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Eine Antwort auf die Fragen "Wo bin ich?" und "Wie spät ist es?" zu finden, kann als ältester Erkenntniswunsch des Menschen gelten - immerhin beschäftigten sich schon die Babylonier und die alten Ägypter mit Navigation und Zeitmessung. Auch Alfred van Cleef ist seit Kindheitstagen fasziniert von Ordnungen und Einteilungen aller Art und von der "Psychologie der Geografie". Früh entdeckte er - gewissermaßen als Inbegriff des menschlichen Verlangens nach Ordnung - den Nullmeridian für sich; denn anders als der Äquator, der die Mitte zwischen Nord- und Südpol bildet, wurde dieser 'nullte'…mehr

Produktbeschreibung
Eine Antwort auf die Fragen "Wo bin ich?" und "Wie spät ist es?" zu finden, kann als ältester Erkenntniswunsch des Menschen gelten - immerhin beschäftigten sich schon die Babylonier und die alten Ägypter mit Navigation und Zeitmessung. Auch Alfred van Cleef ist seit Kindheitstagen fasziniert von Ordnungen und Einteilungen aller Art und von der "Psychologie der Geografie". Früh entdeckte er - gewissermaßen als Inbegriff des menschlichen Verlangens nach Ordnung - den Nullmeridian für sich; denn anders als der Äquator, der die Mitte zwischen Nord- und Südpol bildet, wurde dieser 'nullte' Längengrad von Menschen willkürlich festgelegt. Auf ihm basiert nicht nur die geografische Ortsbestimmung mittels Koordinaten, sondern auch das Zeitzonensystem.Und so macht sich van Cleef auf zu einer rund 4800 Kilometer und fünf Monate langen Reise entlang dieser unsichtbaren Linie, die ihn durch acht Länder führt, vom verregneten Tunstall in Yorkshire/England bis in die Hafenstadt Tema an der Küste Ghanas.Berge, Flüsse, Wüsten, Friedhöfe und Industriegebiete - der Weg entlang des Nullmeridians ist nicht immer voller Romantik. Doch durch seine Neugier gerade auch auf das Kuriose, scheinbar Unattraktive und schwer Erreichbare und seinen Sinn für Absurdes kommt der Autor mit den unterschiedlichsten Menschen ins Gespräch: mit Gangstern, Regenmachern, Pilzsuchern, Nomaden, Königen und Fetischpriestern. Nebenbei erzählt er die Geschichte der geografischen Weltbilder und der Vermessung der Erdkugel; vor allem aber ist sein Buch ein sehr persönlicher, sprühend selbstironischer Reisebericht.
Autorenporträt
Alfred van Cleef wurde 1957 geboren und lebt als freier Schriftsteller in Amsterdam. Im mareverlag erschien von ihm zuletzt sein literarischer Reisebericht 'Die verirrte Insel' (2002), über den das Hamburger Abendblatt schrieb: "Eine wunderbar kauzige, romanhaft geschriebene Reportage, die dem Leser mit jeder Seite ein bisschen Gischt entgegenweht." 'Die verborgene Ordnung' wurde in den Niederlanden als 'Best Travel Story 2010' ausgezeichnet.Marlene Müller-Haas studierte Kunstgeschichte, Niederländische Philologie und Germanistik in Amsterdam und Berlin. Nach mehrjähriger Lehrtätigkeit an der FU Berlin arbeitet sie heute als freie Übersetzerin. Sie übersetzte u.a. F. Bordewijk, Charlotte Mutsaers und Thomas Rosenboom. 2002 erhielt sie den Else-Otten-Übersetzerpreis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2012

Annäherungsversuche an das Nichts
Alfred van Cleef reist den Nullmeridian entlang, um zu erfahren, was die Welt zusammenhält
Die Tatsache, dass sich die Erde um ihre eigene Achse dreht und um die Sonne kreist, der Mensch mithin sein Leben lang haltlos durch ein Universum voller Rätsel rast, führt zu einer Fülle an Fragen an das Dasein. Woher kommen wir? Warum sind wir da? Wohin rotieren wir? Aber nicht nur metaphysische Ungewissheiten gehören zur Schwierigkeit, uns im Chaos des Sternenraums zu verorten, sondern auch banale und alltägliche: Wo bin ich denn hier gelandet? Und: Wie spät ist es eigentlich?
  Mit den Antworten darauf beschäftigten sich schon die Babylonier und alten Ägypter. 6000 Jahre später gibt es GPS in jedem Mobiltelefon, aber die Fragen sind geblieben. Der niederländische Schriftsteller Alfred van Cleef stellt sie vom Kopf auf die Füße. Er sucht nicht direkt Antworten auf die Probleme von Raum und Zeit, er erkundet ein ebenso abstraktes, aber immerhin richtungsweisendes Hilfsmittel, das der Menschheit seit mehr als 200 Jahren zur Orientierung dient: den Nullmeridian.
  Diese senkrecht zum Äquator stehende, imaginäre Linie vom Nord- zum Südpol wurde nach langem politischen Hickhack auf einer internationalen Konferenz im Jahr 1884 festgelegt. Von dieser Linie ausgehend wurden die Längengrade nach Osten und Westen beziffert sowie die Weltzeit in verschiedene Zonen eingeteilt. Seitdem ist der Nullmeridian das Rückgrat dessen, was van Cleef die verborgene Ordnung der Welt nennt. Sein Vorhaben, diese Ordnung zu erkunden, indem er dem Nullmeridian über 4800 Kilometer durch acht Länder folgt, erscheint ebenso erhellend wie wahnwitzig. Ist der nullte Längengrad doch kein Pfad zu den romantischen Sehenswürdigkeiten der Welt, ja nicht einmal ein geografisches Phänomen wie der Äquator, sondern willkürlich über den Globus gezogen worden. Obendrein führt er außer durch Großbritannien, Frankreich und Spanien durch Westafrika, durch Länder, die nicht gerade zu den einfachsten Reisedestinationen zählen: Algerien, Mali, Burkina Faso, Togo und Ghana. Nach Algerien darf van Cleef denn auch nicht hinein.
  Schon der Auftakt der Reise ist voller fragwürdiger Vorzeichen: Nach Tunstall, einem Kaff in Yorkshire, wo der Nullmeridian vom Nordpol kommend in Großbritannien erstmals Land berührt, führen keine öffentlichen Verkehrsmittel. Es gibt keine freien Zimmer, nichts Anständiges zu essen, dafür Regen, grummelige Menschen und eine Küste, die vor sich hinbröckelt. Das Meridian-Denkmal ist schon längst vom Meer verschlungen worden. Selbst ein paar Kilometer weiter südlich, in London-Greenwich, wo die Sternwarte steht, durch die der ursprünglich festgelegte Nullmeridian führt, findet van Cleef nichts als Hotdog-Buden, Baustellen und einen Abfalleimer für Hundekot.
  Doch der Abenteurer nimmt diese erste, seine gesamte Reise prägende Lektion mit Selbstironie: Jemand, der auf der Spur von etwas Unsichtbarem ist, das lediglich hin und wieder auf dem Display eines GPS-Geräts als Anzeigenfolge von null Grad, null Minuten und null Sekunden auftaucht, muss sich nicht wundern, wenn das, was er vorfindet, am Ende: null ist; zumindest vordergründig betrachtet.
  Gerade das macht den Reiz von Alfred van Cleefs Projekt aus, dass es ihn an Orte verschlägt, für deren Besuch es eigentlich keinen Anlass gibt, dass er Menschen trifft, denen normalerweise niemand zuhört, und dass er auf diese Weise Dinge erlebt, die in ihrer ungeheuerlichen Alltäglichkeit spektakulär sind.
  Im Unterdeck eines vollgepfropften Frachtschiffs in Ghana, in den Zelten von Wüstennomaden, in Randgebieten und Grenzstädten oder zwischen wasserlassenden Schafen auf der Ladefläche eines Trucks, im Gespräch mit Marktfrauen, Stammesfürsten, Regenmachern, Fetischpriestern und Gangstern – stets bleibt van Cleef ein genauer Beobachter und ein Reporter vom alten Schlag: einer, der detailreiche Geschichten von großer Relevanz von unterwegs zurückbringt, keiner, der über sich selbst und seine Befindlichkeiten schreibt. Auch über seine persönlichen Beweggründe gibt er wenig preis. Es warteten zu Hause weder Frau noch Kinder auf ihn, schreibt er, also sei er völlig frei für risikoreiche Unternehmungen. Schon als kleiner Junge habe er die Gehwegplatten des Trottoirs mit den Füßen vermessen und als Teenager Landkarten gesammelt. Ein gewisser Ordnungsdrang, ein Wunsch nach Übersicht, auch ein Hang zur Akribie ist ihm eigen, was sich in faktenreichen Aufzeichnungen niederschlägt. Seinen Humor verliert er nie. Selbst auf den gefährlichen Routen der Menschenschmuggler durch die malische Sahara kann er sich noch trocken über den einzigen, von den Tuareg als heilig verehrten Baum im Umkreis von 400 Kilometern auslassen, der 1973 von einem betrunkenen libyschen Lastwagenfahrer gerammt wurde.
  Egal, wie dramatisch uninteressant und verlottert die Landschaft gerade ist – die Nullen auf dem Display des GPS-Geräts vermitteln van Cleef „den Anschein von Ordnung und gaben mir durch die physische Abgrenzung des Grenzenlosen ein Gefühl der Kontrolle über meine Welt“. Es ist freilich die wohlhabende, westliche Welt, die hier kontrolliert. „Der Nullmeridian ist etwas für Menschen mit Landkarten, Parabolantennen und Satellitenschüsseln. Was sollen wir damit?“, echauffiert sich der Schuldirektor in einem Dorf in Mali, der ganz andere Probleme hat, nämlich die Eltern zu überzeugen, ihre Kinder zu ihm zu schicken. Immer wieder trifft van Cleef auf Menschen, die nicht einmal ihr Alter kennen, insbesondere auf Frauen, die in dieser Frage auf ihre Männer verweisen.
  Das ist die zweite große Lektion dieser Reise: Die verborgene Ordnung herrscht hier mit ganz anderen Gesetzen. Es geht ums nackte Überleben, die tägliche Nahrungsbeschaffung, um Stammeshierarchien, religiöse Konflikte und Bräuche, von denen die Beschneidung der Frauen nicht der einzige grausame ist. Je tiefer van Cleef vordringt in diese fremde Welt – nie explizit wertend, sondern nüchtern berichtend und wenn möglich um Verständnis ringend – desto offensichtlicher wird, dass die Kontrolle über die Welt eine Illusion bleibt. Selbst der Entschluss des Autors, nach der Reise seinen eigenen Mikrokosmos zu ordnen, das Rauchen aufzuhören, eine Frau zu finden und nicht wegzulaufen, wenn das Glück zu nahe kommt, klingt mehr nach vager Absicht als nach festem Vorhaben.
  Am Ende steht van Cleef wieder vor hässlichen Bauzäunen. Dahinter verschwindet der Meridian im Meer. Die Erde dreht sich weiter.
JOCHEN TEMSCH
  
Alfred van Cleef: Die verborgene Ordnung. Eine Reise entlang des Nullmeridians. Mare Verlag, Hamburg 2012. 400  Seiten, 24  Euro.
Jemand, der auf der Spur des
Unsichtbaren ist, darf sich nicht
wundern, wenn er nichts findet
Rauchen aufhören, eine Frau
kennenlernen und bei ihr bleiben:
neue persönliche Koordinaten
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Natürlich total "wahnwitzig" und dabei trotzdem augenöffnend ist Alfred van Cleefs Idee, den Nullmeridian entlang zu reisen, findet der eingenommene Jochen Temsch. Diese willkürlich gezogene Linie zwischen Nord- und Südpol, auf die man sich 1884 international geeinigt hatte, ist für den niederländischen Autor so etwas wie das "Rückgrat" der "verborgene Ordnung der Welt", und an ihr reist er entlang durch Länder wie Großbritannien, Frankreich, Algerien oder Mali. Er kommt dabei an Orte, für die es sonst kaum einen Anlass gibt, sie zu besuchen und spricht mit Menschen, an denen kaum je jemand Interesse hat, wobei er sich sowohl, was die eigene Befindlichkeiten angeht, zurückhält als auch explizite Wertungen verkneift, stellt der Rezensent fest. Seine akribische Genauigkeit findet Temsch dabei genauso faszinierend wie seine selbstironische Art und seinen Humor, der ihm nicht verloren geht, ob  auf einem vollgestopften Unterdeck eines ghanaischen Frachtschiffs oder unter "wasserlassenden Schafen".

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