Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 5,20 €
  • Gebundenes Buch

Chile Anfang der siebziger Jahre. Im Hof des Gefangenenlagers sehen die Häftlinge eines Abends vollkommen verblüfft, wie eine alte, rauchende Messerschmitt Verse aus der Genesis in den Himmel schreibt. Das war der erste "aeropoetische" Auftritt von Carlos Wieder. Zu diesem Zeitpunkt weiß der Erzähler noch nicht, dass er den tollkühnen Piloten-Dichter, der zum Star des Pinochet-Regimes aufsteigt, kennt. Doch schnell wird zur Gewissheit, dass es niemand anderes ist als der mysteriöse Alberto Ruiz-Tagle, dem er zum ersten Mal in der Literaturwerkstatt der Universität von Concepcion begegnete.…mehr

Produktbeschreibung
Chile Anfang der siebziger Jahre. Im Hof des Gefangenenlagers sehen die Häftlinge eines Abends vollkommen verblüfft, wie eine alte, rauchende Messerschmitt Verse aus der Genesis in den Himmel schreibt. Das war der erste "aeropoetische" Auftritt von Carlos Wieder. Zu diesem Zeitpunkt weiß der Erzähler noch nicht, dass er den tollkühnen Piloten-Dichter, der zum Star des Pinochet-Regimes aufsteigt, kennt. Doch schnell wird zur Gewissheit, dass es niemand anderes ist als der mysteriöse Alberto Ruiz-Tagle, dem er zum ersten Mal in der Literaturwerkstatt der Universität von Concepcion begegnete. Dort fiel er durch seine gepflegte Erscheinung und sein Auftreten auf, das genauso geheimnisvoll und distanziert war wie seine Gedichte, und beeindruckte besonders die Studentinnen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2000

Pinochets Luftpoet
Der Fall eines Dichterfürsten, verhandelt von Roberto Bolaño
Anfang März gingen die Bilder von Augusto Pinochets Rückkehr in seine Heimat um die Welt. Im Fernsehen war zu sehen, wie das Militär den ehemaligen chilenischen Diktator, der in sechzig Fällen des Mordes angeklagt wird, auf Santiagos Flughafen als Helden empfing.
Einer von vielen Gründen, die Bücher des Chilenen Roberto Bolaño zu lesen. In seinem neuen Roman Stern in der Ferne applaudieren zu Beginn der Diktatur die Generäle auf Santiagos Flugplatz einem Mörder und Folterknecht ebenso unverfroren wie heute. Ihr Beifall gilt einem seltsamen Einzelgänger, den Bolaño bereits in seinem satirischen Schriftstellerlexikon Die Naziliteratur in Amerika vorstellte (dessen deutsche Ausgabe im vergangenen Jahr, ebenfalls bei Antje Kunstmann, erschienen ist).
Carlos Wieder dient nicht mehr wie zuvor in der Naziliteratur nur als „Kontrapunkt einer literarischen Groteske”. Der Autor rückt mit Stern in der Ferne den Prototyp des faschistoiden Künstlers und seines Gegenspielers in den Mittelpunkt. Wieder, sein Name steht für das nationalsozialistische Erbe, ist eine chilenische Variante von Gabriele D’Annunzio. Unter Pinochet avanciert der dichtende Luftakrobat und Offizier zum Star. Mit einer Messerschmitt aus dem Zweiten Weltkrieg schreibt er Bibelzitate, Todesverse und die Namen seiner Opfer in den Himmel über Santiago. Er wird zum „Dichterfürsten einer neuen Epoche” proklamiert, obwohl man in militärischen Kreisen wenig mit seinen „poetischen” Darbietungen anzufangen weiß.
Ende des Höhenflugs
Dem Leutnant der chilenischen Luftwaffe reicht das nicht. Er will als Künstler verstanden werden und arrangiert im Hause eines befreundeten Offiziers eine Ausstellung mit seinen Fotos. Einzeln betreten die handverlesenen Gäste den Raum – und verlassen ihn schleunigst wieder, angewidert von dem, was ihnen dort zugemutet wurde. Nicht dass in ihrem Land gefoltert und gemordet wird, empört sie. Sie nehmen Anstoß an der Darstellung von Folter und Tod. Der Luftpoet wehrt mit diesen Bildern die ihm zugewiesene Rolle als diskreter Henker des Regimes ab. Die Festigung von Herrschaft im Sinne Machiavellis ist ihm einerlei. Ihn fasziniert die Ästhetik von Gewalt und Mord. Doch die Militärdiktatur will einen „Dichterfürsten” und keinen Hohepriester des Todes. Carlos Wieder wird vom Star zur persona non grata im Chile Pinochets.
So wie es einst nach Lateinamerika emigrierten Juden nicht erspart blieb, neben untergetauchten Nazis leben zu müssen, teilt auch Bolaños Icherzähler sein Exil mit dem des Mörders. Ein ehemaliger Polizeiinspektor aus der Zeit vor der Pinochet-Diktatur hat den Auftrag, Carlos Wieder in Europa aufzustöbern. Er sucht den Erzähler in seiner Wohnung an der Costa Blanca auf und bittet ihn um Hilfe, da nur – wie es kryptisch heißt – ein Dichter einen anderen Dichter erkennen könne.
Autor und Ich-Erzähler verschmelzen in Bolaños neuem Roman. Sowohl ihre Namen als auch ihre Biografien sind nahezu identisch. Wie sein Erzähler erlebte Roberto Bolaño den Putsch in Santiago, saß dort im Gefängnis und ging Mitte der siebziger Jahre nach Spanien, wo er heute an der Costa Blanca lebt. Dennoch bleibt der Erzähler, Arturo Bolaño, blass und ungreifbar. Erst durch die Nebenfiguren, von denen viele den leicht veränderten Namen oder Nachnamen des Autors tragen, erhält Arturo Bolaño psychologische Tiefe. Der verrückte Mithäftling Norberto, der in Chile zurückgebliebene Freund Bibiano, der gerechte Inspektor Romerio sind weitere Projektionen des Icherzählers. Sein Autor hat das Trauma von Verschleppung und Mord auf die verschiedenen Romanfiguren übertragen. So stellt Bolaño die Frage nach der Mitschuld des Intellektuellen. Im Traum vom kenternden Schiff räumt der Erzähler ein, Chile dem Faschismus überlassen zu haben. „Tod ist Verantwortung” schreibt Carlos Wieder in den Himmel über Santiago und demonstriert auf schreckliche Weise, wie ernst es ihm damit ist. Als „wahrem” Dichter bleiben dem Erzähler nur die Worte. Ihm fällt die Rolle des hellsichtigen Narren zu.
Die Suche nach dem untergetauchten Carlos Wieder führt querbeet durch den faschistischen Bodensatz Europas. Gleichzeitig ist es eine Odyssee des Schreckens, die Reise eines Intellektuellen an die eigenen Grenzen und das Eingeständnis seiner Unzulänglichkeit. Als der Erzähler Wieder in seiner unmittelbaren Nähe schließlich aufstöbert, blickt er in den eigenen Spiegel. Carlos Wieder ist Arturo Bolaños „grauenvoller siamesischer Zwilling”. Die literarische Maskerade ist beinahe zu Ende. Anders als in der politischen Wirklichkeit siegt im Roman die Gerechtigkeit. Abel, so lautet der biblische Vorname des Inspektors, erhebt endlich seine Hand gegen den mordenden Bruder.
Stern in der Ferne ist ein vielschichtiges Buch, eine psychologische Analyse des Verhältnisses zwischen Opfer und Täter, aber auch Schuldbekenntnis und Anklage eines Intellektuellen. Darüber hinaus erinnert der Roman, den Christian Hansen vorbildlich ins Deutsche übertragen hat, auch an Poeten wie Vicente Huidobro, Niccanor und Violeta Parra, Jorge Tellier oder Pablo Rokha. In Naziliteratur in Amerika begegnete Roberto Bolaño noch seiner Zunft mit Spott und Hohn. Mit Büchern schieße man doch in Wirklichkeit ins Nichts, äußerte er dazu in einem Gespräch; das veranschaulichten, wie er meinte, insbesondere die Nazischriftsteller. Sein zweiter Roman Stern in der Ferne wird nicht im gleichen Maß von der resignierten Einsicht über die Ohnmacht der Literatur bestimmt. Wenngleich auch gebrochen, macht der Autor nun wieder von der Freiheit des Künstlers Gebrauch, „die Ästhetik der Statistik vorzuziehen”.
In Roberto Bolaños Roman rechnen die Chilenen mit dem Mörder ab. Ob sie es auch in Wirklichkeit tun werden, steht noch dahin.
EVITA BAUER
ROBERTO BOLAÑO: Stern in der Ferne. Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Verlag Antje Kunstmann, München 2000. 174 Seiten, 32 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Hinter dem Schleier von Zentimeterwahrheiten
Die Nacht kommt, die Nacht geht, rasch und gründlich: Roberto Bolaños Geschichte eines Mörders / Von Paul Ingendaay

Der Chilene Roberto Bolaño gehört zu den seltenen Schriftstellern, die dem Leser schon auf der ersten Buchseite Vertrauen einflößen. Nicht weil die Dinge, die er zu erzählen hat, so philanthropisch wären, sondern weil seine Fähigkeiten sich sofort offen darbieten: Genauigkeit, Kürze, Ironie und ein Schweben über seiner eigenen Geschichte. So dass der Eindruck entsteht, er verzichte auf Seufzen und Leidenschaften, wenn er dafür seine makellose Architektur aus der Luft genießen kann.

Dieser Meister des dichten Stils hat im vergangenen Jahr sein erstes Buch auf Deutsch veröffentlicht, "Die Naziliteratur in Amerika" (F.A.Z. vom 12. Juli 1999). Der Titel ist so eindeutig wie geheimnisvoll, denn von "Naziliteratur" würde man wohl nur in Deutschland sprechen. Tatsächlich ist Bolaños Buch, das keine Gattungsbezeichnung trägt, eher eine Galerie germanophiler Schriftsteller und Schriftstellerinnen im Dunstfeld von Expressionismus, Kriegsverherrlichung, Herrenmenschentum und Kryptofaschismus jenseits des Atlantiks. Zwei Dinge daran springen ins Auge. Zum einen, dass der Autor seine lateinamerikanischen Dichterfräulein, Ästheten, Futuristen und Philosophen der Tat nicht mit dem Blick humanitärer Organisationen betrachtet, sondern mit dem des Lexikographen: Er sammelt ihre Spuren, summiert ihr Leben, nennt die entlegenen Zeitschriften und esoterischen Zirkel, in denen sie ihre Werke zu Gehör brachten, und enthält sich bei seinem heiklen Stoff jeglicher Wertung. Zum anderen, dass seine penible Sammlung der verstiegensten Wirrköpfe beider amerikanischen Kontinente, samt Lebensdaten und bibliographischem Anhang, reine Erfindung ist.

Unverkennbar hat hier der Borges der "Biogramme", kleiner Essays zu Werk und Leben von Schriftstellern, Pate gestanden; Borges darf auch sonst als Leitstern des 1953 geborenen und heute bei Barcelona lebenden Bolaño gelten. Darüber hinaus ist die "Naziliteratur" eine Erfindung von monströsem Ausmaß, weil sie erkennbar kein Ergebnis jenseits ihrer eigenen Brillanz und des unheimlichen Anscheins von Vollständigkeit hat, den sie beim Leser erweckt. Eine präzise Fiktion aus Wahn und Sektengeist, die mit jedem Satz echter erscheint als das Leben selbst.

Das letzte und beste der Prosastücke, aus denen "Die Naziliteratur in Amerika" besteht, handelt von dem Poeten und Jagdflieger Carlos Ramírez Hoffman, der mit einer alten Messerschmitt gründelnd-faschistoide Sinnsprüche in den Himmel über Santiago malt. Später wird er mit Folterungen und scheinbar unmotivierten Morden in Verbindung gebracht. Aus dieser gut zwanzig Seiten langen Geschichte hat Bolaño jetzt "Stern in der Ferne" (Estrella distante) gefertigt, keine Erzählung mehr, sondern einen Roman, der zwar im Wesentlichen dieselbe Handlung hat, doch sie mit neuer Raffinesse und ruhigen, fast epischen Atemzügen erzählt. Vielleicht wäre sogar Borges, wenn er Neid gekannt hätte, darauf neidisch gewesen.

Ein junger Literaturstudent in der südchilenischen Stadt Concepción rekonstruiert kurz vor dem Putsch gegen die Allende-Regierung schreibend die Geschichte eines anderen jungen Mannes, Alberto Ruiz-Tagle alias Carlos Wieder, der später im verschwiegenen Dienst am Pinochet-Regime zum Dichter, Flieger, Folterer und Mörder wird. Nicht zum dumpfen Totmacher, sondern zum tödlich konsequenten Ästheten, der durch Mord ebenso "Dichtung" schafft wie in der Lyrik, die er unter Pseudonymen veröffentlicht. Die Ausgangslage erinnert an ein klassisches Muster: nachdenklicher Beobachter schildert abgründig bösen Helden. Bei Bolaño hocken die beiden nebeneinander in einem Seminar für angehende Lyriker, zusammen mit zwei hoch begabten Zwillingsschwestern, die zu Carlos Wieders ersten Opfern gehören.

Nichts am Leben und späten Sterben des Helden wird begründet. Die erste Mordnacht ist noch eine ausführliche Schilderung wert: das vollendete Täuschungsmanöver des Mörders, die Komplizen, die er ins Haus der Opfer lässt, seine Arbeit mit dem Messer - "die Nacht kommt, die Nacht geht, rasch und gründlich". Von späteren Morden erfahren wir fast nur noch nebenbei, Bolaño will auf diesem Feld niemanden beeindrucken. Entsprechend bekommt der Leser die makabre Fotoserie von Foltertoten, die Carlos Wieder einem handverlesenen Publikum in seiner Wohnung vorführt, kaum zu Gesicht; er sieht nur die Frau, die taumelnd das Zimmer verlässt, und die betretenen Mienen der Gäste.

Überhaupt sehen wir den Dichter und ungerührten Mörder durch einen Schleier von Zentimeterwahrheiten, Spekulationen und Gerüchten. Während der Erzähler erzählt, nicht getrieben von seinem Gegenstand, sondern lediglich gewissenhaft, scheint die "Wahrheit" dieses Carlos Wieder hinter alle Scheußlichkeiten, die er begangen haben soll, zurückzuweichen. Das liegt nicht nur daran, dass er als Mensch aus Fleisch und Blut selten Bolaños Bühne betritt, sondern auch an der poetischen Aura seiner spektakulärsten Tat: mit dem Flugzeug Verse zu schreiben, während weit unter ihm seine staunenden Leser die Köpfe recken. Mehr als die armseligen Parolen - "Der Tod ist Wachstum" oder "Der Tod ist Reinheit" - gilt die einsame poetische Geste, und sie beeindruckt die strammen Pinochet-Militärs ebenso wie die politischen Gefangenen beim Hofgang (zu denen ein halbes Jahr lang auch der Autor Roberto Bolaño gehörte). Sei das lyrische Gebräu auch befremdlich und schwer klassifizierbar, es entspringt doch einer ideologisch unkorrekten Ein-Mann-Veranstaltung, die wie die flüchtigen Lettern am Himmel über das mittelmäßige Entweder-oder der chilenischen Diktatur hinausweist.

Im Vorwort berichtet Bolaño, er habe die Geschichte des mordenden Luftwaffenleutnants mit den wechselnden Namen und ständig neuen Masken von einem Landsmann erfahren, der mit ihrer Kurzversion in der "Naziliteratur" nicht zufrieden gewesen sei. "Also schlossen wir uns", schreibt Bolaño, "für anderthalb Monate in mein Haus in Blanes ein und erstellten anhand des letzten Kapitels und des Diktats seiner Träume und Alpträume den jetzt vorliegenden Roman." Über den Anteil des leibhaftigen Autors an den Vorkommnissen selbst darf gerätselt werden. Sein Alter Ego in "Stern in der Ferne", ein chilenischer Dichter im spanischen Exil, hilft am Ende einem Privatdetektiv, den legendenumwobenen Carlos Wieder zu jagen. So endet als Krimi der schwarzen Serie, was als lateinamerikanische Extravaganz begann.

Man erwartet so ein Buch nicht von einem Chilenen, schon gar nicht, wenn darin der Putsch und die Pinochet-Diktatur eine Rolle spielen. Und es könnte sein, dass sich der Leser nach diesem beeindruckenden, mit hohem Stilempfinden übersetzten Roman von anderen Büchern zum Thema - ihren Tätern, ihren Opfern, ihrem moralischen Recht und ihrer moralischen Plattheit - sehr gelangweilt fühlt.

Roberto Bolaño: "Stern in der Ferne". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Christian Hansen. Kunstmann Verlag, München 2000. 176 S., geb., 32,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Aus dem letzten Kapitel seines Buches "Naziliteratur in Amerika" hat der Autor jetzt einen Roman über den exquisiten Poeten und Mörder Carlos Ramírez Hoffmann gemacht, und wird dafür von Paul Ingendaay sehr gelobt. Ein Buch, das als "lateinamerikanische Extravaganz" beginnt, endet durch die Jagd auf Hoffmann als "Krimi der schwarzen Serie". Ingendaay kann seine Skepsis gegenüber Büchern zum Thema lateinamerikanische - in diesem Fall chilenische - Diktatur nicht verbergen; um so mehr bewundert er die Fähigkeit des jungen Chilenen, durch "Genauigkeit, Kürze, Ironie und ein Schweben über seiner eigenen Geschichte" den Leser für sich einzunehmen. Zudem bescheinigt der Rezensent der Übersetzung von Christian Hansen "hohes Stilempfinden".

© Perlentaucher Medien GmbH"