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Produktdetails
  • Neue isländische Literatur
  • Verlag: Steidl
  • Originaltitel: Tröllakirkja
  • Seitenzahl: 376
  • Deutsch
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 582g
  • ISBN-13: 9783865210487
  • ISBN-10: 3865210481
  • Artikelnr.: 12785728
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.2005

Es galoppiert der Größenwahn
Sagenstoff: Ólafur Gunnarsson hadert mit der Willkür des Schicksals

Eigentlich hat der isländische Architekt Sigurbjörn Helgason einmal vorgehabt, Kirchen zu bauen. Damals, als er als junger Mann Ende der zwanziger Jahre quer durch Europa gereist ist und beeindruckt war vom Petersdom in Rom, von Gaudís Sagrada Familia in Barcelona. Nun aber, im Sommer 1953 und ein Vierteljahrhundert später, schwärmt die Hauptfigur in Ólafur Gunnarssons Roman für Tempel ganz anderer Art: Sigurbjörn möchte nichts Geringeres als das erste Kaufhaus in seiner Heimatstadt Reykjavík errichten, inklusive fünf Geschäftsetagen und einer elektrischen Rolltreppe. Der Visionär, der erst über ein abgebrochenes Theologiestudium zur Architektur fand, hat gewissermaßen die Religion gewechselt: vom gläubigen Protestanten zum Propheten eines technischen Fortschritts, der seinen eher konservativ gesinnten Mitbürgern allerdings zumeist noch suspekt ist.

Zunächst zeigt kein Investor Interesse an Sigurbjörns Kaufhaus-Projekt. Selbst sein Schwiegervater Geir, eigentlich ein gewiefter Geschäftsmann, weigert sich lange, dem Schwiegersohn jenes ersehnte Grundstück zu überlassen, auf dem das geplante Kaufhaus stehen soll. Der kleinstädtische Charakter Reykjavíks, wo in den fünfziger Jahren noch "alle irgendwie miteinander verwandt" sind, entspricht der Engstirnigkeit seiner Bewohner. Viele denken damals in der isländischen Hauptstadt noch in vormodernen Kategorien wie eben der alte Geir, den Gunnarsson geradezu als Personifikation eines restriktiven Traditionsdenkens entwirft. Nicht genug, daß dieser eingefleischte Patriarch einst seine Tochter Sunneva samt ihrem unehelichen, ersten Sohn verstoßen hat. Geir fährt mit seinem Auto auch "niemals schneller als 35 Stundenkilometer" und ist überzeugt davon, daß mit den Neuerungen auch verruchte Sitten auf Island einziehen werden: "Diese Weiber!" flucht Geir, als seine Tochter einmal mehr versucht, ihn zum Verkauf des Grundstücks zu bewegen. "In der alten Zeit, da führten die Männer noch mit fester Hand."

Seinen Gegenpart im Buch übernimmt sein Enkel Thórarinn, der jüngste Sohn Sigurbjörns, genannt "Tóti". Der Elfjährige liebt nicht nur Coca-Cola und Jeans, er ist auch der erste, der für die Kaufhausidee seines Vaters glühend Reklame macht. Auf gemeinsamen Spaziergängen genießt es der Junge, über Reykjavíks Zukunft zu schwadronieren. Bis zur Hälfte liest sich Gunnarssons Roman wie eine isländische Variante der bekannten Erfolgsgeschichten des american dream, verfolgt Sigurbjörn doch bis hierhin sein Ziel mit ebenjener querköpfigen Hartnäckigkeit, die man von Tellerwäschern kennt, die es zu Millionären bringen: Als Angestellter des staatlichen Bauamts hat er es nicht lange ausgehalten, trotz Schulden tritt der Mittvierziger stets schick "gekleidet wie ein englischer Lord" auf, und natürlich ist auch Gunnarssons homo novus "genial darin, seinen Willen durchzusetzen und es hinterher so ausschauen zu lassen, als hätte er anderen damit einen Gefallen getan". Unermüdlich treibt Sigurbjörn Geldgeber auf; er überredet seinen Freund Gudbrandur, einen gelernten Zimmermann, zur Zusammenarbeit und findet schließlich den rettenden Millionengönner für sein Kaufhaus. Alles scheint sich nach seinen Wünschen zu formen - bis eine Katastrophe eintritt, die in der Mitte des Buches aus der Chronik eines Aufstiegs schlagartig die Tragödie eines Scheiterns macht, deren Fallhöhe beträchtlich ist: Tóti wird im Rohbau des Einkaufszentrums vergewaltigt.

Wie viele isländische Schriftsteller bezieht sich auch Gunnarsson auf die Erzähltradition der Sagas. Demgemäß werden die sachlich referierenden Abschnitte immer wieder durch lange Dialogpassagen unterbrochen und kommen im Roman Naturbeschreibungen und Traumbilder vor, die vorausdeutenden Zeichencharakter tragen. So wirft etwa von Anfang an ein Vogelbeerbaum seinen bedeutungsschweren Schatten auf das Haus der Helgasons, der mit dem Verbrechen schließlich auch das Leben des Karrieristen verdunkelt. Der Architekt ist zutiefst bestürzt, die Kindesschändung hält er für schlimmer noch als Mord. Sofort denkt Sigurbjörn an Rache und schwört: "Niemand, der meinem Kind so etwas antut, hat das Recht zu leben."

Genau das, was zuvor seine Stärke ausgemacht hat, kehrt sich nun prompt in Schwäche um: Sein Eifer wird zur Verbissenheit, seine Risikofreude zur Selbstüberschätzung, seine Vision zur fixen Idee. Der vorher so rationale Architekt beginnt zu trinken, vergrault Familie und Freunde, wird aus der Kaufhaus-Geschäftsleitung ausgeschlossen - und fühlt sich schon bald gestraft wie Hiob. Dabei erinnert er einen tatsächlich eher an Kleists fanatischen Pferdehändler Michael Kohlhaas. Wie bei jenem besteht nämlich auch Sigurbjörns wahre Tragödie weniger im faktischen Unglück als in der Unfähigkeit, sich mit dessen Willkür abzufinden. Wie Kohlhaas stellt auch er schnell ein eigenes Rechtsempfinden über die herrschenden Gesetze. Doch anders als Kleists Held legt sich Gunnarssons Protagonist dabei gleich mit dem Schöpfer persönlich an.

Als der Vergewaltiger seines Sohnes vorzeitig aus der Haft entlassen wird, kennt die Entrüstung Sigurbjörns kein Halten mehr: "Jetzt erkläre ich dir den Krieg", droht er, die Fäuste gen Himmel gereckt: "Wird dir langsam bewußt, Gott, mit wem du dich eingelassen hast?!" So erzählt der Roman vom alten, mythologisch verbürgten Frevel des menschlichen Größenwahns - modern verpackt, aber mit bewährter Moral. Das individuelle Schicksal Sigurbjörns dient Gunnarsson hier also nur als Aufhänger für eine grundsätzliche Fragestellung. Und auch wenn sich der Erzähler strikt mit Wertungen zurückhält und betont nüchtern, fast spröde vom Niedergang der Familie Helgason berichtet, an seiner Grundierung in christlicher Demut läßt der Roman doch keinen Zweifel. Dafür bürgt der Originaltitel, der "Tröllakirkja" ("Trollkirche") lautet. Der Dämon, der Sigurbjörn reitet, heißt eindeutig Hybris. Oder, wie der ältere Sohn Helgi es einmal lapidar ausdrückt: "Papa wollte sich nie damit abfinden, ein Durchschnittsmensch zu sein."

Daß der väterliche, im Namen einer "Herzensvernunft" geführte Rachefeldzug letztlich fatal enden muß, ahnt man als Leser da früh. Dennoch liest sich Gunnarssons Roman (der soeben fürs Kino verfilmt wurde) spannend, weil er nicht nur ein interessantes Porträt der isländischen Nachkriegsgesellschaft im Umbruch abgibt. Es ist auch der Humor, der in den vielen Gesprächen immer wieder anklingt, der Sigurbjörns Wahn stellenweise regelrecht amüsant erscheinen läßt. Wenn Helgi seine streitenden Eltern etwa als "Schlachtkooperative" bezeichnet oder sich der verbitterte Architekt im Kino ausgerechnet mit Gary Cooper, dem gesetzestreuen Sheriff in "High Noon", identifiziert, kann man sich ein Schmunzeln - aller Schrecknis der Ereignisse zum Trotz - nicht verkneifen.

GISA FUNCK

Ólafur Gunnarsson: "Niemand wie ich". Roman. Aus dem Isländischen übersetzt von Maria-Claudia Tomany. Steidl Verlag, Göttingen 2004. 384 S., geb., 19,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Angetan zeigt sich Gisa Funk von Olafur Gunnarssons Roman "Niemand wie ich", der vom alten, mythologisch verbürgten Frevel des menschlichen Größenwahns erzähle - "modern verpackt, aber mit bewährter Moral". Just als alles bestens für den Architekten Sigurbjörn Helgason, der das erste Einkaufszentrum Reykjaviks baut, zu laufen scheint, wird sein Sohn im Rohbau vergewaltigt. Von da an geht es mit dem erfolgreichen Architekten bergab, berichtet Funk, seine Stärken kehren in Schwäche um: "Sein Eifer wird zur Verbissenheit, seine Risikofreude zur Selbstüberschätzung, seine Vision zur fixen Idee." Der vorher so rationale Architekt beginne zu trinken, vergraule Familie und Freunde, werde aus der Kaufhaus-Geschäftsleitung ausgeschlossen. Hier fühlt sich Funk an Kleists fanatischen Pferdehändler Michael Kohlhaas erinnert, der wie der von Rache und Hybris besessene Sigurbjörn sein ein eigenes Rechtsempfinden über die herrschenden Gesetze stellt, nur dass sich Sigurbjörn auch noch Gott persönlich den Krieg erklärt. Obwohl das fatale Ende vorhersehbar ist, findet Funk den Roman, der sich mit Wertung strikt zurückhalte und sich betont nüchtern gebe, spannend zu lesen. Nicht nur, weil er ein "interessantes Porträt der isländischen Nachkriegsgesellschaft im Umbruch" abgebe, sondern auch wegen Gunnarssons Humor, der in den vielen Gesprächen immer wieder anklinge und Sigurbjörns Wahn stellenweise regelrecht amüsant erscheinen lasse.

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