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Musik spielt in Vladimir Jankélévitchs OEuvre nicht nur in ästhetischer, sondern auch in philosophischer Hinsicht eine entscheidende Rolle. Sie ist der Ausgangspunkt vieler seiner Überlegungen und Betrachtungen zu Fragen der Metaphysik und Ethik, weil allein sie dem »Unaussprechlichen« Ausdruck verleiht und das Leben, obwohl sie »nichts auszudrücken scheint«, paradoxerweise mit Sinn erfüllt - gerade dort, wo sie als Klangbild an seine Grenzen erinnert. Das Endliche wird durch sie ins Unendliche transzendiert. Ein halbes Jahrhundert vor Peter Sloterdijk, der Musik als ein »Zur-Welt-Kommen oder…mehr

Produktbeschreibung
Musik spielt in Vladimir Jankélévitchs OEuvre nicht nur in ästhetischer, sondern auch in philosophischer Hinsicht eine entscheidende Rolle. Sie ist der Ausgangspunkt vieler seiner Überlegungen und Betrachtungen zu Fragen der Metaphysik und Ethik, weil allein sie dem »Unaussprechlichen« Ausdruck verleiht und das Leben, obwohl sie »nichts auszudrücken scheint«, paradoxerweise mit Sinn erfüllt - gerade dort, wo sie als Klangbild an seine Grenzen erinnert. Das Endliche wird durch sie ins Unendliche transzendiert. Ein halbes Jahrhundert vor Peter Sloterdijk, der Musik als ein »Zur-Welt-Kommen oder ein Die-Welt-Fliehen« definiert, hat Jankélévitch den Geist der Musik, Anfang und Ende, Geburt und Tod, das Auf und Ab des Ertönten sensibel studiert."Satie und der Morgen" gehört in eine Reihe von Essays über Komponisten, die Jankélévitch den Tageszeiten zugeordnet hat. Satie, der seine Werke selbst ironisch als »gothisch« bezeichnete, ist laut Jankélévitch eine Künstlererscheinung des Morgens: ob »Gymnopédies« oder »Gnossiennes«, ob »Danse gothiques« oder »Pièces froides«, ob »Rag-Time« oder »Messe des Pauvres«, in den unzeitgemäßen Rêverien des einsamen »Klavierspielers vom Montmatre« vernimmt Jankélévitch die Unschuld des Erwachens, eine »Scham des Gefühls«, auch eine ironische Absage an das Profane. 1957 in Paris erschienen, ist dieser erhellende Text zum ersten Mal nun auf Deutsch zu lesen.
Autorenporträt
Jankélévitch, Vladimir§Vladimir Jankélévitch, geb. 1903 in Bourges, entstammte einer jüdischen aus Odessa eingewanderten Intellektuellenfamilie. Unter dem Einfluss von Henri Bergson entwickelte er eine eigenständige Philosophie, die in der Musik eine große Rolle spielt. Aus dem Staatsdienst entlassen, trat er 1941 der Résistance bei und wurde 1947 wieder zum ordentlichen Professor für Moralphilosophie zunächst in Lille, dann in Paris ernannt. Sein weitgehend unbeachtet gebliebenes Werk findet neuerdings große Beachtung und wurde vielfach ins Deutsche übersetzt. Jankélévitch starb 1985.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2015

So klingt die Welt - und so Frankreich

Die Musikphilosophie hat wieder Konjunktur: Eignen sich die beiden Franzosen Michel Serres und Vladimir Jankélévitch als Wegweiser?

Von Lorenz Jäger

Das Protein FoxP2, erst 1998 entdeckt, lässt heute alle Debatten über das Verhältnis von Sprache und Musik, Klang und Mimik in einem neuen Licht erscheinen. Was mystisch gestimmte Musikliebhaber, hörende Pythagoräer schon immer behaupteten - dass die Welt Klang sei - tritt nun mit wissenschaftlicher Miene auf. Denn dieses Protein steuert ebenso die menschliche Sprachfähigkeit und das Erkennen der Mimik des Anderen, wie es den Walen, Fledermäusen und Zebrafinken das Erlernen der Gesänge ermöglicht. Es hat einen Einfluss auf die Schizophrenie. FoxP2 sagt, zugespitzt: Wer zum Klang kein Verhältnis hat, wird geisteskrank.

Der französische Philosoph Michel Serres erwähnt in seinem Buch "Musik" das Protein nicht, aber seine ganze Gedankenentwicklung scheint es zu fordern. "Worte und Ideen kamen mir in Melodien. (. . .) Die Musik ruft den Satz hervor", schreibt er über seine Kindheit. Eigentlich ist dieses Buch ein kaum gebremster, unendlich assoziativer Hymnus auf das Klingen selbst, das kosmisch und theologisch grundiert wird; und es ist eine autobiographische Reflexion des Denkers im Medium der Lebensklänge.

Und das, obwohl (oder weil?) Michel Serres sich als "missratenen Musiker" bezeichnet, der nur den Spuren von Orpheus' Reise folge. Die Sprachen selbst werden ihm vor allem als Klänge fasslich: "Unter dem Deutschen höre ich Wagner und Mahler in endlosem Satzbau und Phrasierungen donnern, in besorgter Erwartung des Verbs." Aber dann scheint er die Leistungen von FoxP2 zu ahnen: "So universell wie die Zahlen für den Menschen ist für die Primaten und die Vögel die Musik." Philosophisch sucht Serres das, "was unsere deutschen Freunde die Ur-Musik nennen".

Serres lässt seine Überlegungen, die bei dem mythischen Sänger Orpheus beginnen, in eine Lektüre des Alten und des Neuen Testaments münden. Maria ist ihm zunächst und vor allem eine Singende. Als die Mutter des Täufers die kommende Gottesmutter preist und das Kind im Leib zu hüpfen beginnt, antwortet Maria mit dem Magnifikat, "und sie singt die Freude, die ihre Seele weitet, und lobpreist den Herrn; sein eigenes Fleisch erschauert vor Jubel". Französisch: Das sind bei Serres die glücklich gefundenen Übergänge von Natur in Kultur, wie beim Wein, so im Kultus.

Und die Musik ist ebenso national (deutsch, französisch, italienisch), wie sie universell ist. In seiner "Musiksoziologie" schrieb Theodor W. Adorno: "Wer Debussy richtig hören will, muss die Kritik mithören, welche seine Kleinformate, die deutsche Arroganz leicht mit dem Genrestück verwechselt, am metaphysischen Anspruch der deutschen Musik üben. (. . .) Die kritischen und polemischen Züge Debussys und aller westlichen Musik sind dadurch aber auch verkoppelt mit solchen von Verblendung gegen wesentliche Aspekte der deutschen." Man empfinde jenseits der Rheins, so Adorno weiter, Beethovens Gestus gelegentlich als "selbstgerechtes Auftrumpfen", als einen Habitus, "dem es an urbanen Sitten gebricht".

Wer wissen will, wie sich die von Adorno beschriebene französische Haltung in ihrer scharfsinnigsten, aber zugleich ins nachgerade Absurde gesteigerten Schärfe ausnimmt, der greife zu dem Bändchen von Vladimir Jankélévitch, der nur knapp zwei Wochen älter war als Adorno. "Satie und der Morgen" heißt es; erstmals erschienen 1957. Damit ist schon die musikphilosophische These ausgesprochen. Es lobt das Licht des Morgens, das den Rausch der Nacht ablöst, die "Fusion und orgiastische Konfusion", es ist das der "prosaischen Unterbrechung und der Scheidung", es lehrt den "Rausch der Nüchternheit", es entzaubert die "verzauberte Seele".

Deutsch, das war für Jankélévitch die "romantische Geschwätzigkeit", es waren die "monströsen Kolosse, Ausgeburten des Münchener Größenwahns", "symphonische Weitschweifigkeit", die "Scharlatanerien des ,Rings'", die erschöpfenden "heroischen Symphonien und ,Heldenleben'", "brüllende Rhetoren und schreiende Sängerinnen". Die Namen Richard Strauss und Richard Wagner fallen einer Verdammung des Andenkens anheim, nirgends werden sie genannt, jeder weiß, dass es um sie geht. Erik Satie dagegen erscheint als der zarte, helle Ironiker, als einer, der die übermäßigen Ansprüche scherzend unterbietet, der die "Sports et Divertissements" überschreibt mit den Worten "Morgens, auf nüchternen Magen". So wird er zum Paten einer genuin französischen Musik der Gruppe "Les Six" um Francis Poulenc. Wäre man in Deutschland, würde man in Saties Musik eine dem Dadaismus verwandte Tendenz erblicken.

Aber Jankélévitch ist ein metaphysischer Antideutscher von großem Format; selbst kriegerische Bilder scheut er nicht, wenn er sagt, dass "Saties kleine Pfeile den Zeppelin des ,Rings' zum Platzen bringen". Er, der vor dem Krieg über die späte Philosophie Schellings gearbeitet hatte, wies nach der Judenvernichtung das Deutsche schlechthin von sich ab, die Sprache, die Romantik, das Denken; er dürfte auch der einzige Philosoph gewesen sein, der buchstäblich die These einer Kollektivschuld der Deutschen vertrat. Musikalisch ließ er aus Deutschland nur Kurt Weill gelten, bei dem er in der ironischen Entzauberung des Pathos Züge sah, die Satie verwandt waren.

Dies gesagt, muss nun auch die andere Seite erwähnt werden: Die Analysen von Saties Werk sind glänzend, von einem Philosophen geschrieben, der sich auf das Klavierspiel mehr als nur laienhaft verstand und zur Musik überhaupt ein genuines Verhältnis hatte. Jede These wird mit Notenbeispielen belegt. Bei Satie kam ihm die Figur des Sokrates entgegen - es gibt ein dreiteiliges symphonisches Drama "Socrate", in dem Texte Platons von einer weiblichen Stimme gesungen werden, begleitet von einem Klavier oder einem kleinen Orchester. - Man sagt wohl nicht zu viel, wenn man in diesen Tagen einen musical turn der Geisteswissenschaften zu beobachten glaubt.

Vladimir Jankélévitch: "Satie und der Morgen".

Herausgegeben von Richard Schroetter. Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015. 157 S., br., 16,- [Euro].

Michel Serres: "Musik".

Aus dem Französischen von Elisa Barth und Alexandre Plank. Merve Verlag, Berlin 2015. 168 S., br., 16,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Lorenz Jäger bespricht in einer Doppelkritik zwei musikalische Reflexionen französischer Denker, Michel Serres Bändchen "Musik" und Vladimir Jankélévitchs "Satie und der Morgen". Jankélévitch ist für ihn der Antideutsche unter den beiden, der Erik Satie als zart ironischen, ja nüchternen Kontrast zu den deutschen Dyonisikern Wagner und Richard Strauss aufbaue. Natürlich, so Jäger, spielt darin der Hintergrund des Holocaust eine Rolle. Jankélévitch sei einer der wenigen Denker, die den Deutschen eine Kollektivschuld am Geschehen geben. Musikalisch aber sei der Band ein Riesengewinn, besonders weil Jankélévitch, ein versierter Pianist, seine Analysen Saties mit wirklicher Kenntnis der musikalischen Faktur unterlege.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Dieses grafisch elegant gestaltete Bändchen über einen der großartigsten Außenseiter der europäischen Musikgeschichte [...] zeichnet sich durch eine enge interpretatorische Verbindung von Werkanalysen, musikphilosophischer Abhandlung und Werkrezeption aus.« - Wolfgang Schlott, KUNO, März 2016 Wolfgang Schlott KUNO - Kulturnotizen zu Kunst, Musik und Poesie 20160302