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Anetta Kahane wächst als Kind jüdischer Eltern in der DDR auf. Ihre Eltern überlebten den Nationalsozialismus in der Emigration, ihr Vater kämpfte in der Résistance. Nach den ersten Jahren in Ost-Berlin verbringt die Familie einige Zeit in Indien und Südamerika. Als sie zurückkehrt, spürt Anetta Kahane die Enge dieses neuen deutschen Staates, mit dem ihre Eltern so große Hoffnungen verbinden. Sie fühlt sich fremd in einem Land, das Völkerfreundschaft auf seine Fahnen geschrieben hat, aber Ausländer vom Leben der DDR-Bürger abschottet, sie fühlt sich unwohl in der Pionierbewegung, wo man…mehr

Produktbeschreibung
Anetta Kahane wächst als Kind jüdischer Eltern in der DDR auf. Ihre Eltern überlebten den Nationalsozialismus in der Emigration, ihr Vater kämpfte in der Résistance. Nach den ersten Jahren in Ost-Berlin verbringt die Familie einige Zeit in Indien und Südamerika. Als sie zurückkehrt, spürt Anetta Kahane die Enge dieses neuen deutschen Staates, mit dem ihre Eltern so große Hoffnungen verbinden. Sie fühlt sich fremd in einem Land, das Völkerfreundschaft auf seine Fahnen geschrieben hat, aber Ausländer vom Leben der DDR-Bürger abschottet, sie fühlt sich unwohl in der Pionierbewegung, wo man Volkslieder singt und deutsches Brauchtum pflegt. Während des Studiums in Rostock findet sie ihre Freunde vor allem unter chilenischen Emigranten, die in der Stadt leben. Dieses Gefühl der Fremdheit schärft ihren Blick, und als die Wende kommt, spürt sie, wie sich mit der neugewonnenen Freiheit auch die Fremdenfeindlichkeit Bahn bricht.
Anetta Kahane erkämpft sich Geld und Personal und baut ein Netzwerk gegen Rassismus und Rechtsradikalismus in den neuen Ländern auf. Viele ihrer Initiativen sind erfolgreich und erreichen eine große Öffentlichkeit, etwa die stern-Aktion "Mut gegen rechte Gewalt". Dennoch gibt es nach wie vor rassistische Gewalttaten und die Bereitschaft zur "Toleranz" gegenüber den Tätern. Der Aufstand der Anständigen liegt lange zurück, doch die Gefahr von rechts ist heute so bedrohlich wie damals.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.10.2004

Antifaschismus reicht nicht
Das Leben von Anetta Kahane in beiden Deutschlands
Anetta Kahane hat eine Biografie geschrieben. Über ihr Leben in der DDR und in der BRD - eine deutsch-deutsche Biografie also. Und ein Buch über den Zustand der Zivilgesellschaft im wiedervereinigten Deutschland. „Ich sehe was, was Du nicht siehst” - das alte Kinderspiel wird bei ihr zu einer gesamtgesellschaftlichen Diagnose. Scheinbar will man es nicht sehen, nicht schon wieder. Es? Dass hier zu Lande wieder der Ausländerhass gepflegt wird, dass es zu tödlichen Anschlägen kommt.
Anetta Kahane zufolge kann das nicht überraschen - so wenig wie die jüngsten Wahlerfolge rechter Parteien. Die DDR, schreibt Kahane, habe sich den Stempel „antifaschistisch” aufgedrückt und damit de facto eine Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus von Grund auf verhindert. Und habe so die Saat für neuen alten Ausländerhass gelegt. Kahane, die in einer jüdischen kommunistischen Familie in Berlin-Pankow aufwuchs, entlarvt den DDR-Antifaschismus als Maskerade. Schwarze aus den sozialistischen Bruderstaaten in Afrika waren auch hier nur „Neger”.
Dieser Rassismus war es dann auch, der zu Kahanes Bruch mit dem Regime führte. Später. Zunächst arbeitete sie als Spitzel für die Stasi - gezwungen zwar, denn eine Freundin war bei dem Versuch, die DDR zu verlassen, erwischt worden, aber dennoch jahrelang. „Vielleicht”, schreibt sie, „hätte ich doch trotzdem nein sagen können, doch das hätte mehr Mut erfordert, als ich mit 19 hatte.”
Das System der DDR, das sich auf Repression und Unfreiheit stützte, machte eine politische Bildung der Bürger fast unmöglich. Aus den „autoritären und antidemokratischen Zuständen in der DDR und der NS-Zeit zuvor” konnte alles entstehen, so Kahane. Nur keine „demokratische Kompetenz”. Und das habe der Westen bis heute nicht begriffen. Sie selbst hat am Zentralen Runden Tisch mitgearbeitet und ist heute Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, die gegen Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus kämpft.
Im wiedervereinigten Deutschland begann sich die rechte Szene wieder zu regen - ganz offen, ganz massiv. Kahane beschreibt die Wende und ihre Folgen: die Anschläge auf jüdische Friedhöfe, auf Asylbewerberheime, die Jagd auf Ausländer auf offener Straße, die Morde. Im Osten entstanden „national befreite Zonen”, ein Euphemismus für die offene Herrschaft rechter Schläger.
Kahane beschreibt den Alltag in Schwedt an der Oder. Wo die Menschen Angst haben, wo jeder hofft, dass es den anderen erwischt und nicht ihn. „Welcome to Terrortown” hätten einige Hip-Hopper mit großen Lettern auf eine Häuserwand gesprüht. „Das erregte Aufsehen. Das war der Sündenfall.” Nicht der Mord an einem 14-jährigen Mädchen, das von verwahrlosten Rechten im Keller eines der Plattenbauten zu Tode gefoltert wurde, schreibt Kahane. Die Zeit hatte Schwedt 1993 „die erste nationalsozialistische Stadt Deutschlands” genannt. Und was taten Staat, Politik und Bürger, fragt Kahane. Es gab „Lichterketten und Gedenkgottesdienste”, antwortet sie, und einen Kanzler, der verkünden ließ: „Deutschland ist kein Einwanderungsland!” Es war auch Helmut Kohl, der mit Steffen Heitmann einen Mann zum Bundespräsidenten wählen lassen wollte, der den Holocaust im Interview mit der SZ „einordnen” wollte - in eine Reihe mit anderen historischen Ereignissen. Kahane erinnert an Helmut Roewer, Verfassungsschutz-Präsident in Thüringen, der offen und unwidersprochen ein „differenziertes Bild des Dritten Reichs” gefordert hat. Entlassen wurde Roewer erst, als sich herausstellte, dass sein Landesamt über V-Männer die NPD in Thüringen maßgeblich finanziert hatte.
Kahane hält mit ihrem Buch der deutschen Gesellschaft den Spiegel vor. Sie erinnert an den Asylkompromiss und seine verheerenden Folgen - dass Flüchtlinge in Deutschland heute wie potenzielle Straftäter behandelt werden. Was Öl für ausländerfeindliche und rechtsradikale Feuer bedeutet. „Ich fragte Herrn Schily, ob er sich vorstellen könne, welche Wirkung ein Verbot für Flüchtlinge, andere Orte als den zugewiesenen besuchen zu dürfen, auf Rechtsextreme oder Durchschnittsbürger habe.” Doch Schily habe den Zusammenhang zwischen einer Kriminalisierung von Flüchtlingen und einem gewaltbereiten Ausländerhass nicht gesehen.
Bei der Präsentation des Buches in Berlin zitierte Daniel Cohn-Bendit einen großen Satz aus Kahanes Erinnerungen: „Das Gegenteil von Faschismus ist nicht Antifaschismus, sondern demokratische Kultur.” Und das, so Cohn-Bendit, „das haben wir im Westen auch nicht immer verstanden”.
ANDREAS BOCK
ANETTA KAHANE: Ich sehe was, was Du nicht siehst. Meine deutschen Geschichten. Rowohlt Verlag, Berlin 2004. 352 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Eine "Iphigenie in der Uckermark" meint Rezensent Micha Brumlik in Anetta Kahanes Rückblick auf ihr Leben in der DDR angetroffen zu haben. Zweierlei haben den Rezensenten daran interessiert: Zum einen der unterschwellige oder offensichtliche Rassismus (mit dem sich die DDR in Kahanes Einschätzung ihre Legitimität verspielt hat), zum anderen - und ganz besonders - die Schilderungen des letzten DDR-Jahrzehnts. Vor dem Hintergrund finanzieller Not habe das Politbüro ersonnen, es könnten Kredite von den USA geworben werden - über Gemeinsamkeiten beider Staaten. Und die nützlichste Gemeinsamkeit waren die - zuvor zwangsassimilerten - jüdischen DDR-Bürger, die man plötzlich ermutigte, sich zu ihrem Judentum zu bekennen. Gerade in dieser Schilderung werde Kahanes Geschichte zu einer "Fallstudie über jüdische Identitätsbildung", in der sich nachvollziehen lasse, "wie viele verschiedene innere und äußere, psychische, soziale und politische Motive zusammenwirken müssen, damit ein deutsch-jüdisches Selbstverständnis wiedererfunden werden konnte". Das letzte Drittel des Buches dagegen ist nicht so ganz nach Geschmack des Rezensenten, weil es sich zu eingehend mit der Beschreibung von Kahanes "antirassistischen Aktivitäten und Programmen" beschäftigt. Aber das ist es eben, wo Kahanes Herz schlägt und wo ihr Engagement liegt.

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr