturgien des Verschwindens. Materialreferenz in Kunst und ReligionLiturgies of Disappearing. Material References in Art and ReligionOtto Gerhard OexleMemoria und Kulturelles Gedächtnis im Werk Christian BoltanskisChristian Boltanski: Memoria and Cultural MemoryMonika SteinhauserImages stimuli. Boltanskis Kunst nach dem HolocaustImages stimuli. Boltanski's Art after the HolocaustZitierte LiteraturBibliographieAbbildungsnachweiseAcknowledgements
Autorenporträt
Bernhard Jussen ist Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Die Reihe »Von der künstlerischen Produktion der Geschichte« hat er 1997 am MPI für Geschichte in Göttingen begründet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.2004

Neueuropa
"Signal": Christian Boltanskis Herausforderung an Historiker

Völker, seht das "Signal"! Von April 1940 bis März 1945 ließ die Abteilung Wehrmachtspropaganda des Oberkommandos der Wehrmacht eine Illustrierte erscheinen, die nicht für die Soldaten und nicht für die Heimatfront gedacht war, sondern für das besetzte und das neutrale Ausland. Die deutschsprachige Ausgabe der "Zeitschrift für das neue Europa" wurde in der Schweiz vertrieben. Harald Lerchenperg, Chefredakteur der "Berliner Illustrierten Zeitschrift", hatte Konzept und Layout entwickelt; 1943 übernahm Giselher Wirsing die Chefredaktion. Was signalisierte das Blatt den Neueuropäern? Die Zukunft war bunt. Acht Seiten jeder Ausgabe wurden farbig gedruckt. Die Bilder sprachen für sich, brauchten die knappen Legenden kaum.

Wer die Eroberung des Kontinents nicht als Nachbarschaftshilfe anzusehen geneigt war, dem führte "Signal" wie jede gute Illustrierte das belebende Nebeneinander des Disparaten vor, Momentaufnahmen einer Welt in Bewegung, eine Vielfalt spontaner Aktionen, deren Gemeinsames die Aura der Vitalität war. Ein wohlbehüteter Bauer, es könnte Heidegger sein, schreitet hinter einem Ochsengespann - daneben die Luftwaffe, die den Himmel durchpflügt. Ein Revuestar im Glitzerkleid - daneben Großadmiral Raeder im Glanz seiner Orden. Zwei Kanonenrohre nehmen ein Schiff ins Visier, gleich werden sie feuern - daneben ein stiller Gelehrter mit zwei Glühbirnen in den Händen, gleich wird es funken.

Dieser stereoskopische Effekt, dieser Blick in einen Raum nonchalanter Gesten und heroischer Verrichtungen, den das Übereinanderblenden benachbarter Bilder erzeugt, verdankt sich allerdings einem künstlerischen Akt der Verfremdung. Christian Boltanski hat zwanzigmal zwei Bilder aus dem Zusammenhang gelöst, Diptychen der Druckerpresse, die im Heft gleichsam verborgen waren wie in einem Faltaltar - nur daß er durch Entfernung der Klammern sozusagen den Altar auseinandernehmen mußte, um unserem Auge Korrespondenzen zu enthüllen, die sich dem durchblätternden Leser nicht erschließen konnten. Der Künstler hat seine Arbeit auf Einladung des Göttinger Max-Planck-Instituts für Geschichte angefertigt. Dokumentiert wird sie in einem ansprechend gestalteten Band, der eine ungewöhnliche Publikationsreihe des Instituts zu einem würdigen Abschluß bringt. Fünfmal hatte Bernhard Jussen, Mediävist von Hause aus, mittlerweile Professor in Bielefeld, Gegenwartskünstler nach Göttingen gelockt, um mit ihnen die "künstlerische Produktion der Geschichte" als Gegenbild des geschichtswissenschaftlichen Produktionsprozesses zu erörtern.

Das Losungswort lautete Eingriff oder Intervention - es trifft Boltanskis Umgang mit den millionenfach verbreiteten, heute extrem seltenen Bilderheften besonders genau. Man könnte die Dekontextualisierung, die Boltanski an seinem Material vornimmt, für eine Parodie der historischen Methode halten. Durch die Zerlegung des "Signals" präpariert er Mitteilungen heraus, die nicht intendiert waren und die man entweder als jene subkutanen Botschaften nehmen kann, die das Geheimnis aller Propaganda sind - oder aber als Erfindungen des Künstlers. Auch Klio dichtet: Fiktiv ist in den Reihungen, durch die sich historischer Sinn akkumuliert, keine einzelne Einzelheit, sondern das gesamte Arrangement - mit der besonderen Pointe, daß Boltanski ja gewissermaßen Anti-Collagen zeigt, daß er nichts ausgeschnitten und nach seinen Vorstellungen umgruppiert hat, sondern eine ursprüngliche Ordnung der Dinge restauriert, die allerdings dem Anschein nach allein technische Gründe hat. Das Unternehmen Sinnsuche läuft auf am Nacheinander des medialen Herstellungsvorgangs.

Die Klammer, die Boltanski verworfen hat, taugt zum Emblem einer ernüchterten Theorie der Geschichtserkenntnis. Wie die Illustrierte die Armenbibel des neuen Europa ist, so markiert die Buchbindersynthese das Telos der historischen Sinnbildung. Doch solche postmoderne Gedankenspielerei bezeichnet weder den Ansatz noch das Ergebnis des Göttinger Experiments. Jussens Antrieb war ein Unbehagen an der geschichtstheoretischen Debatte, in der die These vom ästhetischen Charakter der historischen Erkenntnis geläufig ist, aber anhand eines Maßstabs entwickelt wird, der längst selbst historisch ist: des Romans der Goethezeit. Das von Daniel Fulda im Innersten von Rankes Geschichtsschreibung entdeckte Ideal der geschlossenen Erzählung, deren Sinn sich als vollständiges System interner Verweisungen darstellt, versteht sich für die als Forschung operierende Geschichtswissenschaft nicht mehr von selbst. Sie hat es mit einem dokumentarischen Material zu tun, das in der Sinnökonomie der historischen Erzählung sowohl als Defizit als auch als Überschuß zu Buche schlägt. Einerseits läßt sich der Beleg nicht restlos unter die Hypothese subsumieren, andererseits tritt er charakteristischerweise in Gesellschaft auf, als Ziffer einer Datenmenge.

Jussens mediävistische Forschungen gelten der historischen Semantik: Durch Wortfeldstatistik revidiert er herrschende Meinungen über den Geist des Mittelalters, die immer wieder in demselben überschaubaren Zitatenpool fischen. An die Stelle der historistischen Kippfigur jener Individualität, die etwas Allgemeines und etwas Besonderes sein soll, tritt in einer modernen Historik die Beziehung von Raster und Dokument. Keine Forschung ohne Material: Das ist eigentlich schon bei Droysen das Realitätsprinzip der Historie und die Grenze jenes radikalen Konstruktivismus, für den damals spekulative Gründe angeführt wurden und heute Nachrichten aus der Hirnforschung. Boltanskis Kunstsprache legt es nicht darauf an, den Historikern Signale zu geben. Aber es steht ihnen frei, seine Auratisierung des Archivalischen als Zeichen zu nehmen: als Signatur eines positivistischen Zeitalters ohne mimetische Illusion. Fortschritt ist eine Sache des technischen Standards: Das Europa der Zeitschrift "Signal" ist gespenstischerweise wirklich nicht veraltet.

PATRICK BAHNERS

"Signal - Christian Boltanski". Herausgegeben von Bernhard Jussen. Deutsch und englisch. Mit Beiträgen von Thomas Lentes, Otto Gerhard Oexle und Monika Steinhauser. Von der künstlerischen Produktion der Geschichte, Band 5. Wallstein Verlag, Göttingen 2004. 140 S., geb., Abb., 29,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Patrick Bahners ist des Lobes voll für den vom Mediävisten Bernhard Jussen herausgegebenen fünften Band der Reihe "Von der künstlerischen Produktion der Geschichte": "Signal - Christian Boltanski". Bei der Zeitschrift "Signal" handelte es sich um eine von Anfang 1940 bis Anfang 1945 in der Abteilung Wehrmachtspropaganda des Oberkommandos der Wehrmacht erschienene Illustrierte, die dem besetzten Ausland zeigen sollte, welch glorreiche, vielseitig-bunte Zukunft unter der deutschen Herrschaft ins Haus stünde. Der Künstler Christian Boltanski hat sich nun des historischen Materials angenommen und macht auf ganz unspektakuläre Weise - indem er die Doppelseiten aus der Verklammerung löst und so die journalistischen Zusammenhänge entfernt - deutlich, welche unvermuteten Verfremdungspotenziale in jener "Zeitschrift für das neue Europa" steckten: Ein Bauer pflügt seinen Acker nun neben Jagdbombern, die den Himmel durchpflügen, ein "Revuestar im Glitzerkleid" posiert neben einem Großadmiral, der seine Ordenpracht glitzern lässt. Boltanski stellt, indem er gewissermaßen den verdeckten Positivismus in den alten Heften zum Vorschein bringt, das "Realitätsprinzip der Historie" in Frage; mit seiner "Dekontextualisierung", schreibt Bahners, schaffe er eine negative Metapher für das historiographische Verfahren und weist dadurch hin auf das Fiktionale jeder geschichtswissenschaftlichen Interpretation, so der Schluss des Rezensenten.

© Perlentaucher Medien GmbH
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