Produktdetails
  • Internationaler Merve Diskurs (IMD) Bd.228
  • Verlag: Merve
  • 2000.
  • Seitenzahl: 155
  • Deutsch
  • Abmessung: 170mm
  • Gewicht: 146g
  • ISBN-13: 9783883961606
  • ISBN-10: 3883961604
  • Artikelnr.: 08506517
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2000

Schon mal gehört, wie süß die Leber klingt?
Shin Nakagawa deutet die alte japanische Hauptstadt Kyoto als großes akustisches Kunstwerk

Shin Nakagawa entwirft am Beispiel Kyotos eine Kulturgeschichte der Klänge: Der Musikwissenschaftler geht der Frage nach, welche Bedeutung die Menschen im alten Japan auditiven Phänomenen gaben. Von verschiedenen Seiten versucht er, sich "ihrem Gehör ein wenig zu nähern" und das akustische Milieu der ehemaligen Hauptstadt zu rekonstruieren. Er benutzt dazu literarische und geschichtliche Quellen, begibt sich auf eine Zeitreise zu traditionellen Festen und Totenfeiern und auf Spurensuche zu den erhaltenen Tempeln.

Die Hofadeligen Japans bewegten sich bei ihren verfeinerten Gelagen, Ritualen und Banketten in "hochsensibler Klangwelt". Die beiden um das Jahr 1000 verfaßten Literatur-Klassiker, die "Geschichte vom Prinzen Genji" der Hofdame Murasaki Shikibu oder "das Kopfkissenbuch der Sei Shonagon", legen davon beredtes Zeugnis ab. "Die Querflöte ist doch ganz zauberhaft", befindet die Hofdame Sei, "welch ein Vergnügen, sie erst ganz fern und dann allmählich näher kommen zu hören. Was für ein Genuß, wenn man plötzlich am mondhellen Abend aus dem Inneren des Wagens jemanden auf der Sho-Mundorgel spielen hört."

Beim inneren Schauplatz des Hofes verzeichnet das "Kopfkissenbuch" immer wieder "hinter Shoji-Schiebetüren" vernommene Szenen indirekten Hörens: "In der Residenz tut jemand einzeln Go-Spielsteine in Schüsseln. Das klingt sehr vornehm. Jemand legt behutsam Kohlestäbchen ab und deutet damit an, noch anwesend zu sein. Das finde ich stilvoll." Über akustische Signale erlangt der eingeweihte Leser eine plastische Vorstellung von Interieur und Innenleben des Palastes.

Nakagawa betont den kulturellen Aspekt der "saisonalen Stimme". In den standardisierten Arrangements der höfischen Dichtung gelten die "Nachtigall auf dem Pflaumenbaum", Dunst und Blütentau als Insignien des Frühlings. In den delikaten Zwischentönen des bewegenden Genji-Romans spiegelt sich die seelische Verfassung des Protagonisten lautmalerisch wider, Geräusche rufen Assoziationen hervor. Nach den energiegeladenen, lebensbejahenden Klängen des Sommers wie das Mahlen des Mühlsteins weckt das akustische Vakuum in der Spanne vom Herbst bis zum Winter nach dem Tod seiner Geliebten im Prinzen die "Sehnsucht nach den gemeinsamen Klangerlebnissen". Neben den auditiven Metaphern in der klassischen Literatur analysiert der Musikwissenschaftler die Darstellung kollektiver Wahrnehmung von Klängen in geschichtlichen Werken. Der Klangraum mittelalterlicher Kriegstrommeln reichte laut der "Japan-Chronik" (aus dem achten Jahrhundert) bis hin zum feindlichen Lager; Vulkanausbrüche waren von Kyushu bis nach Nara zu vernehmen.

Die Ästhetik der Stille, die die tönende Umwelt in ihrer Vielfalt erst erfahrbar machte, schlug sich nicht zuletzt in der urbanen Struktur und Architektur nieder, wobei man die Kaiserstadt als akustischen Möglichkeitsraum erkannte. Das allgegenwärtige Läuten der Tempelglocken machte Nakagawa hellhörig. Der Autor vermutet, daß in ihrer Anordnung in der Klanglandschaft von Kyoto "vom Altertum bis zum Mittelalter ein umfangreiches Klangprojekt verwirklicht wurde, dessen Ausmaß bei einer heutigen Stadtplanung kaum denkbar wäre".

Die schachbrettartige Anlage der 794 von Kaiser Kammu gegründeten "Hauptstadt des Friedens" (Heian-kyo) geht auf chinesische Denkmuster zurück. Das Zentrum und die vier Außenseiten des alten Kyoto waren in der Mythologie von Fabelwesen - Wassergott, blauer Drache, roter Vogel, weißer Tiger und Einhorn - bewacht. Die "Theorie der Instrumentalmusik" (1303) sieht ferner Klangphänomene (etwa den Modus "sojo") im Zusammenhang mit Elementen (hier das Material Holz), Himmelsrichtungen (Osten), Jahreszeiten (Frühling), Farben (Blau), Vokalen (u) und Organen (Leber, Auge). Die Lokalisierung und die Tonhöhen der Tempelglocken, so Nakagawas Verdacht, waren keineswegs zufällig. Er nahm die Klänge der im Mittelalter gegossenen Tempelglocken von Kyoto auf und wertete die Frequenzen mit sogenannten "Fast-Fourier-Transformations"-Geräten aus. In fast der Hälfte der Fälle, so das Ergebnis der Untersuchung, stimmte die Himmelsrichtung der Lage der Tempel mit der Tonhöhe der Glocken gemäß der chinesischen Fünf-Elemente-Lehre überein.

Nakagawa vergleicht schließlich in seiner feinsinnigen, in der deutschen Ausgabe leider um einige Kapitel gekürzten Studie den in die Kaiserstadt eingebetteten Klangplan mit avantgardistischen Klanginstallationen. In den Augen des Autors ist Kyoto schlicht eine "kosmologisch ideale Stadt auf Erden, eine Stadt als Mandala".

STEFFEN GNAM

Shin Nakagawa: "Kyoto - Klänge des Kosmos". Aus dem Japanischen übersetzt von Sabine Mangold und Nanae Suzuki. Merve Verlag, Berlin 2000. 155 S., Tafeln, S/W-Abb., br., 24,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Steffen Gnam bringt in seiner kurzen Kritik so viele Informationen und Anspielungen über Kyoto, klassische japanische Literatur und Ästhetik unter, dass dem Laien der Kopf schwirrt. Aber neugierig macht die Besprechung schon. So viel wird immerhin verständlich: Nakagawa deutet Kyoto als "akustisches Kunstwerk". Dazu beschreibt er quer durch die Jahrhunderte eilend, die Bedeutung akustischer Signale wie das Klappern der Räucherstäbchen oder den "Klangraum" von Kriegstrommeln. Selbst die architektonische Anlage Kyotos, die aus dem Jahre 794 stammt, war offenbar gleichzeitig ein auf die Tempelglocken ausgerichtetes "Klangprojekt". Gnam findet die Studie feinsinnig und bedauert ausdrücklich, dass sie für die deutsche Ausgabe "um einige Kapitel gekürzt" wurde.

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