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Im 17. Jahrhundert erlebten in Delft Handwerk und Handel ebenso wie Kunst und Kultur eine Blütezeit. 1653 wurde der 21-jährige Gastwirtssohn Johannes Vermeer in die Lucas-Gilde seiner Stadt aufgenommen. Vermeer heiratete in eine reiche Familie und erfreute sich bis zu seinem Tod 1675 allseitiger Anerkennung als Maler in seinem Ort. Aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts erkannte die Welt sein Genie. Man bewunderte ihn, man fälschte ihn, man stahl seine Werke, wo immer man ihrer habhaft wurde. Proust setzte ihm in seiner "Recherche" ein literarisches Denkmal. Die fünfunddreißig Gemälde, die uns…mehr

Produktbeschreibung
Im 17. Jahrhundert erlebten in Delft Handwerk und Handel ebenso wie Kunst und Kultur eine Blütezeit. 1653 wurde der 21-jährige Gastwirtssohn Johannes Vermeer in die Lucas-Gilde seiner Stadt aufgenommen. Vermeer heiratete in eine reiche Familie und erfreute sich bis zu seinem Tod 1675 allseitiger Anerkennung als Maler in seinem Ort. Aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts erkannte die Welt sein Genie. Man bewunderte ihn, man fälschte ihn, man stahl seine Werke, wo immer man ihrer habhaft wurde. Proust setzte ihm in seiner "Recherche" ein literarisches Denkmal. Die fünfunddreißig Gemälde, die uns von Vermeer überliefert sind - darunter die "Briefleserin", die "Allegorie der Malerei", "Das Mädchen mit der Perlenschnur" -, werden noch heute wegen ihrer kompositorischen Kühnheit, ihrer ebenso feinen wie effektreichen Farbgebung und ihrer tiefgründigen Motive als herausragende Meisterwerke bewundert. In "Vermeer" zeichnet Anthony Bailey ein faszinierendes Porträt von Vermeers Leben und Werk. Er macht die Atmosphäre des 17. Jahrhunderts lebendig, stellt uns die zeitgenössischen Künstler vor und zeichnet in faszinierenden Details Vermeers häusliches Leben nach. Im reichen und umtriebigen künstlerischen Leben Delfts war Vermeer eine der herausragenden Gestalten.
Bailey entreißt der Geschichte manche gut gehüteten Geheimnisse: Er erschließt das Wissen und die Kunstfertigkeit hinter den ruhigen, geheimnisvollen Bildern, erläutert Vermeers raffinierte Technik der Perspektive und seine Methode der räumlichen Verdichtung mit Hilfe der Camera obscura. Baileys Buch beleuchtet das Leben eines Mannes, der ein Meister des Lichts und der intensiven Schilderung war, dessen Lebensgeschichte aber bislang weitgehend im Schatten lag. Mit seinem "Vermeer" liegt endlich die Biografie des großen Malers und seiner Zeit vor.
Autorenporträt
Anthony Bailey war 35 Jahre lang Autor für den "New Yorker" und gilt als einer der besten Stilisten seiner Generation. Zu seinen 21 Büchern zählen zwei Titel über Rembrandt und eine Biografie über Turner. Anthony Bailey lebt heute in Greenwich, England.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.04.2002

Ein Mensch wie du und ich
In seinem Essay über den holländischen Maler Jan Vermeer beschwört Anthony Bailey die Schatten eines großen Unbekannten.
Es gibt kaum einen zweiten Künstler, der in seinen Bildern derart spürbar anwesend ist wie Jan Vermeer aus Delft. Ob in den von Morgenlicht durchfluteten Interieurs der „Briefleserin” oder der „Milchmagd” in Gelb und Blau: überall scheint er als Dritter im Raum zum Greifen nahe. Das lässt die Verstörung verstehen, dass es bis heute nicht gelingen konnte, eine auch nur annähernd so deutliche Vorstellung vom Maler selbst zu gewinnen wie von seinem schmalen Werk, das man gut kennt. Die große, zu Vermeers Lebzeiten verfasste Delfter Stadtchronik notiert fast alles über die Stadt, jedes Detail über Giebel und Gassen – Vermeer aber wird mit kaum mehr als drei kurzen Zeilen erwähnt. Der offenbar einzige Augenzeuge, der seine Begegnung mit Vermeer auch niederschrieb, äußert sich nur dürftig und – vor allem – sehr enttäuscht über dessen Malerei.
Der Siedler-Verlag hat nun – in einer vorzüglichen Übersetzung aus dem Englischen – ein neues Buch von Anthony Bailey zu Jan Vermeer veröffentlicht. Angesichts einer ohnehin unübersehbar gewordenen Forschungs- und Deutungsliteratur geht es Bailey nicht mehr um streng kunsthistorische, noch rein wissenschaftliche Betrachtungen, vielmehr um einen populären wissenschaftlichen Essay. In England wird diese schöne Kunstform seit jeher gepflegt, hier zu Lande hat sie nie wirklich Leser für sich gewinnen können. Es ist eine Literaturgattung ohne Fußnoten, die sich in Ton und Anspruch zwischen gepflegter literarischer Unterhaltung und wissenschaftlich zuverlässiger Prosa bewegt. Die Wissenschaft bleibt eine fröhliche, solange sie noch unterhalten kann. Aber zuweilen fällt es diesen Zwitterwesen, die mit Wissenschaft und Literatur gleichermaßen hausen müssen, nicht leicht, einen überzeugenden, geschweige denn einen literarisch überragenden Stil zu formen.
Liebe zum Gerücht
Anthony Baileys Stil überzeugt: das erzählerische Tempo der Langsamkeit und die in ihrer Kraft und Schlichtheit oft unterschätzte Sprache der barocken Chronik – mit all ihren scheinbaren Weitläufigkeiten, ihrem Verharren im alltäglichen Detail, ihrer Liebe zum Gerücht, die mit Stolz und ohne jede Hast vom Schicksal einer Stadt und deren Bürger erzählt. Es geht Bailey weniger um die Kunst Vermeers, als um den Künstler. Wer sich auf die Lektüre einlässt, wird trotz gelegentlicher, sehr lesenswerter Exkurse in Fragen von Malweise, möglicher Lehrer und künstlerischen Schulzusammenhängen weitgehend von unnötigem Deutungshunger verschont bleiben. Stattdessen taucht man ein in das Alltagsleben eines Künstlers einer nicht wohlhabenden, doch aufstrebenden Stadt, die von ihrem Bier und ihren Kacheln lebte – in einer Zeit, als Holland seine Deiche brach, ums ich gegen die Soldaten Ludwig des Vierzehnten zu schützen.
Bailey schreibt, ohne die so bestechend detailgetreue Delfter Stadtvedute, die zu Lebzeiten Vermeers gestochen wurde, aus den Augen zu verlieren. Er hat sich den merkwürdig geometrischen, fast quadratischen Grundriss und die schnurgeraden Straßenzüge dieser Stadt eingeprägt. Es ist ein Genuss, sich Baileys kriminalistischen Gespür anzuvertrauen. In den Straßenzügen des damaligen Delft, in seinen katholischen und protestantischen Vierteln bewegt er sich, als sei er selbst Bürger und regelmäßiger Besucher der beiden Kirchen Oudekerk und Nieuwekerk gewesen. Treffend sind seine Beschreibungen der Stille und der verhalten melancholischen Bewegungslosigkeit in den Bildern Vermeers, die so wenig verraten über die ständigen politischen und religiösen Unruhen in und um Delft, über die Kriege, in denen sich Holland gegen Frankreich und England zu behaupten hatte.
Doch Bailey hat sich ein Ziel gesteckt, das auch mit den reichen Möglichkeiten des Essay nicht zu gewinnen war. Das liegt nicht an mangelnder Kenntnis der bisherigen Forschungsergebnisse oder der dornigen Überlieferung, die man sich aus den Stadtchroniken und holländischen Künstlerbiografen jener Zeit zusammenlesen muss. Der Autor hat den Wunsch, einem großen Unbekannten, den man in seinen Bildern überall zu spüren glaubt, mehr an Fleisch und Blut abtrotzen zu wollen, als die Quellen preisgeben.
Kindergeschrei und Ehestreit
Wie Fausts Pudel ziehen wir dann immer von Neuem, in immer engeren Kreisen um die Hauptperson des Buches, um endlich Vermeer selbst zum Leben zu erwecken. So fragen wir uns zusammen mit dem Autor, wo sich die Eheleute Vermeer – sie katholisch und er reformiert – wohl kennengelernt haben mögen und ob es Haustiere gab im Hause von Vermeer. Wir mutmaßen, wie Vermeer seine Frau wohl aufgemuntert haben wird, ihm Modell zu sitzen und welchen Schmuck er besonders an ihr liebte. Wir fragen uns, ob er die Freudenhäuser Amsterdams gekannt haben wird und erfahren, dass er unter der Mitgliedsnummer achtundsiebzig in den Listen der Lukasgilde verzeichnet wurde.
Bailey macht seine Leser auch mit den verschlungenen, bis ins katholische Antwerpen zurückreichenden verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb der Familien der Eheleute Catharina und Jan Vermeer vertraut. Inmitten all dieser mit sicherem Gespür für die literarische Kraft und Thetorik des Chronisten vorgetragenen Fakten bleibt nur einer weiterhin ohne Gesicht: Vermeer selbst.
J. Vermeer van Delft – wie der Maler nach seinem Tode im Amsterdamer Versteigerungskatalog seiner Bilder genannt wurde – bleibt nach der Lektüre von Bailey genauso ein Gerücht wie vorher – gerade deswegen, weil Bailey den Bann dieses Künstlers, den Théophile Thoré einst als Sphinx beschrieb, dadurch brechen will, dass er ihn mehr als möglich in den nackten Alltag zwingt und uns das Stimmengewirr der Hinterhöfe und Durchgänge von Delft wieder hören machen will.
Vermeer entzieht sich, weil Bailey – mit dem gern zugestandenen Recht des Essayisten – die mageren Quellen zu deutlich zu Ende denkt, wo sie schon längst verstummt sind. Bailey beschwört Vermeer als den Menschen „wie Du und ich” – den alltäglichen Vermeer im Kampf mit Schwiegermutter, Geburten, Kindergeschrei und Ehestreit.
HANS JAKOB MEIER
ANTHONY BAILEY: Vermeer. Aus dem Englischen von Bettina Blumenberg. Siedler Verlag, Berlin 2002. 312 Seiten, 24,90 Euro.
Das „Mädchen mit dem Weinglas” von Jan Vermeer van Delft, gemalt um 1660 aus dem Herzog-Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig (Ausschnitt).
Foto: Yorck Project
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Ewig diese Ungewißheit
Anthony Bailey erahnt Vermeers Leben / Von Wilfried Wiegand

Jeder kennt Vermeer, aber keiner kennt ihn außerhalb seiner Bilder. Kein Brief hat sich von ihm erhalten, kein Dokument, das irgendeine Äußerung überliefert, und was die sonstigen Zeugnisse hergeben, betrifft fast nur Geburt und Taufe, Schulden und Kredite, Tod und Erbschaftsregelungen - und auch das keineswegs lückenlos. Nur ein paar Zeugnisse betreffen seine Kunst. Er ist Mitglied der Delfter Malergilde, die ihn sogar zum Vorsteher wählt. In Briefen und Berichten wird er hier und da erwähnt. Besucher wollen seine Bilder sehen, aber er malt so wenig, daß er manchmal kein Bild vorzeigen kann. Er wird zwar gesammelt, verdient aber so wenig, daß es für die Familie mit elf Kindern gerade gereicht haben wird. Vermögen jedenfalls hinterläßt er keines. Vermutlich hat er sich mehr auf den Handel mit Bildern und Rahmen verlassen.

Vermeer stammt aus einer protestantischen Familie, aber seine Frau gehört zur katholischen Minderheit, immerhin zwei seiner etwa fünfunddreißig erhaltenen Bilder zeigen eine explizit katholische Thematik. Das ist schon fast alles, was wir wissen, und schon dies bißchen ist manchmal zusammenkombiniert. Vom Wichtigsten aber, von dem, was in Vermeers Innerem vorging, wissen wir überhaupt nichts. Wer waren seine Lehrer? Welche Bücher hat er gelesen? Immerhin erfahren wir aus einem Dokument, daß er den älteren Kollegen Gerard Terborch kannte, und das ist keine Nebensache. Terborch war neben dem Dreigestirn von Rembrandt-Hals-Vermeer der größte Menschenschilderer, den Holland in seinem Goldenen Jahrhundert hervorgebracht hat, der Entdecker der seelischen Einsamkeit, einer metaphysischen Leere um den Menschen. Er könnte Vermeer entscheidend beeindruckt haben. Wenn man die Bilder interpretiert, sind die spärlichen biographischen Daten immerhin etwas. Aber reichen sie aus, um eine Biographie zu schreiben? Man mag es drehen und wenden, wie man will, eine Biographie Vermeers scheint bei unserem heutigen Wissensstand nicht sinnvoll.

Der Engländer Anthony Bailey war anderer Meinung und präsentiert tatsächlich eine dreihundert Seiten starke Biographie. Sie erinnert freilich an eine Mogelpackung, denn vom Leben im damaligen Holland ist oft mehr die Rede als vom Maler Jan Vermeer. Emsig werden kulturhistorische Fakten herbeigeschafft, die sich manchmal mehr und meistens weniger mit dem Maler in Verbindung bringen lassen. So werden wir über die große Delfter Pulverexplosion vom 12. Oktober 1654, einer Katastrophe, an der die Nation Anteil nahm, ausführlicher informiert als über die meisten Bilder unseres Malers, und sogar über die Geschichte des holländischen Brauereiwesens erfahren wir etwas mehr, als wir zum Verständnis von Vermeer darüber wissen müßten.

Sinnvoll sind solche Erörterungen nur, sofern es dem Autor gelingt, sie auf seinen Helden zu beziehen. Das aber gelingt Bailey viel zu selten. Er ist kein begnadeter Biograph, sondern ein furchtsam zur Wissenschaft herüberschielender Autor. Von der Wissenschaft hat Bailey sich ein Verfahren abgeschaut, das die besten Wissenschaftler gar nicht anwenden. Er verläßt sich nämlich, sobald es um die Bilder geht, möglichst nur auf schriftliche Dokumente. Aus lauter Furcht, man könne ihm unseriöses Spekulieren vorwerfen, traut er sich gerade bei wichtigsten Fragen nicht, die Lücken zwischen den Daten auszufüllen. Das aber machen Kunsthistoriker unentwegt. Bailey ist offenbar nicht klar, daß die meisten kunsthistorischen Urteile auf Grund von Indizienbeweisen gesprochen werden. Bei Bailey geht es manchmal zu wie im Witz vom Grafen Bobby, der seine Frau mit einem Mann im Schlafzimmer verschwinden sieht und vor der verschlossenen Tür verzweifelt ausruft: "Ewig diese Ungewißheit!" "Es wäre gut, wenn sich die Experten über die Authentizität des Gemäldes ,Die heilige Praxedis' einig werden könnten", schreibt Bailey beispielsweise und macht sich nicht klar, daß es solche Einigkeit, genau genommen, niemals gibt. Irgendein Zweifler meckert immer am Konsens herum, und ein Konsens darüber, daß "Die heilige Praxedis" echt ist, existiert allemal. Wie jede Zankerei kennt auch der Streit der Wissenschaftler eine Hierarchie der Argumente. Nur der ahnungslose Laie meint, in der Wissenschaft herrsche das schiere Chaos von lauter gleichwertigen Ansichten.

So ist man sich auch längst darüber einig, daß Vermeer, als er seinen "Geographen" malte, Rembrandts "Faust"-Radierung kannte. Der Augenschein ist Beweis genug. Pedant Bailey aber belehrt uns, das könne "nicht mit Bestimmtheit gesagt" werden. Und war Vermeer Katholik? Die Forschung geht davon aus, daß er konvertiert ist. Aber da es kein Dokument darüber gibt, geht Angsthase Bailey auf Nummer Sicher und klammert sich an die Möglichkeit, Vermeer sei vielleicht doch nur ein Sympathisant gewesen, der Rücksicht nimmt auf die katholische Ehefrau. Daß eines der Kinder Ignatius hieß, was ein geradezu provokantes Bekenntnis zum Jesuitenorden war, reicht maßgeblichen Forschern als Beleg, nicht aber Bailey. Die beiden katholischen Bilder sind ihm unheimlich, und in der Tat lassen sie sich dem gewohnten Bild von Vermeer schwer vereinbaren. Aber statt sich im siebzehnten Jahrhundert umzuschauen, ob es nicht mehr solche malenden Chamäleons gegeben haben könnte, will Bailey sich lieber vorstellen, der Maler habe es nicht gar so ernst gemeint.

Manchmal schreibt Bailey erschreckend holprig, zumindest klingt es so in der Übersetzung. So schreibt er, daß Camera obscura "wörtlich dunkles Zimmer bedeutet. Dies könnte sowohl ein Zimmer sein, aus dem das Licht ausgesperrt wurde und in dem der Zuschauer saß, oder aber eine Handlung, in die der Betrachter hineinschaute." Man darf bezweifeln, daß ein Leser ohne Vorkenntnisse sich daraufhin den an sich ganz einfachen Mechanismus einer Zeichenkamera richtig vorstellen wird. Ein hübscher Einfall ist es, in einem Modell die Frau Vermeers zu vermuten, denn "da ist etwas Besonderes in dem zwar abstrahierten, aber freundlichen Gesichtsausdruck, mit dem die Frau in dem Gemälde ,Briefschreiberin in Gelb' aufschaut und mit den Augen den konzentrierten Blick des Malers sucht, der uns zu sagen scheint: Das ist sie." Nachdenklich macht auch seine behutsam begründete Vermutung, Vermeer könnte, verarmt und ohne Aufträge, zum Alkoholiker geworden und deshalb so plötzlich gestorben sein. Dieses Erwecken des Leserinteresses ist immer wieder das Beste, was Kunstliteratur jenseits aller Wissenschaft vermag. Leider sind solche Momente bei Bailey viel zu selten.

Die demonstrative Zurückhaltung, die Bailey angesichts kunsthistorischer Thesen an den Tag legt, fehlt ihm völlig, wenn er glaubt, drauflosschwadronieren zu dürfen. Dann war er damals in Delft persönlich dabei ("Kutschen und Handkarren ratterten") und stellt sich phantasievoll vor, wie der kleine Jan am Vorabend des Nikolaustages "seinen Schuh hinausgestellt" haben könnte und ob der Maler seinem Modell vielleicht "gesagt hat: ,Zieh bitte dies oder das Kleid an', ,Leg heute diese Perlenohrringe an' oder ,Binde dir die blauen Bänder ins Haar, damit siehst du besonders hübsch aus'". Und was wir schon immer wissen wollten, nämlich "Welche Haustiere hat man im Hause Vermeer wohl gehalten?", ist Bailey eine Erörterung von mehr als zwanzig Zeilen wert, ohne daß er eine Antwort findet. Ewig diese Ungewißheit.

Anthony Bailey: "Vermeer". Aus dem Englischen von Bettina Blumenberg. Siedler Verlag, Berlin 2002. 304 S., 49 S/W-Abb., 14 Farbtaf., geb., 24,90 .

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Das Genre des populären wissenschaftlichen Essays ist eher in den angelsächsischen Ländern zuhause, wo diese "schöne Kunstform" seit langem gepflegt wird, schwärmt Hans Jakob Meier. In Anthony Bailey sieht er einen überzeugenden Stilisten, der Wissenschaft und Literatur gekonnt zusammenbringt. Mit geradezu kriminalistischem Gespür begebe sich Bailey - anhand der Delfter Stadtchronik - in jene bewegte Zeit zurück, in der politische und religiöse Unruhen in Holland an der Tagesordnung waren. Ein gelungenes Sittenporträt jener Zeit, soweit ist Meier mehr als einverstanden. Leider jedoch versuche der Verfasser seinem Gegenstand - über Vermeer sind in der Stadtchronik ganze drei Zeilen vermerkt! - mehr abzutrotzen als die Quellen hergeben, meint Meier. Bailey versuche, uns ein Wesen aus Fleisch und Blut, mit all seinen mutmaßlichen Alltagsproblemen zu schildern. Aber gerade, indem er die möglichen Lebensumstände ausmale, unter denen Vermeer gelebt haben könnte, meint Meier, wirke der Maler letztlich leblos und konturenlos, eben weil Leben nur vorgetäuscht werde. Vermeer bleibt der große Unbekannte, so Meier.

© Perlentaucher Medien GmbH