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Per Leo fragt in dieser bahnbrechenden Studie nach den geistesgeschichtlichen Wurzeln von Rassismus und Judenverfolgung im Nationalsozialismus. Er zeigt, dass der Wille zur Ausgrenzung sich weniger als eigenständige Ideologie artikulierte, sondern in eine diff us rationale Weltanschauungskultur eingebettet war, die in dieser Form nur in Deutschland entstehen konnte. Am Beispiel des charakterologischen Diskurses rekonstruiert Leo die Route, auf der das allgemeine Problem menschlicher Ungleichheit und die besondere Frage nach dem "jüdischen Wesen" ihren Weg aus dem 19. ins 20. Jahrhundert…mehr

Produktbeschreibung
Per Leo fragt in dieser bahnbrechenden Studie nach den geistesgeschichtlichen Wurzeln von Rassismus und Judenverfolgung im Nationalsozialismus. Er zeigt, dass der Wille zur Ausgrenzung sich weniger als eigenständige Ideologie artikulierte, sondern in eine diff us rationale Weltanschauungskultur eingebettet war, die in dieser Form nur in Deutschland entstehen konnte. Am Beispiel des charakterologischen Diskurses rekonstruiert Leo die Route, auf der das allgemeine Problem menschlicher Ungleichheit und die besondere Frage nach dem "jüdischen Wesen" ihren Weg aus dem 19. ins 20. Jahrhundert fanden. Indem er darstellt, wie ab 1900 die Charakterologie - mit dem Philosophen und Graphologen Ludwig Klages als Leit?figur - zu einem zentralen Orientierungspunkt in der deutschen Geisteslandschaft wurde, ermöglicht Leo auch eine neue Sicht auf die immer noch ungeklärte Frage, wie die deutsche Bildungsschicht im Dritten Reich ankommen konnte. War es nicht möglich, persönliche Individualität ebenso als Charakterform aufzufassen wie rassische Typizität? Musste das "Land der Dichter und Denker" in der Naziherrschaft? wirklich untergehen?
Autorenporträt
Leo, Per

Per Leo, geboren 1972 in Erlangen, studierte in Freiburg und Berlin Philosophie, Neuere und Neueste Geschichte und Slawistik. Er lebt und arbeitet in Berlin als freier Autor und Schatullenproduzent. Für seine Dissertation Der Wille zum Wesen wurde er mit dem Sonderpreis "Judentum und Antisemitismus" der Humboldt Universität Berlin ausgezeichnet.
Für Flut und Boden: Roman einer Familie war Per Leo für den Preis der Leipziger Buchmesse 2014 nominiert.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.12.2013

Detektivische Utopien
Der Berliner Historiker und Philosoph Per Leo fragt nach geistesgeschichtlichen Wurzeln von
Rassismus und Judenverfolgung – eine große Studie, die Widerspruch herausfordert
VON THOMAS STEINFELD
Dissertationen gibt es mittlerweile, die in Umfang und Anspruch wie Lebenswerke auftreten und darüber hinaus gut, ja manchmal geradezu literarisch geschrieben sind. Das Buch vom „Willen zum Wesen“ des Berliner Historikers und Philosophen Per Leo ist ein solcher Gesamtentwurf. Er beginnt mit einer Anekdote: Beim Versuch, in der Bibliothek des Großvaters aufzuräumen, erzählt der Autor, sei er auf das Buch „Handschrift und Charakter“ des Chemikers und „Ausdruckswissenschaftlers“ Ludwig Klages gestoßen – auf ein Buch, das schon bald nach seinem Erscheinen im Jahr 1917 nicht nur zu einem Standardwerk der Schriftdeutung wurde und es bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg blieb, sondern das auch zur zentralen Referenz einer ganzen Bewegung wurde, die von C. G. Jungs Typenlehre bis zu den „Idealtypen der Individualität“ des Pädagogen Eduard Spranger reichte – also lauter Werke umfasste, deren gemeinsames Anliegen es war, einzelne Menschen nach Merkmalen zu ordnen und die Menschheit also zu sortieren.
  Der Großvater war Sturmbannführer gewesen, ein gebildeter Stabsoffizier der SS. Und der Enkel, der in der Bibliothek aufräumt, bildete Bücherhaufen: einen für die Klassiker der deutschen Literatur, einen zweiten für die Weltanschauungen des frühen 20. Jahrhunderts, für die Rassentheorien Houston Stewart Chamberlains und die Blutsmystik Alfred Rosenbergs, für Walther Darrés Lehren von einem neuen Adel und die Rassenkunde Hans F. K. Günthers. Zwischen den Haufen aber lag Ludwig Klages Grafologie, mit Sicherheit kein Klassiker, kein Werk einer faschistischen Weltanschauung, aber in seinem Klassifikationsfuror, in der Selbstgewissheit, mit der sich der Autor urteilend über den Rest der Gesellschaft erhebt, doch in einer gewissen Verwandtschaft zu den Lehren der Nationalsozialisten stehend. Die Frage, wie sich „die natürliche Ungleichheit der Menschen gedanklich erfassen“ lasse, habe Ludwig Klages umgetrieben, schreibt Per Leo. Die Frage, was das mit dem Nationalsozialismus zu tun gehabt haben könne, treibt nun den Enkel um.
  Die Grafologie war ein Unternehmen von beschränkter Dauer. Das liegt zum einen daran, dass sie ausgebildete, geübte Handschriften voraussetzt. Noch im 19. Jahrhundert war Individualität in der Handschrift nichts Erstrebenswertes. Heute hingegen schreiben auch Menschen, die sehr viel verfassen, so wenig mit Stift, Kugelschreiber oder Füllfederhalter, dass sie nur noch selten eine eigene Handschrift herausbilden. Und an mehr oder minder unbeholfenen Nachahmungen von gedruckten Buchstaben gibt es wenig zu deuten. Zum anderen aber ist die Grafologie an die Vorstellung gebunden, in der Schrift verrate sich der Charakter. Das setzt nicht nur die Idee voraus, die grafische Verlaufsform der Schrift sei in sich ein Zeichen, sondern auch den weitaus kühneren Gedanken, es gebe so etwas wie die zweifellos feststellbare Eigenart eines Menschen.
  Per Leo erzählt eine Geschichte, die einmal groß gewesen war und in Vergessenheit geraten ist, zu Unrecht, weil in ihr ein Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart liegt. Sie beginnt damit, dass die Grafologie Anfang des 20. Jahrhunderts eine Wissenschaft werden sollte. Und wenn sie es auch nie wurde, so errang sie damals doch eine große öffentliche Geltung. Sie wurde zu einem gewöhnlichen Bestandteil beruflicher Auswahlverfahren, blieb es in vielen Betrieben bis zur Einführung der digitalen Datenverarbeitung und wird seit den Zwanzigerjahren vor Gericht als Beweisverfahren anerkannt. Dabei will sich die Grafologie wesentlich von allen anderen Wissenschaften unterscheiden, die „dem Menschen“ gewidmet sind: dadurch, dass sie ihren Ausgang in der Physiognomie nimmt und in „sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen nach Ideen sucht“, die nur in individueller Gestalt zu haben und anders als über persönliche Erfahrung überhaupt nicht zu ermitteln sind. Die Grafologie, erläutert Per Leo mit einer glücklichen Formulierung, sei eine „detektivische Utopie“, in der es darum gehe, „die Persönlichkeit eines fremden Anderen aus dessen Anblick“ zu entziffern, was eine besondere Intuition beim Anblickenden unterstellt.
  Unterscheidungslehren hatte das frühe zwanzigste Jahrhundert in großer Zahl hervorgebracht, und Per Leo bringt sie in einen Zusammenhang: Otto Weiningers „Geschlecht und Charakter“ (1903) war eine radikale Unterscheidungslehre, eine zwischen Mann und Frau. Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ (1918) oder die „Rassenseelenkunde“ des entlaufenen Philosophen Ludwig Ferdinand Clauß waren Unterscheidungslehren, letztere mit ihren Differenzierungen zwischen „Leistungsmenschen“ und „Verharrungsmenschen“, „Darbietungsmenschen“ und „Offenbarungsmenschen“. Eine Unterscheidungslehre verbirgt sich auch in der Bilderserie, die der Kölner Fotograf August Sander von „Menschen des 20. Jahrhunderts“ machte. In der Entfaltung einer halb vergessenen, aber folgenreichen intellektuellen Bewegung, die im Persönlichen vollzieht, was der Rassismus mit dem Volk zu veranstalten trachtet, liegt das immens große Verdienst der Arbeit Per Leos.
  Auf Widerspruch ist sie dabei angelegt: Denn bilden diese Charakterologien, wie Per Leo behauptet, tatsächlich ein Gegenüber zur Schule des „rationalen Denkens“, als die er die wissenschaftliche Tradition vom 17. bis zum 20. Jahrhundert bezeichnet? Sind sie eine „Kampfansage an das Verborgenheitsparadigma der gesamten neuzeitlichen Naturforschung“? Und wenn sich Intellektuelle des frühen 20. Jahrhunderts, Rudolf Steiner zum Beispiel, mit besonderer Aufmerksamkeit Goethes „Farbenlehre“ zuwenden: steht dieses Interesse für eine Neuorientierung an Anschauung und Physiognomie, im Gegensatz zu Analyse und Dekonstruktion?
  Keineswegs, der Gestus ist hier durchaus nur Schein. Tatsächlich wollen die neuen Lehren selbst gar nicht anders arbeiten, als es die Naturwissenschaften seit dem frühen 18. Jahrhundert tun. Wie diesen geht es ihnen darum, jenseits einer Vielfalt von Erscheinungen die Gesetzmäßigkeiten zu ermitteln, in Gestalt einer fortlaufenden Reduktion des Zusammengesetzten auf das möglichst Einfache.
  Die neuen Lehren tun das aber an dafür nicht geeigneten Gegenständen, nämlich am Menschen und an der Gesellschaft. Das große Pathos, mit dem sie auftreten, geht auch darauf zurück, dass sie zwar leisten wollen, was die Physik oder die Chemie an der materiellen Welt vollbrachten und was zuletzt Charles Darwin in der Biologie gelungen sein mochte, dass sich aber die Eigenart eines Menschen nicht als Variable einer Funktion darstellt. Das Pathos wäre dann das Eingeständnis dieser Schwierigkeiten und der Versuch, die Differenz zwischen Intuition und Wissenschaft mit propagandistischen Mitteln zu überwinden.
  Zwar spricht Per Leo von solchen Zweideutigkeiten, indem er zum Beispiel darauf verweist, die Grafologie eines Ludwig Klages sei auch ein Versuch, die „Großstadt“ und die ihr zugehörige Instabilität des Individuums „aufzuheben“, und zwar durch die Einrichtung eines „Beobachterpostens“, der einen doppelten Vorteil bietet: Es lässt sich, von ihm aus, die gesamte Gesellschaft wahrnehmen, und der Beobachter muss den Beobachteten nicht nahe kommen. Doch findet Per Leo diesen Posten viel zu faszinierend, als dass er das Rhetorische an diesen Lehren noch wahrnehmen wollte – und mit dem Rhetorischen das strategische Interesse am plötzlichen Umsturz der Verhältnisse. Der Coup – der politische wie der intellektuelle – war ein bevorzugtes Projekt des frühen 20. Jahrhunderts, ein Reflex auf instabile Verhältnisse, die es erlaubten, mit einer kleinen Gruppe loyaler Anhänger und einem einzigen, gut gezielten Wurf den Stand der Dinge von Grund auf zu verändern.
  Warum aber gibt es diese Unterscheidungslehren, und warum radikalisieren sie sich zu einer bestimmten Zeit und binnen sehr kurzer Frist, wieso gibt es den Augenblick, jenseits dessen eine zu weit schweifende Unterlänge bei einem handgeschriebenen „g“ eine Karriere vernichtet und eine jüdische Großmutter ein ganzes Leben? Schwierig, diese Fragen zu beantworten, ohne zugleich davon zu reden, worauf all diese Lehre hinauslaufen: auf die Konstruktion eines idealen Selbst, auf Reinheit und Identität. Und selbstverständlich gibt es den Punkt, an dem es gewaltsam ernst wird mit diesen Lehren, dann nämlich, wenn der politische Souverän sich ihrer annimmt, als Sachwalter des Volkes, des angeblich identischen Gemeinsamen wider den nicht einmal mit sich selbst identischen Einzelnen.
  Es ist seltsam, dass Per Leo diesem Schluss auf das Politische ausweicht: „Der Gedanke, dass Individualität und Persönlichkeit im Nationalsozialismus überhaupt eine Rolle gespielt haben könnten, mutet uns fremd an“, erklärt er. Uns aber mutet fremd an, dass ihn das fremd anmutet: Gewiss, der Faschismus kennt, weil er keine Differenz zwischen seinen Bürgern und dem Staat mehr gelten lassen will, Individualität vor allem als Dienst an der Gemeinschaft. Eine dienende Individualität ist aber etwas anderes als gar keine Individualität, und wenn der faschistische Staat seine Bürger einem radikalen Prinzip der Auslese unterwirft, dann ist ihm an einem gewissen Typus von Individualität sehr gelegen. Und deswegen stimmt es nicht, wenn Per Leo schreibt, der „charakterologische Denkstil“ habe eine „weltanschauliche Brücke“ zwischen den Nationalsozialisten und der „deutschen Bildungsschicht“ geschlagen. Eher schon ist es so, dass die Nationalsozialisten das „charakterologische Denken“ der deutschen „Bildungsschicht“ auf eine brutale Spitze trieben. An der Bibliothek des Großvaters ließe sich diese Radikalisierung womöglich noch erkennen.
Ludwig Klages wollte die
natürliche Ungleichheit der
Menschen gedanklich erfassen
Warum gibt es diese
Unterscheidungslehren, und
warum radikalisieren sie sich?
  
  
Per Leo: Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890-1940. Matthes & Seitz, Berlin 2013. 734 Seiten, 49,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Anders als Götz Aly in seinem Buch "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" bleibt Per Leo für Patrick Bahners nicht den Mustern der Volkscharakterkunde verhaftet, sondern versucht, aufklärerisch und mitunter durchaus aphoristisch zuspitzend, wie Bahners einräumt, in seiner Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus Gedankenverbindungen und ihre Wirkungsweise zu analysieren. Wenn der Autor dabei die Charakterologie als wichtigen Bestandteil herausarbeitet, hat Bahners allerdings einen Einwand. Die Marginalisierung der Schriften Ludwig Klages' durch Leo versteht er nicht. Seiner Meinung nach verpasst der Autor damit eine Chance und unterschätzt Klages im Zusammenhang mit seinem Thema.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.2014

Schmuggelgut für den Rassenwahn

Wie Diskriminierung von Juden salonfähig wurde: Per Leo sieht in weltanschaulicher Literatur die Ursachen für den fehlenden Widerstand breiter bürgerlicher Schichten gegen den militanten Antisemitismus.

In einem einflussreichen Lehrbuch der "Menschlichen Erblehre", das 1936 in vierter Auflage erschien, vermerkte der Rassenhygieniker Fritz Lenz, seit 1923 Ordinarius in München, die "größte Schwierigkeit einer Rassenpsychologie" liege "in der Abgrenzung der Rassen und in der Zuordnung der Individuen zu einer Rasse". Es sei nämlich nicht möglich, einen Menschen nach seinen physischen Merkmalen zu bestimmen wie eine Pflanze. "Daraus folgt nicht etwa, dass es wesentliche geistige Rassenunterschiede überhaupt nicht gäbe. Es folgt daraus aber, dass für die Erfassung der geistigen Rassenunterschiede ein gewisser Sinn für das Typische, gewissermaßen ein künstlerischer Blick nicht entbehrt werden kann."

Für das ungeschulte Auge nimmt sich die Flucht des Menschennaturwissenschaftlers in die Kunst wie ein improvisiertes Ausweichmanöver aus. Der Leser, der in Per Leos aus einer historischen Dissertation hervorgegangenem Buch auf diese Sätze stößt, wird dagegen in der Verlegenheitsformel ein Denkmuster erkennen. Durch eingehende Interpretation eines disparaten Textmaterials hat Leo den Leser mit den Charakteristika eines intellektuellen Großunternehmens vertraut gemacht, das dem gebildeten Bewusstsein, auf das es einmal einen gewaltigen Einfluss ausübte, komplett entfallen ist.

Leo meint das fehlende Zwischenglied der Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus gefunden zu haben. Sein Buch antwortet auf die Frage: Wie ist es zu erklären, dass die Entrechtung der Juden unter Duldung und Mitwirkung breitester Kreise der bürgerlichen Schichten vor sich ging, obwohl der antisemitischen Doktrin nur eine Minderheit der Gebildeten zustimmte? Leo hat die Charakterologie ausgegraben, die auch als Menschenkunde firmierte, eine Kunstlehre der Unterscheidung von Menschentypen, die mit wissenschaftlichem Anspruch auftrat und zugleich gegen die Fachwissenschaften gerichtet war. Analog zur heutigen Alternativmedizin kann man von einer Alternativwissenschaft sprechen. Versatzstücke der Völkerpsychologie verbanden sich mit Spekulationen über das Geschlechterverhältnis und mit kulturkritischen Überlegungen, die sich als Ansätze einer soziologischen Rollentheorie ansehen lassen. Den Juden wurde unter dem Eindruck des Problems der Assimilation eine Sonderrolle zugewiesen, der Charakter der Charakterlosigkeit.

Es ist der Clou von Leos Genealogie der Unmoral, dass diese als Gattungspsychologie kostümierte Zeitdiagnostik in der Regel gerade nicht biologistisch im Sinne des Schlagworts der heutigen Geschichtspädagogik argumentierte. Man knüpfte zwar an die vormoderne Physiognomik an, insofern man aus der Erscheinung eines Menschen dessen Eigenart herauslesen wollte, verwarf aber die Vorstellung einer festen Kopplung von körperlichen Merkmalen und geistigen Zügen. Der Jude, vermeintlich der geborene Schauspieler, wurde zum Lehrbuchbeispiel der Entkopplung von innen und außen gemacht. Charakteristisches Endprodukt dieser Hermeneutik des Verdachts ist aber erst die Figur des "inneren Juden", der kein Jude ist. Das Bonmot Carl Schmitts, man solle Richard Wagner als "innerjüdische Angelegenheit behandeln", das heißt im Autor von "Das Judentum in der Musik" den in dieser Schrift charakterisierten Typus wiedererkennen, drückt keineswegs nur eine private Obsession aus, sondern muss in seinem Aberwitz als repräsentativ gelten.

Charakterologische Traktate werden unter Weltanschauungsliteratur einsortiert. Leo nimmt den Begriff der Weltanschauung beim Wort und verwendet ihn für die deutsche Tradition eines Orientierungswissens, das im Anschaulichen das den disziplinären Wissenschaften entglittene Weltganze zu erfassen meinte. Den Status der weltanschaulichen Wissensbestände innerhalb der vermeintlich wertfreien Wissenschaften bestimmt Leo als Schmuggelgut: importiert, aber nicht deklariert. Dem Projekt einer Rassenpsychologie, das sich nach dem Stand der biologischen Erkenntnis nicht ausweisen ließ, lieh das Vorwissen einer angelesenen Menschenartenkenntnis Plausibilität.

Der künstlerische Blick, der bei Lenz den Erbforscher vom Bestimmtheitszwang erlösen sollte, war selbst der Definition zugänglich. Eine Bestimmung des "künstlerischen" oder auch "abgekürzten Verfahrens" der Gruppenseelenkunde hat Leo in Werner Sombarts Buch "Die Juden und das Wirtschaftsleben" von 1911 gefunden. Dem "inneren Gesicht", der "Intuition" genialer Menschen, legte der Staatswissenschaftler dar, seien "die wertvollsten Einblicke in die Wesenheit sozialer Gruppen" zu verdanken. Bei der "Charakteristik" einer "Eigenart" gelte es, diese "Aufschlüsse" zur "Grundlage des Gesamtmaterials" zu machen, "das wir dann erst mit Hilfe des nüchternen wissenschaftlichen Verfahrens verbessern". Komplementär Lenz: Man müsse "die hypothetischen Bilder, die der intuitive Blick liefert, immer wieder mit dem Erfahrungsmaterial" aus "Völkerkunde und Geschichte" vergleichen.

Der meistgelesene Charakterologe war Ludwig Klages (1872 bis 1956). Per Leo geriet auf die Spur seines Themas, als er im Nachlass seines Großvaters, eines Abteilungsleiters im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS, "Handschrift und Charakter" entdeckte, ein Standardwerk von Klages, der eine florierende graphologische Praxis unterhielt. Erst im vierten Teil seiner Arbeit nimmt Leo die Texte von Klages unter die Lupe, wobei er graphologische Gutachten aus dem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv einbezieht. Vorher soll "der Idealtyp charakterologischen Denkens aus den Texten anderer Autoren rekonstruiert werden", womit Leo belegen möchte, dass dem Werk von Klages "vor allem symptomatische Bedeutung zukommt". Der Idealtyp ist einer der Begriffe aus der Erbmasse Max Webers, die vor allem Verwirrung angerichtet haben. Leo sieht nur scheinbar von Klages ab, zieht vor allem solche Autoren heran, die Klages zu den Wegbereitern seiner "Wissenschaft vom Ausdruck" stilisierte, indem er etwa Schriften des Naturphilosophen Carl Gustav Carus und des Altertumsforschers Johann Jakob Bachofen neu herausgab. Klages wird zum Symptom für eine Tradition, deren Konturen er selbst gezogen hat.

Das soll die Wichtigkeit der von Leo freigelegten Motivzusammenhänge einer Morphologie des Menschenlebens nicht schmälern, in der die Berufung auf Goethe für eine Hautfarbenlehre herhalten musste. Eher spielt Leo ohne Not die Bedeutung von Klages herunter, dessen ambivalente Beurteilung durch Walter Benjamin Ausgangspunkt für die gleichzeitig mit Leos Buch erschienene Monographie von Nitzan Lebovic, einem Schüler von Saul Friedländer, über Klages und die nationalsozialistische Biopolitik ist ("The Philosophy of Life and Death", Palgrave/Macmillan 2013). In Leos Vorgeschichte der Charakterologie gerät in dichten Begriffsanalysen zur Erkenntnistheorie das Telos bisweilen aus dem Blick, weil der Autor es verschmäht, die Kommentare von Klages zu den Autoren zu zitieren. Ein höchst gehaltreiches Kapitel hat die "psychologische Weltanschauung" Nietzsches zum Gegenstand - aber nur am Rande erwähnt Leo, dass es von Klages ein ganzes Buch über "Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches" gibt.

In der Konzentration auf eine reine Dogmengeschichte, die für eine geschichtswissenschaftliche Arbeit ganz und gar ungewöhnlich ist, liegt aber auch eine Stärke: Leo demonstriert die Macht von Gedankenverbindungen; mit dem Verdikt des Irrationalismus ist die Überzeugungskraft der Autoren vom Schlage eines Ludwig Klages nicht zu erklären. Nicht minder bemerkenswert ist Leos Talent zur aphoristischen Zuspitzung seiner Thesen. Sein Buch ist ein aufklärerisches Gegenstück zu Götz Alys Traktat "Warum die Deutschen? Warum die Juden?", dessen Doppelporträt des eifrigen Juden und des faulen Deutschen den Mustern der Volkscharakterkunde verhaftet bleibt. Karl Löwith merkte in seiner von Leo nicht zitierten Rezension des Nietzschebuches von Klages kritisch an, in dessen Eindeutschung des Ressentiments zum Lebensneid gehe verloren, dass der Begriff mit der lateinischen Vorsilbe den "Ausdruck einer Gefühlsreaktion" bezeichne. "Letztlich sinnt radikaler Lebensneid auf Mord, um so das Unerreichbare wenigstens aus der Welt zu schaffen."

PATRICK BAHNERS.

Per Leo: "Der Wille zum Wesen". Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890-1940.

Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2013. 734 S., geb., 49,90 [Euro].

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