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Dass sich der menschliche Organismus ernähren muss, gilt als anthropologische Universalie. Unbestritten ist aber auch, dass die Art und Weise dieser Ernährung - das wie und womit er sich ernährt - von kulturellen Faktoren abhängig ist.Das vorliegende Buch entwickelt zunächst aus den Begriffsapparaten der Systemtheorie Niklas Luhmanns, der Kommunikationstheorie Dirk Baeckers und der Parasit-Joker-Theorie Michel Serres eine Kommunikationstheorie moderner Kulinaristik. Während im zweiten Teil des Buches der von Jürgen Dollase in die öffentliche Debatte eingeführte Begriff der Kulinarischen…mehr

Produktbeschreibung
Dass sich der menschliche Organismus ernähren muss, gilt als anthropologische Universalie. Unbestritten ist aber auch, dass die Art und Weise dieser Ernährung - das wie und womit er sich ernährt - von kulturellen Faktoren abhängig ist.Das vorliegende Buch entwickelt zunächst aus den Begriffsapparaten der Systemtheorie Niklas Luhmanns, der Kommunikationstheorie Dirk Baeckers und der Parasit-Joker-Theorie Michel Serres eine Kommunikationstheorie moderner Kulinaristik. Während im zweiten Teil des Buches der von Jürgen Dollase in die öffentliche Debatte eingeführte Begriff der Kulinarischen Intelligenz auf seine soziologische Erklärungsreichweite hin überprüft wird, beschäftigt sich der dritte Teil mit der Evolution und Ausdifferenzierung spezifisch kulinarischer Phänomene wie Koch und Esser, verschiedenen Küchenstilen (Haute Cuisine, Nouvelle Cuisine, Fast Food und Slow Food) sowie dem Restaurant als kulinarischer Institution. Im vierten und letzten Teil schließlich werden von den professionellen Berufsgourmets Jürgen Dollase und Wolfram Siebeck in der FAZ bzw. der ZEIT veröffentlichte Zeitungskolumnen in Bezug auf ausgewählte systemtheoretische Variablen, wie Ordnung und strukturelle Komplexität, analysiert. Dabei wird der Prozess der Erzeugung eines mehrdimensionalen Geschmacksbildes rekonstruiert und mit vielen - appetitanregenden - Zitaten illustriert.'Was die Theologie für das religiöse Erleben, das ist die gastronomische Kommunikation für das wirkliche Geschmacksempfinden.' Alois Hahn
Autorenporträt
Daniel Kofahl, Dipl.-Soz., studierte Medien-, Konsum- und Kommunikationssoziologie in Trier. Z.Zt. arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Ökologische Lebensmittelqualität und Ernährungskultur der Universität Kassel - u.a. Lehrveranstaltungen zu 'Essen und Trinken als Forschungsgegenstand' - und schreibt zudem an seiner Dissertation über 'Ernährung im Spannungsfeld zwischen Natürlichkeit und technischer Innovation'. Veröffentlichungen zur Phänomenologie des Kulinarischen und Ernährungskultur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2010

Bei Tisch wird nicht gesprochen!
Aber ein gut gefüllter Magen lässt mit sich reden: Daniel Kofahl kocht Luhmannsche Hausmannskost

Das Zubereiten einer Tomatensuppe hält überraschende Herausforderungen bereit. Da ist das Überführen der Tomaten vom festen in den flüssigen Zustand: entsaften oder pürieren? Entkernen oder nicht? Die Suppe dickflüssig oder wässrig? Glücklicherweise gibt es die kulinarische Intelligenz. Sie macht Ordnung möglich und Unordnung unmöglich, bringt mit Hilfe diverser Hungergefühle Ordnung in die kulinarische Komplexität und lässt die Tomatensuppe mit Lerneffekten und Irrtumskorrekturen schließlich gelingen.

Kulinaristik nennt der Soziologe Daniel Kofahl den Diskurs, der sich mit der Unterscheidung von wohlschmeckend und nicht wohlschmeckend befasst und ohne den Essen so schal sei wie religiöses Erleben ohne Theologie. Diesen Diskurs will Kofahl der soziologischen Analyse zugänglich machen, und zwar nicht über die schichtenspezifische Sozialisation, sondern über eine "formtheoretische Skizze".

Nun ist das Sprechen über kulinarischen Geschmack nicht leichter als das Sprechen über Kunst und schon die Entwicklung einer intersubjektiven Verständigung über Geschmacksempfindungen eine Herausforderung. Nicht umsonst heißt es in der guten Kinderstube: Bei Tisch wird nicht gesprochen! Zielführend ist hier eher haptisches als diskursives Verhalten. Wer zu viel redet, kriegt den Teller nicht aufgegessen. Ein leerer Magen treibt nicht gerne Kulinaristik. Erst gut gefüllt lässt er mit sich reden.

Mit Luhmannscher Hausmannskost, dem Re-Entry George Spencer-Browns und dem Joker von Michel Serres wird aus dem Gericht eine Nachricht des Kochs an den Esser, die dieser dekodieren kann oder auch nicht. Zwischendrin stößt der Leser auf den einen oder anderen unterernährten, also normalsprachlichen Satz, der nichtsdestotrotz wichtige Einsichten bereithält: In Kochbüchern geht es darum, wohlschmeckende Gerichte zu beschreiben. Allerdings schmecke nicht alles, was gegessen wird, doch man könne sich bemühen, weniger wohlschmeckendes Essen zu verbessern. Das ist fein abgeschmeckt.

Deftiger wird der Text, wenn es in die Geschichte geht: Der "sprachfähige Esser", mit dem der kulinarische Diskurs entstand, ist eine relativ neue Erfindung, so Kofahl, noch im sechzehnten Jahrhundert berichtete Michel de Montaigne erstaunt von einem Koch, der einen Vortrag über "die Wissenschaft der Speisen" hielt wie über "einen bedeutenden theologischen Gesichtspunkt".

Ein Rülpser allein sagt noch nicht viel. Zur Verständigung über Geschmack bedarf es eines fachgerechten und sachbezogenen Vokabulars. Restaurants müssen den Gästen erzählen, warum diese zu ihnen kommen sollen, und ohne ein Fachvokabular kann der Gourmet seine Erlebnisse nicht "aktiv nach- und vorbereiten" und sich damit vom zur Völlerei neigenden Gourmand unterscheiden.

Studien zur Sprache der Weinkenner haben freilich ergeben, dass sich die Kenner nur über ihnen bekannte Weine austauschen können, es ihnen bei der Beschreibung unbekannter Tropfen hingegen nicht gelingt, "auf Anhieb optimal intersubjektive Deskriptionen anzufertigen". Was den Geschmack natürlich hervorragend für ein selbstreferentielles System qualifiziert; denn worüber geredet wird, verschafft im Zweifel weniger Völlegefühl als die Art und Weise, in der es geschieht.

Kofahl berichtet von Versuchen, kulinarische Beschreibungen in spinnennetzartige Grafiken zu fassen, in denen etwa Speisequark deutliche Ausschläge auf den Achsen "körnig", "fest" und "rahmgelb", hingegen möglichst geringe auf der Achse "ranzig" aufweisen sollte. Auch der im dritten Teil anhand kulinarischer Zeitungskolumnen untersuchte Diskurs entpuppt sich als kohlenhydratreiche Sättigungsbeilage.

MANUELA LENZEN

Daniel Kofahl: "Geschmacksfrage". Zur sozialen Konstruktion des Kulinarischen. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2010. 121 S., br., 19,90 [Euro].

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