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Meike G. Werner untersucht die Experimente der europäischen Moderne fernab der großen Metropolen.Georg Simmel hat in seinem berühmten Essay »Die Großstädte und das Geistesleben« die Großstadt als den klassischen Ort der Moderne bezeichnet. Der dort gleichfalls explizierte Gegensatz zwischen Großstadt und Moderne auf der einen sowie provinzieller Kleinstadt und Traditionalismus auf der anderen Seite verschleiert jedoch die Komplexität und vielfältigen Nuancen moderner Kulturgeschichte mehr, als daß er aufklärt. Manche bedeutenden Experimente der europäischen Moderne fanden fernab der großen…mehr

Produktbeschreibung
Meike G. Werner untersucht die Experimente der europäischen Moderne fernab der großen Metropolen.Georg Simmel hat in seinem berühmten Essay »Die Großstädte und das Geistesleben« die Großstadt als den klassischen Ort der Moderne bezeichnet. Der dort gleichfalls explizierte Gegensatz zwischen Großstadt und Moderne auf der einen sowie provinzieller Kleinstadt und Traditionalismus auf der anderen Seite verschleiert jedoch die Komplexität und vielfältigen Nuancen moderner Kulturgeschichte mehr, als daß er aufklärt. Manche bedeutenden Experimente der europäischen Moderne fanden fernab der großen Metropolen statt, sei es in Darmstadt oder Weimar, Nancy oder Lyon, Czernowitz oder Triest. Meike G. Werner untersucht die Moderne in einer deutschen Provinzstadt an der Schwelle zum 20. Jahrhundert: Jena in Thüringen. Der Eugen Diederichs Verlag, die Intellektuellen des »jungen Jena« wie Karl Korsch, Wilhelm Filtner und Rudolf Carnap sowie die Schriftstellerin Helene Voigt-Diederichs sind der Fluchtpunkt, von dem aus die Perspektive einer expandierenden und sich bewußt modern gebenden deutschen Stadt facettenreich nachgezeichnet wird. Jena gilt der Autorin als intellektuelles Kräftefeld, in dem die Akteure abseits großstädtischer Zentren zu kultureller Produktivität angeregt wurden. Insbesondere wird gezeigt, wie der Verleger Eugen Diederichs Jena für sein Programm nationalkultureller Identitätsstiftung nicht nur kulturutopisch neu besetzte, sondern es auch konkret veränderte. Dem interdisziplinären Ansatz der amerikanischen Cultural Studies verpflichtet argumentiert Meike G. Werner, daß die Moderne in der Provinz sich nicht als Gegensatz, sondern vielmehr als Korrektur der großstädtischen Moderne verstand.
Autorenporträt
Meike G. Werner lehrt als Professorin für German and European Studies an der Vanderbilt University (USA). Gegenwärtig ist sie Präsidentin der American Friends des Deutschen Literaturarchivs in Marbach (AFM).Veröffentlichungen u. a.: Ein Gipfel für Morgen (Hg., 2021); Eduard Berend und Heinrich Meyer (Hg., 2013); Moderne in der Provinz (2003); German Literature, Jewish Critics (Mithg., 2002); sowie Mitherausgabe der Zeitschrift IASL.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.06.2003

Der Neue Mensch in Jena
Eugen Diederichs und die romantische Moderne um 1900
Erst kommt die kreative Kleinstadt, dann folgt die schwerfällige Metropole. Der moderne Mensch experimentiert mit seiner Individualität lieber in der Provinz, dann institutionalisiert er das Geistesleben in den Großstädten. Auf diese Weise lenkt die an der Vanderbilt- Universität in Nashville lehrende Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Meike G. Werner erstmals die Aufmerksamkeit auf Jena als Ort neuartiger Geselligkeit an der Epochenschwelle zum 20. Jahrhundert. Wie das in Windeseile industrialisierte Jena zugleich in ein weltanschauliches Laboratorium verwandelt wurde, ist als Bühnenstück in drei Akten dargestellt. Im ersten Akt wird der Übergang von der verschnarchten Provinz zum Kreuzungspunkt industrieller und intellektueller Kreise geschildert. Ernst Abbe führt Zeiß- Jena an die Spitze der naturwissenschaftlichen und militärischen Präzisionstechnik in Deutschland. Ernst Haeckel und Rudolf Eucken setzen neue Energien des positivistischen wie des idealistischen Denkens frei.
Zu Beginn des zweiten Aktes fährt ein Güterzug in den Bahnhof ein und transportiert einen Verlag aus der Büchermetropole Leipzig in das bislang vom renommierten Universitätsverlag Gustav Fischer beherrschte Jena. Es ist Eugen Diederichs, der den Ortswechsel seines erst achtjährigen Unternehmens zum Manifest einer neuen romantischen Moderne erklärt. Einen „Versammlungsort moderner Geister” will er gründen. Was er vorfindet, genügt ihm nicht: Jena muss neu erfunden werden. Wie Diederichs es erfindet, ist das Thema dieses Buches.
„Kulturtopographische Hermeneutik” nennt Werner ihre Methode. Hiernach rangiert Diederichs als Typus des modernen Kulturverlegers noch vor dem Berliner S. Fischer Verlag. Damit nimmt Werner die Perspektive des Verlegers ein, der als „kultureller Reichsgründer” aus diesem Akt hervorgeht. Bereits mehrfach untersucht sind die Ambivalenzen der Verlagspolitik zwischen dem Universalismus der Märchen, Mythen und Religionen aller Völker und Zeiten und dem extremen Nationalismus einer pangermanischen Hegemonie. Meike Werner geht es weniger um die Lesebücher des Verlages als um die Lebensformen und Kulturpraktiken, die der Verleger zwischen 1904 und 1914 in Jena einführte.
Das Titelbild zeigt die Utopie, wie sie der Saale-Maler Erich Kuithan entwirft: idealisiertes Menschentum in arkadischer Landschaft, jugendliche Natürlichkeit und mythische Überwindung des industriellen Alltags. Ausführlich beschrieben sind die Schiller-, Werkbund- oder Sonnenwendfeste, mit denen der Nietzsche- und Lagardeapostel Diederichs zu neuer Sinnstiftung durch eine nachchristliche Kunstreligion aufruft. Aus dem Fest der Selbsterlösung, mit hellenischen Ringkämpfen, mittelalterlichen Reigen und modernem Ausdruckstanz, dazu Gesprächskreise um die aus Schweden angereiste Sozialreformerin Ellen Key, soll der neue Mensch hervorgehen.
Gleichberechtigt neben dem Verleger betritt die Verlegergattin Jenas Bühne, die mit Heimatkunst und neuer Weiblichkeit experimentierende, als bildschön vorgestellte Dichterin Helene Voigt. Allerdings überdehnt sie die Spielregeln der keuschen Erotik der Feste und Lesezirkel und lässt die Ehe zerbrechen. Literarisch findet sie später Gefallen daran, wie ihr Werk zusammen mit anderen Diederichsautoren in den Kanon der Nazis einbezogen wird. Ein eigenes Kapitel zeichnet das bisher sorgfältigste Porträt der Voigt- Diederichs. Dort, wo für manche von der Kunsterziehung der Jahrhundertwende eine Brücke ins braune Geisterreich führt, macht Werner allerdings die Eigenständigkeit des modernen Aufbruchbewußtseins geltend.
Dieser Aufbruchstimmung, lebensfroh und weder durch intellektuelle Gesellschaftsanalyse noch durch Kulturpessimismus getrübt, ist der dritte Akt gewidmet. Die Jenaer Studenten treten auf, und Eugen Diederichs bildet aus ihrer Mitte eine Elite nach seinem Sinn, den Serakreis. Im universitären Alltag üben sie als modern organisierte Freistudentenschaft demokratische Selbstverwaltung, zücken das Schwert des Geistes im Namen Fichtes und verachten Brot- wie Bierstudententum. Auf ihren Festen stillen sie ihren Hunger nach Ganzheit. Mit Volkslied, Lyrik und Gitarre unternehmen sie Vagantenfahrten auf Leiterwagen und inszenieren mittelalterliche Schreittänze auf umliegenden Marktplätzen. Meike Werner interpretiert ihre Rituale mit dem Anthropologen Victor Turner als „Liminalität”, als gelebte genuin moderne Geselligkeit im altdeutschen Gewand.
Wege der Weltflucht
Einer bleibt skeptisch, ob in Jena wirklich der neue Mensch geboren wird. Max Weber, in Heidelberg Repräsentant einer ganz anderen Reformidee mit politischem Liberalismus, bürgerlicher Frauenemanzipation und der Ästhetik Stefan Georges, hat dort, wo Werner sakrale Liminalität ausmacht, mystische Weltflucht erkannt. Weber hat sich nicht lustig gemacht, wie die Autorin vermutet. Im Gegenteil, todernst nimmt er die Jugendbewegung. Auf Diederichs‘ Kulturtagung in Lauenstein spricht er über Persönlichkeit und Lebensordnungen und will in seinen beiden berühmten Reden über Wissenschaft und Politik als Beruf wissen, ob das Freistudententum Windbeutel hervorbringt oder den rücksichtslosen Blick auf die sozialen Realitäten, die Konflikte des Lebens schult.
Werners Antwort darauf ist der Verweis auf einige prominente Lebensläufe. Zu Karl Korsch und Wilhelm Flitner hat sie viel Unbekanntes zu Tage gefördert, der Logiker Rudolf Carnap ist ihr Musterbeispiel für eine Serakreis-Karriere, Alfred Kurella hätte sie einbeziehen können, den obersten Kulturfunktionär der DDR. Nicht nur zu Berlin, auch zur Intellektuellenkultur Heidelbergs hat das Diederichs-Jena seine Gegenakzente gesetzt. Wer den Eigensinn dieser romantischen Moderne verstehen will, muss jetzt die dichte Beschreibung von Meike Werner lesen.
GANGOLF HÜBINGER
MEIKE G. WERNER: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jena. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 367 Seiten, 24 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Eine spannende Arbeit ist diese Monografie über das kulturelle Leben an der letzten Jahrhundertwende in Jena nach Meinung des Rezensenten mit dem Kürzel "upj" In dem Buch geht es unter anderem um die Schriftstellerin Helene Voigt-Diederichs und um den Eugen-Diederichs-Verlag. Doch dem Rezensenten gefällt vor allem der Ansatz der Autorin Meike G. Werner, die "apodiktisch statuierte" Analyse Georg Simmels über das Großtadtleben einer Revision zu unterziehen. Denn Simmels implizite Gegenthese zu seinen soziologischen Theorien über die Großstadt besagt, dass in der Provinz zwangsläufig ein "innovationsfeindlicher Traditionalismus" herrsche, der "die kulturgeschichtlichen Bewegungen mehr verschleiern denn erhellen" mag.

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