Marktplatzangebote
6 Angebote ab € 4,99 €
Produktdetails
  • Verlag: Steidl
  • Originaltitel: Rare and Endangered Species
  • Seitenzahl: 139
  • Deutsch
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 294g
  • ISBN-13: 9783882437140
  • ISBN-10: 3882437146
  • Artikelnr.: 24078920
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.05.2000

Schattenspiele
Richard Bauschs Novelle „Eine aussterbende Art”
An jenem Morgen war sie als erste wach. Im Halbdunkel lag sie da und hörte zu, wie er neben ihr atmete; dann stand sie vorsichtig auf, zog ihren Morgenrock über und tastete sich die Treppe hinunter. Die Küche bestand nur aus tiefen Schatten und grauem Licht, und die Oberflächen wirkten, als hätten sie einen silbrigen Belag. In einer flachen Pfanne briet sie Schinkenspeck über einer kleinen Gasflamme an und machte Kaffee. ”
Die Beschreibung eines Schattenspiels steht am Anfang dieser Novelle. Sofort hat man die Szene plastisch vor Augen: Das Morgengrauen, die Frau, die in der Küche hantiert, die trostlose Routine eines alltäglichen Morgens. Über allem liegt eine undeutliche Melancholie, die erst mit dem Erscheinen des Mannes Kontur gewinnt. Das alte Ehepaar muss sein Haus verkaufen, sich trennen von dem Ort, an dem es so lange gelebt, an dem die Kinder großgezogen wurden. Der Mann leidet unter dem drohenden Verlust, die Frau wirkt gefasst und ohne Angst vor der neuen Lage. Ein gewöhnlicher Dialog zwischen zwei Menschen beginnt, die lange schon miteinander leben, die die Vorlieben des anderen ebenso kennen wie seine Abneigungen, die heimgesucht werden von den Gespenstern der Vergangenheit. Vor vielen Jahren hatte sich die Frau in einen anderen Mann verliebt. Sie wollte fortgehen und war dann doch geblieben. Aber „wenn man dir verzeiht. . ., das ist manchmal schlimmer, als wenn man dir den Stuhl vor die Tür setzt. ” Richard Bausch, der ein Meister der short story ist, der aber auch Romane schreibt, hat hier eine Zwischenform gewählt, eine Erzählung mittlerer Länge, die Goethes Novellen-Definition von der „sich ereigneten unerhörten Begebenheit” erfüllt.
Die Frau, die am Morgen mit einer Tasse Kaffe in der Hand auf den Morgennebel schaut, bringt sich am Nachmittag in einem Motelzimmer um, ohne eine Erklärung oder ein Abschiedswort zu hinterlassen. Niemand begreift, warum die lebenslustige Freundin, die zuverlässige Mutter und treusorgende Ehefrau das getan hat. Keiner kann sich vorstellen, dass sie lebenssatt war, dass das Bild der anderen nicht übereinstimmte mit ihren eigenen Empfindungen.
Richard Bausch entwirft – ausgehend von dem letzten Tag im Leben der Mittsechzigerin – ein Geflecht von Menschen und Verhältnissen. Da sind vor allem die beiden erwachsenen Kinder und ihre Ehepartner, deren Unvereinbarkeiten und Sehnsüchte. Der Sohn erträgt seine hübsche Frau nicht mehr; die Tochter ist hochschwanger, als sie sich zu einem Kollegen hingezogen und nur von ihm verstanden fühlt. Dessen Frau macht ihm mit ihrer Eifersucht das Leben zur Hölle. Ein Reigen voller Wünsche, Missverständnisse und Alltäglichkeiten. Zu einer aussterbenden Art gehören die Protagonisten dieses kleinstädtischen Universums allein schon deswegen, weil allem Überdruß und allen gewöhnlichen Enttäuschungen zum Trotz die Zuversicht siegt. Man vertraut auf die Gemeinschaft, auf die Familie, auf jene Bande, die nicht nur einzwängen, sondern auch halten. Am Ende schließt sich der Kreis: Die Großmutter hat sich umgebracht, das Enkelkind wird geboren. Das neue Elternpaar beschwört glücklich das Wunder des hoffnungsfrohen Beginns, das jeder Geburt inne wohnt.
Das Miteinanderleben ist schwer, aber es lohnt sich auszuhalten, wenn man liebt und aneinander festhält. Deswegen will die werdende Mutter ihren Mann während der Geburt bei sich haben, deswegen harren Bruder und Schwägerin im Krankenhaus aus, bis das Kind geboren ist. Einmal mehr beschwört Richard Bausch hier eindrucksvoll die Familie als unschlagbare und kraftvolle Stütze des Lebens.
MANUELA REICHART
RICHARD BAUSCH: Eine aussterbende Art. Novelle. Aus dem amerikanischen Englisch von Carl Weissner. Steidl Verlag, Göttingen 2000. 140 Seiten, 28 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Die einsame Beinarbeit der stillen Paare
Doppelzüngig durch Küssen Von Dieter Bartetzko

Man glaubt, Menschen brächten sich im Zustand höchster Verwirrung um, auf der Klimax persönlicher Krisen, wegen unlösbarer Probleme oder unheilbarer Krankheiten. Manchen aber genügt der Verlust einer Winzigkeit, die kein anderer bemerkt. "Plötzlich und unerwartet", die allgemein gebräuchliche, andeutend verschleiernde Formel für Todesanzeigen, trifft dann im wörtlichen Sinne zu.

Andrea Brewster, Ende fünfzig, eine schöne Frau - ihre Angehörigen sagen "immer noch schön" - vergiftet sich, weil ihr der gemeinsam beschlossene, absolut vernünftige Verkauf des Familienhauses die Aussicht auf die im Morgennebel schwimmenden Berge Virginias nehmen wird, die sie jahrzehntelang bei Sonnenaufgang anschaute, während sie das Frühstück vorbereitete. An ihrem letzten Morgen tut sie das wie immer. Ihr Mann macht ihr, wie oft, beiläufig Vorwürfe wegen eines Fast-Seitensprungs, der fünfzehn Jahre zurückliegt. Sie reagiert, wie gewohnt, gelassen. Im selben ruhigen Ton reden beide über den bevorstehenden Auszug und ihr künftiges Pensionärsleben zu zweit. Mittags Lunch mit zwei Freundinnen, ein anschließender kurzer Bummel durch Antiquitätengeschäfte. Dann fährt Mrs. Brewster in ein Motel statt nach Hause, mietet ein Zimmer, hängt ihre Kleidung sorgfältig über einen Bügel, geht zu Bett und nimmt eine Überdosis Tabletten.

Bei fünf eng oder weitläufig mit den Brewsters verbundenen Paaren löst dieser Selbstmord Katastrophen aus. Keine sichtlichen, nur innere, die sich in häufigen kleinen Fehlleistungen dem jeweiligen Partner gegenüber äußern. Andrea Brewsters schwangere Tochter stößt sich plötzlich am scheuen weltfremden Wesen ihres Manns. Gleichzeitig entdeckt sie, dass ihr kumpelhaftes Verhältnis zu einem Kollegen mehr sein könnte. Sie vertraut sich ihrem Bruder an, der ihr seinerseits gesteht, er fühle nichts mehr für seine hübsche einfühlsame junge Frau. Beides belauscht zufällig der Mann der Schwester. Er schweigt, so wie die ahnungsvolle Schwägerin schweigt und die Frau des Kollegen, die, vom vollzogenen Ehebruch überzeugt, Böden schrubbt und Gläser bis zur Ekstase poliert, während sie, nach einer ersten Anschuldigung, sich weigert, mit ihrem Mann über die nie stattgefundene, für sie aber zur Tatsache gewordene Treuelosigkeit zu reden.

Alle reden fortwährend aufeinander ein - Dialoge, eine der großen Schwierigkeiten aller Romane, sind Richard Bauschs Stärke -, doch sie reden nie miteinander. Oder wenn, dann mit doppelten Zungen. Der andere hört den Wortsinn und den wirklichen, antwortet aber ebenso doppeldeutig. Dass damit ein ganzes Leben zu zweit bestritten werden kann, zeigt ein greises Ehepaar, Philemon und Baucis im Reigen des Romans, das gemeinsam über Gott und die Welt philosophiert, wobei jeder zweite Satz den Partner zwischen den Zeilen anklagt, dass er senil werde. Beider Untermieter ist der männliche Teil einer gerade aufkeimenden Liebe, ein stammelnder Romeo, der seiner aus Wohlbehütetheit tablettensüchtigen Julia, die im Drogenrausch gern vom Reiz des Suizids schwärmt, von Heirat "und so" lallt, weil ihre Pillen ihm die Zunge schwer und locker zugleich gemacht haben.

"Er stellt sich vor, dass er durch seine Liebe zu einem besseren Menschen wird", heißt es. Am Ende des Romans wird er am Ziel und so sein wie immer, verheiratet mit jemandem, den er schon durch und durch kennt und doch nie kennen lernen wird. Alle Paare des Romans sind solche Zufallsbekanntschaften mit amtlicher Bestätigung, die, wenn nicht irgendein Zufall sie in die Selbsttötung oder zum Mord am Lebenspartner treibt, ewig nebeneinander herleben werden. Die Bedingung für ihren bleiernen Frieden ist die absolute Diskretion der indirekten Rede. Andrea Brewster hat diese Regel gebrochen, als sie ihrem Mann sagte, sie habe sich, ohne es zu wollen, in einen anderen verliebt. Nur dies. Sein monatelanges Wüten gegen die eigenen Hirngespinste haben sie, nach einem zweitägigen Ausbruch, klein beigeben lassen. Aber sie hat dabei die Freiheit gewonnen, selbst über ihr Leben und dessen Ende zu bestimmen. Deshalb ist sie die Angehörige einer aussterbenden Art.

Die Lebenstüchtigen des Romans hüten ihre Zweisamkeit und bereiten damit sich und dem anderen eine stille unendliche Folter. Weil deren Rituale sich ewig gleichen, hat Richard Bausch einen stillen und schmalen Roman des Immergleichen geschrieben; beginnend mit einem Tod, endend mit einer Geburt. Einige Male, als misstraue er plötzlich der kleinen Form, tauchen symbolistische Arabesken auf: ein Kalb zum Beispiel, das sich, beobachtet von Geiern, unter einem Gewitterhimmel in dem Stacheldrahtzaun, worin es sich verfangen hat, zu Tode zerrt, Anspielungen auf Millers "Hexenjagd" (prompt wird im nächsten Kapitel eine Nebenfigur namens Abigail eingeführt), die den Leser mit der Nase darauf stoßen, dass Worte tödliche Tat werden können und jeder sich und dem Partner zum Inquisitor werden kann.

Doch bleibt die Erzählung eindringlich, weil sie betreibt, was sie zugleich anprangert: In doppelzüngiger Rede berichtet sie von der Unfähigkeit zu leben, indem sie fortwährend beschreibt, wie alle lieben; Autisten, die gezielt zuschlagen können, wenn jemand ihre inneren Kreise stört. So gewinnen die Passionen von Leuten, die träumen, im Alter "eine mondäne zweiwöchige Pauschalreise" zu buchen "oder eine Kreuzfahrt mit Landausflügen. Etwas richtig Elegantes", die tragische Dimension.

Nach einigen Tagen verschwimmt die lakonische Schilderung in der Erinnerung. Aber zuvor hat sie im Gedächtnis zuweilen so unvermittelt geschmerzt wie ein winziger Splitter unter einem Fingernagel. Und das Bild von jener Frau, die völlig ruhig aus dem Leben geht, weil es ihr einen Fensterblick rauben will, wird einem vielleicht nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Richard Bausch: "Eine aussterbende Art". Novelle. Aus dem Englischen übersetzt von Carl Weissner. Steidl Verlag, Göttingen 2000. 139 S., geb., 28,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Eine Ehefrau, Ende Fünfzig, bringt sich um, weil sie mit dem Verkauf ihres Hauses die Aussicht "auf die im Morgennebel schwimmenden Berge Virginias" verlieren wird. Verstört verfallen Verwandte und befreundete Paare nach diesem Selbstmord wieder in ihre Kommunikationslosigkeit, ohne etwas von der Toten oder sich selbst begriffen zu haben. Von dieser im "Immergleichen" sich abspielenden Folter quälender Zweisamkeit hat der Autor in seinem "stillen" Roman "eindringlich" erzählt, urteilt Dieter Bartetzko. Die "doppelzüngigen" Dialoge der Paare, deren eiserne Lebensregel "die absolute Diskretion der indirekten Rede" ist, sind die besondere Stärke des Buches, schreibt er.

© Perlentaucher Medien GmbH"