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Die Entwicklung der Weltanschauung und geistig-politischen Einstellung des Autors, Jahrgang 1923, emeritierter Professor für Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität, Mitglied und Ehrenmitglied fachwissenschaftlicher Gremien, vollzog sich mit einem zweimaligen Wechsel der Paradigmen: 1949 von der "Bürgerlichkeit" zum "Marxismus", 1959 bis 1963 vom "Marxismus" zu einem eigenen Menschen- und Geschichtsbild.Eckhard Müller-Mertens schreibt nicht aus der Erinnerung und nicht anekdotisch über sein Leben. Er bietet authentisch und kompetent Analysen gravierender Vorgänge in der…mehr

Produktbeschreibung
Die Entwicklung der Weltanschauung und geistig-politischen Einstellung des Autors, Jahrgang 1923, emeritierter Professor für Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität, Mitglied und Ehrenmitglied fachwissenschaftlicher Gremien, vollzog sich mit einem zweimaligen Wechsel der Paradigmen: 1949 von der "Bürgerlichkeit" zum "Marxismus", 1959 bis 1963 vom "Marxismus" zu einem eigenen Menschen- und Geschichtsbild.Eckhard Müller-Mertens schreibt nicht aus der Erinnerung und nicht anekdotisch über sein Leben. Er bietet authentisch und kompetent Analysen gravierender Vorgänge in der Geschichtswissenschaft der DDR wie den Wissenschaftsbeziehungen zwischen Ost und West. Er präsentiert durchgehend und dicht Zeitzeugnisse aus seinem Schriftgut und in der DDR geheim gehaltene Manuskripte, so die radikal systemkritische Analyse der Gesellschaftsstruktur und des politischen Regimes in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten. Darauf gründen sich die tragende zeitgeschichtliche Aussage des Autors und der objektive Quellenwert seiner persönlich schonungslosen Bilanz.Mitte der 90er Jahre in einer von Grund auf veränderten Lebenswelt zur eigenen Rechenschaftslegung und Vergewisserung verfaßt, sind die "Analytischen Memoiren" ein beeindruckendes Zeitdokument für den Epochenumbruch der Jahre von 1989 bis 1991 aus der Perspektive eines langen Forscherlebens zwischen Weimarer Republik, Drittem Reich, Kaltem Krieg und realem ostdeutschen Sozialismus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2012

Wie ich ein Mann zwischen den Fronten wurde

Das eingekleidete Gewissen: Der ostdeutsche Mediävist Eckhard Müller-Mertens legt Rechenschaft über seinen Abfall vom SED-Glauben und seine Dissidenz ab.

Es ist nicht vorbei. Der lange Schatten der SED-Herrschaft lichtet sich nur langsam über der Gegenwart derer, die schon unter ihr gelebt und gewirkt haben, und ob sich die Seele von Verkümmerungen erholen kann, die ihr Angstattacken beim Zugriff einer illegitimen Staatsgewalt zugefügt haben, ist ungewiss. All dies lässt sich an der Autobiographie eines berühmten Geschichtsprofessors der Humboldt-Universität studieren: Eckhard Müller-Mertens, geboren 1923, Sohn eines kommunistischen Funktionärs und Emigranten der dreißiger Jahre, vertrat von 1952 bis zu seiner Emeritierung 1988 die Geschichte des Mittelalters in Forschung und Lehre an der Universität Unter den Linden.

Trotz seiner marxistischen Gesinnung gehörte er zu den wenigen ostdeutschen Historikern von internationalem Renommee; seine Werke über die Sozialgeschichte der Karolingerzeit, die Anfänge der deutschen Geschichte und die Herrschaftsstruktur des frühmittelalterlichen Reiches sind relativ schnell in der Bundesrepublik rezipiert worden und verschafften ihm hohes Ansehen weit über die "Wende" hinaus. Durch die Leitung der ostdeutschen Arbeitsgemeinschaft des Hansischen Geschichtsvereins und der Forschungsstelle der berühmten "Monumenta Germaniae Historica" an der Berliner Akademie sicherte er nicht nur die Kontinuität bedeutender Forschungszweige, sondern vor allem eine nicht zu unterschätzende Kooperation beider deutscher Geschichtswissenschaften in der Zeit der Teilung. Nach 1989 dankte es ihm das westdeutsche Establishment mit ehrenvollen Berufungen und Publikationen.

Schon früh konnte aufmerksamen Beobachtern aber nicht verborgen bleiben, dass die Forschungsergebnisse von Müller-Mertens in die historischen Lehr- und Handbücher der DDR nur unzureichend, wenn überhaupt eingegangen waren. Man ahnte im Westen manche Konflikte mit der Staats- und Parteiführung, nahm aber auch die reiche Publikationstätigkeit des Professors selbst, seiner Schüler und Kollegen wahr und staunte über die Bildung einer veritablen Schule der Mediävistik. Für eine systemkonforme Existenz sprachen zudem die Mitgliedschaft in der SED, die Müller-Mertens erst am 2. Januar 1990 aufgab, und der ihm noch 1988 verliehene Nationalpreis.

Umso größer war die Überraschung, als Müller-Mertens bei einer Berliner Tagung im Frühjahr 1993 verkündete, dass er sich schon seit Jahrzehnten innerlich von der SED gelöst habe und bei seinen Forschungen in derselben Zeit vor allem durch die Sorge um Deutschland motiviert worden sei. Langjährige ostdeutsche Weggefährten empfanden dies als Verrat an der gemeinsamen Sache und Vergangenheit und brachen geradezu in Tränen aus, Westdeutsche gingen meist betreten über die Wendung hinweg. Mit seinem nun vorgelegten "Report zur Weltanschauung und geistig-politischen Einstellung" wollte er sich und anderen Rechenschaft ablegen.

Dies ist dem Autor eindrucksvoll gelungen. Müller-Mertens konnte sich auf äußerst umfangreiche private Aufzeichnungen stützen - Tagebücher, Briefwechsel, Protokolle, vor allem aber auf Traktate, in denen er die Wandlungen seiner Selbst- und Weltwahrnehmungen ebenso festhielt wie seine Auseinandersetzungen mit dem politischen Zeitgeschehen. In manchen Jahren fertigte er gleich mehrere solcher Schriften an, die fast immer "aufs Ganze" gehen. 1946 waren dies "Gedanken über und zur Bildung einer Treudeutschen Partei und Bewegung" und "Zur Demokratisierung des deutschen Volkes"; im folgenden Jahr "Phaseologie meiner Weltanschauung und Politik"; 1948 "Probleme zur Behandlung der Geschichte", "Das Mysterium des Alleins"; "Mythos von den Mysterien meines Ich". 1973 schrieb er "Des Menschen Art und das Wesen des Lebens. Essai zur Verständigung über den Menschen".

Der Autor wertet diese Materialien mit der Akribie des textkritisch geschulten Mediävisten aus und geht nicht selten mit sich schonungslos ins Gericht; seine Argumentation ist von bestechender Aufrichtigkeit und in sich schlüssig, was blinde Flecken in seiner Selbstwahrnehmung natürlich nicht ausschließt. Zugleich kündigt er an, seine Dokumente als Depositum der Berliner Akademie zu überlassen, so dass seine Selbstdarstellung künftiger Überprüfung durch Dritte offensteht.

Nach dem Stand der Dinge kann man kaum mehr daran zweifeln, dass Müller-Mertens die deutsche Teilung seit 1949 als tiefes Unrecht empfand, dem Westen Verrat an dem Ziel der nationalen Einheit vorwarf und sich über dessen - angebliche - Identifizierung der Menschen in der DDR mit dem System der SED empörte. Der 8. Mai 1945 war für ihn kein Tag der Befreiung, ihm fehlte im historischen Gedenken der Bundesrepublik auch die Würdigung des antifaschistischen Widerstandes. Obwohl er den Deutschen eine Kollektivschuld am Zweiten Weltkrieg zuschrieb, blendete er die Judenvernichtung vollkommen aus seiner sonst stark moralisierenden Geschichtsbetrachtung aus.

Seit Aufnahme seines Studiums an der Humboldt-Universität verstand er sich als Marxist, doch entfernte er sich schon bald von der Doktrin des Marxismus-Leninismus, um auf der Grundlage eines eigenen Studiums der "Klassiker" in Denken und Handeln einem "freien Marxismus" zu folgen. Die Ereignisse in Polen und Ungarn von 1956, besonders aber die fehlende Bereitschaft der Parteiführung unter Ulbricht, den Stalinismus und Personenkult zu überwinden, führten zum inneren Bruch mit der Funktionärsherrschaft, Müller-Mertens konnte aber nach zweimaliger "Selbstkritik" wegen oppositioneller Äußerungen in der Partei bleiben.

Weshalb er sich äußerlich anpasste und wie er sein damaliges Verhalten bewertete, ergibt eine Notiz von 1985: "Mangel an Mut und an Selbstvertrauen; Angst, den Rückhalt oder den Boden unter den Füßen zu verlieren; starre Beharrungskraft oder Trägheit; mangelnde Entschlusskraft. Ich konnte mich nicht mehr mit der SED identifizieren. Ich wurde ein Mann zwischen den Fronten. Seitdem habe ich mit einer Maske gelebt oder richtiger gesagt: Ich bin meinen eigenen Weg gegangen. Ich habe nach meinem Gewissen gehandelt, habe das aber so eingekleidet, dass es nicht zum Konflikt mit der Partei kam."

In der DDR sei er geblieben, weil er seinen Beruf als Hochschullehrer liebte und im Westen, dem er politisches Versagen und Unaufrichtigkeit vorwarf, auch nicht leben zu können glaubte. Den Zwiespalt ertragen konnte er deshalb, weil er - vor allem bedingt durch seine Tätigkeit für die Hanseforschung und die MGH - ständig in den Westen reiste und sich so eine freie Existenz imaginierte. Dazu kamen bizarre Bewältigungsstrategien. Nachdem er die rechte Hand verletzt und sich das Schreiben mit der linken angewöhnt hatte, behielt er auch nach der Genesung diese Praxis bei, allerdings nur dann, wenn er in Parteiversammlungen oder Gremien von Universität und Akademie Aufzeichnungen machte. Von 1973 bis zum Ende seiner Berufstätigkeit war die Rechte fürs Private, die Linke für das innerlich Abgelehnte bestimmt: "Das Schreiben mit der linken Hand machte Mühe und war beschwerlich. Es bedurfte immer einer gewissen Anstrengung und Aufmerksamkeit. Mit ihr insistierte ich Tag für Tag, Jahr für Jahr auf die Distanz, den Protest, die Dissidenz." Man muss kein Psychologe sein, um die merkwürdige Angewohnheit auch als eine Form der Selbstbestrafung zu bewerten.

Gern zog sich Müller-Mertens auf seinen Landsitz in Rahnsdorf zurück. Insbesondere bei nächtlichen Spaziergängen trat er dort in seine "Eigentlichkeit" ein. Abgesehen von wissenschaftlichen Arbeiten, entstanden an der Spree detaillierte Aufzeichnungen über das Phantasieland "Schmuggau": "Ich dachte mir die Politik und Geschichte dieser Welt aus. In den siebziger und achtziger Jahren bildete ich Schmuggau als parlamentarische Demokratie und Verfassungsstaat ab. Ich erfand und erzählte die Geschichte eines konstitutionell und parlamentarisch, durch Parteien, Wahlen, Mehrheitsbildungen und Verfassungsfragen bestimmten, aber irrealen und phantastischen Staatsgebildes." Indessen ging die Erfindung der "Schmuggauwelt" schon in die früheste Kindheit zurück; 1933 habe er damit begonnen, Aufzeichnungen aus den vierziger Jahren zeigten ein Idealbild der Sowjetunion, deren Ziele und Werte ihm sein Vater vermittelt hatte. Andererseits schaffte Müller-Mertens sein Phantasieland erst Anfang 1998 ab.

Das Leben in zwei Welten war also von Anfang an angelegt, der Dissens mit der SED bei gleichzeitiger Tätigkeit und Karriere im Staatsdienst der DDR nicht Ursache einer "Existenz zwischen den Fronten", sondern Folge einer ebenso phantasiebegabten wie narzisstischen Persönlichkeit. Als Müller-Mertens sich um 1960 innerlich von der SED lossagte, trat er gerade in die Professur ein, die er bis 1988 innehatte. Mit seinem Gewissen konnte er dies vereinbaren, und wer wollte deshalb über ihn urteilen? Dass er allerdings keinen Gedanken darauf verschwendet hat, was der Nachweis einer dreißigjährigen Lüge noch heute für seine Schüler und Kollegen bedeuten muss, ist erschütternd.

MICHAEL BORGOLTE

Eckhard Müller-Mertens: "Existenz zwischen den Fronten". Analytische Memoiren oder Report zur Weltanschauung und geistig-politischen Einstellung.

Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2011. 560 S., geb., 49,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eckhard Müller-Mertens war Mediävist an der Berliner Humboldt-Uni. Sein Rezensent Michael Borgolte lehrt heute an gleicher Stelle. Der Untertitel von Müller-Mertens' Autobiografie liest sich reichlich bizarr: "Analytische Memoiren oder Report zur Weltanschauung und geistig politischen Einstellung." Aber lange Zeit scheint Borgoltes Kritik Müller-Mertens Selbstbewältigungsstrategien eins zu eins aufzusitzen. So so, Müller-Mertens war also einer der höchsten Honoratioren der Geschichtswissenschaft in  DDR, die ihn bis zuletzt mit Ehren überhäufte, er durfte frei in den Westen reisen, der ihn ebenfalls in höchsten Ehren hielt. Und außerdem war er Dissident, wenn auch "innerlich". Heimlich und privat scheint über er  Jahrzehnte Schrift auf Schrift gehäuft zu haben, in der er mit dem Regime haderte. Nur leider ließ er es nie verlauten - bis jetzt. Am Ende nähert sich Borgolte doch noch einer Diagnose: Müller-Mertens sei eine "narzisstische Persönlichkeit". Und kommt zum Schluss: "Was der Nachweis einer dreißigjährigen Lüge noch heute für Schüler und Kollegen bedeuten muss, ist erschütternd."

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