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Produktdetails
  • Edition Das Narrenschiff
  • Verlag: Psychiatrie-Verlag
  • Seitenzahl: 383
  • Deutsch
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 524g
  • ISBN-13: 9783884143001
  • ISBN-10: 388414300X
  • Artikelnr.: 09504347
Autorenporträt
Holger Steinberg, Jg. 67, Bibliothekstechniker, Lehramtsstudium, seit 1997 Historiker im Archiv für Leipziger Psychiatriegeschichte an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universität Leipzig.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.2001

Diese Pendelbewegungen machen einen wahnsinnig
Die Psychiatrie braucht ein neues Asyl: Holger Steinberg prüft, wie Emil Kraepelin Experimentalpsychologie studierte

Die Geschichte der Psychiatrie läßt sich als Pendelbewegung zwischen zwei wissenschaftlichen Grundeinstellungen begreifen. Nach Ansicht des Maastrichter Psychiaters Mark Richartz folgt auf eine Phase der humanistischen oder anthropologischen Orientierung mit schöner Regelmäßigkeit die Rückkehr zu einem biologischen Modell. Da insbesondere einer strikt naturwissenschaftlichen Psychiatrie oft das historische Bewußtsein fehle, würden mit jedem neuen Paradigmenwechsel gerne die Fehler der vorvergangenen Epoche wiederholt.

Im Zuge einer solchen Reaktionsbildung gegen sozialpsychiatrische und psychoanalytische Ansätze ist es während der letzten Jahrzehnte besonders in den Vereinigten Staaten zu einer Renaissance der Theorien Emil Kraepelins gekommen, der auch als Begründer der modernen Psychiatrie gilt. Dem sogenannten "Neokraepelianismus" fühlen sich zumal Psychiater neurowissenschaftlicher Ausrichtung zugehörig. Zu ihren Grundüberzeugungen gehört es, daß voneinander und vom Bereich des Gesunden eindeutig abgrenzbare seelische Störungen existieren, die sich empirisch erforschen lassen, und daß hierfür eine neurobiologische Fachmedizin zuständig ist. Da den Neokraepelianern in der aktuellen Debatte vielfach ein methodischer Reduktionismus, eine - so die Kritiker - unzulässige Verkürzung seelischer und geistiger Phänomene auf biochemische Prozesse vorgeworfen wird, ist es heute mehr als umstritten, inwieweit sie das Wirken des 1926 verstorbenen deutschen Nervenarztes zu Recht als den Höhepunkt eines "ersten Zeitalters der Neurowissenschaften" apostrophieren.

Entscheidend für die Frage nach der Zugehörigkeit Kraepelins zum "neurowissenschaftlichen Paradigma" scheint zu sein, welche Bedeutung man der experimentellen Psychologie für Kraepelins wissenschaftliches Hauptwerk, seine Taxonomie seelischer Krankheiten, zuschreibt. In der sechsten Auflage seines Lehrbuchs "Psychiatrie" trifft Kraepelin jene Unterteilung der endogenen, also der nicht durch eine organische Veränderung hervorgerufenen Psychosen in die beiden großen Gruppen der Schizophrenien (bei Kraepelin: Dementia praecox) und der manisch-depressiven Erkrankungen, auf der die psychiatrischen Klassifikationssysteme von heute im wesentlichen immer noch beruhen.

Eine kürzlich im Bonner Psychiatrie-Verlag erschienene Dissertation nähert sich der spannungsreichen Verbindung von kognitiver Psychologie und klinisch-deskriptiver Krankheitslehre in Kraepelins Arbeiten auf indirektem, nämlich biographischem Weg. Holger Steinberg stellt Kraepelins Verhältnis zu Wilhelm Wundt, dem damals in Leipzig lehrenden Philosophieprofessor und Erfinder der Experimentalpsychologie, ins Zentrum seiner Untersuchung. Kraepelin, der bereits als Schüler mit Begeisterung Wundts "Vorlesungen über die Menschen- und die Tierseele" gelesen hat, hält sich zweimal längere Zeit in Leipzig auf: während der ersten Semester seines Medizinstudiums, um nebenbei die psychologischen Seminare Wundts besuchen zu können, ein zweites Mal in den Jahren 1882/83 als Assistenzarzt an der von dem Hirnforscher Paul Flechsig geleiteten "Irrenklinik", später am Pathologischen Institut der Universität Leipzig. Die meiste Zeit scheint der junge Arzt aber in Wundts experimentalpsychologischem Labor zugebracht zu haben, das damals Weltruf besaß. Nach Steinbergs Darstellung hat Wundt besonders in diesen Jahren Kraepelins geistige Entwicklung maßgeblich beeinflußt. Hier lägen auch die Ursprünge einer bis zu Wundts Tod bestehenden Freundschaft.

So intensiv sich Steinberg um die Durchleuchtung des persönlichen Verhältnisses von Wundt und Kraepelin bemüht, so wenig klar zeigt er doch, welchen Wert Kraepelins lebenslange und geradezu leidenschaftliche Beschäftigung mit der Experimentalpsychologie für seine klinisch-psychiatrische Nosologie hat. Da Kraepelins Arbeit an dem von Auflage zu Auflage kontinuierlich revidierten und erweiterten Lehrbuch auf eine Veröffentlichung seiner Leipziger Zeit, nämlich das 1883 erschienene "Compendium der Psychiatrie", zurückgeht, liegt die Vermutung nahe, die beherrschenden Themen der Leipziger Zeit hätten sich möglicherweise in den einflußreichen späteren Versionen des Lehrbuchs durchsetzen können. Wären nämlich die Ergebnisse der experimentell-quantitativen Erforschung von Wahrnehmungsvorgängen und Gedächtnisleistungen systematisch in die Krankheitslehre eingeflossen, dann könnte sich auch eine biologistische Psychiatrie nicht ohne weiteres auf Kraepelin berufen. Während die Kontinuitätsthese in jüngerer Zeit immer mehr Anhänger findet, steht ihr Steinberg erstaunlicherweise ablehnend gegenüber. Aus seiner Sicht gehören Kraepelins Versuche, die Wundtsche Methode für die Psychopathologie fruchtbar zu machen, zu einer intellektuellen Orientierungsphase, die Kraepelin selbst im Laufe seines Lebens mehr und mehr als gescheitert angesehen habe.

Auf diese Weise wird aber der Sinn einer mit großem Forschungsaufwand betriebenen Studie fragwürdig, die nun scheinbar keinen weitergehenden Zweck mehr verfolgt, als Kraepelins Leipziger Zeit anhand bisher ungesichteten Quellenmaterials zu rekonstruieren. Herausgekommen ist ein Buch für Spezialisten und Liebhaber, das jenseits einer Fülle biographischen Materials nicht in der Lage ist, dem weniger Fachkundigen die theoretische Entwicklung Kraepelins zu erschließen. Das Erscheinen eines solchen Buches ist nun besonders vor dem Hintergrund kurios, daß die Schriften Kraepelins in Deutschland praktisch nicht verfügbar sind. Das oft als "Bibel der Psychiatrie" bezeichnete "Lehrbuch" ist nur als Reprint bei einem kleinen niederländischen, dem deutschen Buchhandel offensichtlich unbekannten Verlag erhältlich. Zu hoffen bleibt, daß im Zuge der Übersetzung "neokraepelianischer" Autoren vielleicht auch der "alte" Kraepelin wieder aus den Vereinigten Staaten importiert werden wird.

BETTINA ENGELS

Holger Steinberg: "Kraepelin in Leipzig". Eine Begegnung von Psychiatrie und Psychologie. Edition Das Narrenschiff im Psychiatrie-Verlag, Bonn 2001. 379 S., Abb., geb., 49,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Kritisch und fachkundig setzt sich Bettina Engels mit Steinbergs Dissertation über Emil Kraepelins Experimentalpsychologie auseinander. Vor allem in den USA beschäftigt sich die neurowissenschaftliche Psychologie in den letzten Jahrzehnten vermehrt mit den Arbeiten Kraepelins. Da komme Steinbergs Dissertation zur richtigen Zeit, wenn sie auch nach Auskunft der Rezensentin auf die kuriose Tatsache treffe, dass Kraepelins Werke in Deutschland gar nicht verfügbar sind. Die Dissertation selbst beschäftigt sich biografisch mit Kraepelins Leipziger Jahren, als er im experimentalpsychologischen Labor des Philosophieprofessors und Erfinders der Experimentalpsychologie Wilhelm Wundt lernte. Steinbergs Untersuchung sei zwar "intensiv", jedoch "wenig klar", was "Kraepelins lebenslange und geradezu leidenschaftliche Beschäftigung mit der Experimentalpsychologie für seine klinisch-psychiatrische Nosologie" betrifft, schreibt Engels.

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