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Das "Unternehmen Barbarossa", der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, gilt in der Geschichtsschreibung als die letzte Phase von Hitlers Stufenplan zur Eroberung von "Lebensraum im Osten". Der renommierte Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller bestreitet in seinem neuesten Buch diese Sichtweise. Auf Grundlage von bislang weithin unbeachteten Quellen kann er zeigen, dass Hitler sich seit seinem Machtantritt 1933 immer wieder mit der Möglichkeit eines baldigen Interventionskriegs gegen die UdSSR beschäftigt hat. Dafür setzten er und die Wehrmacht zunächst auf Verhandlungen mit Polen und…mehr

Produktbeschreibung
Das "Unternehmen Barbarossa", der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, gilt in der Geschichtsschreibung als die letzte Phase von Hitlers Stufenplan zur Eroberung von "Lebensraum im Osten". Der renommierte Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller bestreitet in seinem neuesten Buch diese Sichtweise. Auf Grundlage von bislang weithin unbeachteten Quellen kann er zeigen, dass Hitler sich seit seinem Machtantritt 1933 immer wieder mit der Möglichkeit eines baldigen Interventionskriegs gegen die UdSSR beschäftigt hat. Dafür setzten er und die Wehrmacht zunächst auf Verhandlungen mit Polen und zogen auch früh eine Allianz mit Japan in Erwägung. Noch im September 1939, nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, war ein unmittelbarer militärischer Zusammenprall mit der Roten Armee möglich. Die Wehrmacht scheute ihn nicht. Der Blick auf die Vorgeschichte zeigt: Es gab weder einen festgelegten Stufenplan für die Ostexpansion, noch war das "Unternehmen Barbarossa" ein Präventivkrieg, wie manche Publizisten meinen.
Autorenporträt
Müller, Rolf-Dieter
Jahrgang 1948, Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Pädagogik in Braunschweig und Mainz, 1981 Promotion, 1999 Habilitation, 1979-2014 Wiss. Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, zuletzt Leitender Wiss. Direktor, Leiter des Großprojekts 'Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg' (mit 13 Bänden abgeschlossen 2008), Honorarprofessur für Militärgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges, Mithrsg. 'Die Zerstörung Dresdens 13. bis 15. Februar 1945' (2010); 'Hitlers Wehrmacht 1935-1945' (2012).; wiss. Beratung von Rundfunk- und Fernsehdokumentationen, u.a. 'Soldaten für Hitler' und 'Heimatfront'.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.2011

Moralisch und professionell versagt
Die Verantwortung der deutschen Militärelite für die Planung des Russlandfeldzugs in den Jahren 1939 bis 1941

Nach dem Untergang des "Dritten Reichs" nahmen die einstigen Funktionseliten des "größten Feldherrn aller Zeiten" es vor Gericht und in den Memoiren mit der Wahrheit meist nicht allzu genau. Für traditionelle und nationalsozialistische Spitzenleute kam es zunächst darauf an, den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Sodann sollten ihre von Verbrechen gesäuberten und von Fehlleistungen gereinigten historischen Schönfärbereien neue Karrieren ab 1949 ermöglichen oder wenigstens alten Glanz auf dem Wirken von vor 1945 belassen. Solche Weißwäschereien der braunen Vergangenheit sind Rolf-Dieter Müller oft begegnet. Der 62 Jahre alte Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) gilt als einer der besten Kenner des Zweiten Weltkriegs. Nun wagt er einen frischen Blick auf den Beginn des "Unternehmens Barbarossa". Er stellt die These, "dass Hitler allein für den Angriff gegen die UdSSR verantwortlich war und sich dabei von seinen ideologischen Obsessionen leiten ließ, deren Ursprung in seiner frühen politischen Programmschrift ,Mein Kampf' zu finden ist", in Frage.

Prominente Historiker wie Klaus Hildebrand (Jahrgang 1941), Andreas Hillgruber (1925-1989) und Hans-Adolf Jacobsen (Jahrgang 1925) gehen davon aus, dass Hitler sich nach dem Machtantritt 1933 zielstrebig und konsequent dem "eigentlichen Ziel, dem Lebensraum im Osten", in einem Stufenplan der Welteroberung genähert habe. Diesem Ansatz folgte der vierte Band des MGFA-Werks "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" von 1983. Kaum Beachtung fand damals "eine wichtige Entdeckung" des Historikers Ernst Klink, wonach "die ersten militärischen Überlegungen und Vorbereitungen zu einem Krieg gegen die UdSSR im Juni 1940 vom Oberkommando des Heeres angestellt worden sind, ohne jegliche Vorgaben von Hitler".

Dass "Barbarossa" ein Meisterstück des deutschen Generalstabs mit nur wenigen falschen Grundannahmen gewesen sei, bezweifelt der renommierte Autor ebenso nachdrücklich wie die Terminangabe vom "Sommer 1940" für den Auftakt einer Spontan-Planung, beflügelt vom Rausch des unerwartet schnellen Sieges über Frankreich. Müllers Darstellung setzt früher ein: mit der Wiedergeburt Polens im Ersten Weltkrieg, das während der Weimarer Republik aus Sicht der deutschen Eliten neben Frankreich als Hauptfeind galt. Jedoch kam ein "sensationeller Umschwung" durch den nationalsozialistischen Reichskanzler: "Im Ergebnis, so lässt sich überspitzt formulieren, ist der Hitler-Pilsudski-Pakt von 1934 in seinen Auswirkungen nicht wesentlich geringer gewesen als der Hitler-Stalin-Pakt von 1939!" Müller stellt in diesem Zusammenhang die Bewunderung deutscher Militärs für den Marschall, der 1935 starb, und eine gewisse Wertschätzung der polnischen Kampfkraft heraus.

Ein begrenzter Interventionskrieg mit militärischer Unterstützung Polens gegen die Sowjetunion sei in Planspielen der Wehrmacht durchdekliniert worden. "Es scheint offensichtlich", schreibt Müller, dass die Möglichkeit eines Krieges gegen Stalin "im Frühjahr 1939 von Hitler ins Kalkül gezogen wurde und dass für ihn eine Militärallianz mit Polen, ob nun offensiv oder defensiv, von größter Bedeutung war, um seinen Expansionskurs fortsetzen zu können". Doch Warschau lehnte bekanntlich nach dem deutschen Einmarsch in Prag und im Memelland eine "antirussische Partnerschaft" ab. Zudem verkündete Großbritannien eine Garantie für Polens Unabhängigkeit.

Trotz dieser Entwicklung, die Hitler öffentlich zur Aufkündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffspakts und intern zur Weisung für den Fall "Weiß" (gegen Polen) veranlasste, hätten deutsche Militärs einen sofortigen Zusammenstoß mit der Sowjetunion weiterhin nicht ausgeschlossen. Wenigstens ist der "Albrecht-Plan" der Kriegsmarine zur Ostseekriegführung überliefert, der "zumindest in Ausschnitten konkrete Hinweise" gebe, während die Unterlagen der Heeresführung nur in Bruchstücken erhalten seien. In jener Phase - so muss der Autor einschränken - habe ein "Barbarossa 1939" jedenfalls "noch keine klaren Konturen" gehabt. Mit dem Kriegsspiel vom 17. Mai stellte sich Generalstabschef Franz Halder darauf ein, dass ein "bevorstehender Angriff gegen Polen auch zum Zusammenprall mit der Roten Armee führen würde". Um seine Mitverantwortung an der Vorbereitung des Angriffs auf Polen im September 1939 zu verheimlichen, versuchte er nach 1945, sich "mit seinem ehemaligen Adjutanten abzusprechen, wie die amerikanische Seite aufzeichnete. Kein Wunder, dass fast alle Unterlagen über das Kriegsspiel verschwanden."

Im Juni 1940 - nach der Niederlage Frankreichs und trotz des Hitler-Stalin-Pakts - habe Halder sogleich die "Grenzsicherung Ost offensiv lösen" wollen. Sogar der Idee des SS-Reichsführers Himmler, "direkt hinter der deutsch-sowjetischen Grenze einen Panzergraben als militärisches Bollwerk zu errichten und dafür 2,5 Millionen jüdische Zwangsarbeiter einzusetzen", stimmte das OKH zu: "Es war der Beginn eines Prozesses, der ein Jahr später mit dem Überfall auf die UdSSR die Wehrmacht zum Komplicen des Holocaust machte." Anfang 1941 waren erst dreizehn Kilometer der Befestigung fertig: "militärisch sinnlos, da nicht besetzt und dilettantisch angelegt. Aus der Idee Hitlers, die polnischen Juden in die Pripjetsümpfe zu jagen, ins Vorfeld eines ,Ostwalls', hatte Himmler das Projekt eines ,Judenwalls' gemacht, aus dem später die Vernichtungslager erwuchsen."

Im Juni 1940 war Major im Generalstab Reinhard Gehlen der Adjutant Halders. Gehlen stieg Anfang Oktober 1940 zum Gruppenleiter in der Operationsabteilung und 1942 zum legendären Leiter der Abteilung "Fremde Heere Ost" auf. In seinen Memoiren von 1971 habe er "seine Tätigkeit als Gehilfe Halders im Juni/Juli 1940 und als einer der maßgeblichen Planer des ,Unternehmens Barbarossa' geflissentlich" übergangen. Müller muss es wissen und wird darüber hoffentlich Konkreteres herausfinden, denn er ist seit wenigen Monaten Mitglied der "Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes, seiner Vorläuferorganisationen sowie seines Personal- und Wirkungsprofils von 1945 bis 1968 und des Umgangs mit dieser Vergangenheit".

In dem Buch "Hitler als Feldherr" habe Halder 1949 die eigenen Russland-Analysen "überspielt" und stattdessen auf "den drohenden Angriff Stalins" verwiesen, der letztlich für Hitlers Entschluss erst im April 1941 entscheidend gewesen sei; Warnungen der Berater habe der "Führer" missachtet. Laut Müller sollen auch andere Generalstäbler nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur die eigene Rolle minimalisiert, Absprachen untereinander getroffen und manche Historiker - darunter eine Koryphäe wie Andreas Hillgruber - geblendet haben: "Das Verwirrspiel um Verantwortlichkeiten und Daten hat offenbar Methode."

Der Autor geht davon aus, dass Halder von Ende Juni 1940 an "ohne jegliches Einwirken Hitlers" den militärischen Planungen einen eindeutig offensiven Charakter verliehen habe. Hier konnte das OKH auf Blaupausen "eines möglichen Ostkrieges im Jahre 1939" zurückgreifen. Daher widerspricht Müller dem "historiographischen Dogma", dass Hitler am 31. Juli 1940 einigen ranghohen Generalen seinen Entschluss zum Überfall auf die Sowjetunion mitgeteilt und erste operative sowie politische Weisungen gegeben habe. Müller interpretiert die Zusammenkunft vor allem als Reaktion Hitlers auf Überlegungen der Heeresführung. Dieser musste also der Ostkrieg nicht "als gleichsam ungeliebtes, unverstandenes Projekt vom ,Führer' aufgetragen" werden.

Die maßgeblich von Halder verbreitete Legende verdecke überdies die Eigeninitiative der militärischen Führung, "die dem ,Führer entgegengearbeitet' hat für den größten und blutigsten Krieg der Weltgeschichte. Ihr Antrieb lag nicht in der NS-Lebensraumideologie, sondern - bei aller Affinität zum Nationalsozialismus - in schlichter militärischer Routine." Es sei sogar Hitler noch nicht primär um die Beseitigung des Bolschewismus, sondern um eine machtpolitische Auseinandersetzung, um Raum und Ressourcen gegangen: "Den Ostkrieg hätte er auch dann geführt, wenn Russland von einem Zaren regiert worden wäre", will der MGFA-Historiker wissen. Hitler habe im Juli 1940 "die Folie eines älteren Kriegsplans" aufgegriffen und dann im März 1941 "zum rassenideologischen Vernichtungskrieg" verändert.

Quellenmäßig bewegt sich der Autor auf dünnem Eis. Wichtig ist - wenn auch für Halders Person nicht ganz so überraschend und neu - aber das Resümee, dass der Generaloberst seine Mitverantwortung für die Wendung nach Osten "im Anblick der Katastrophe gezielt verschleiert hat. Franz Halder als Berater der US-Armee, sein ehemaliger Adjutant und ,Barbarossa'-Planer Reinhard Gehlen nun als Chef des Bundesnachrichtendienstes und der ehemalige Chef von Halders Operationsabteilung Adolf Heusinger als erster Generalinspekteur der Bundeswehr haben gute Gründe dafür gehabt, Hitler als Alleinschuldigen für den Ostkrieg und das Scheitern eines vermeintlich genialen Feldzugplans hinzustellen." Das "Unternehmen Barbarossa" zeuge "nicht nur vom moralischen, sondern auch vom professionellen Versagen einer vergangenen Militärelite". Dem wird niemand ernsthaft widersprechen.

RAINER BLASIUS

Rolf-Dieter Müller: Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939. Ch. Links Verlag, Berlin 2011. 294 S., 29,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.08.2011

Der Mythos „Barbarossa“
Hitler-Deutschlands Überfall auf die Sowjetunion ist siebzig Jahre her – die Fehden der Geschichtsforscher halten an
Verloschen, verblichen, mit Großvätern und Vätern begraben sind persönliche Erinnerungen an den
22. Juni 1941: an das Artilleriefeuer über Bug und Memel an diesem Sonntagmorgen; an den bei Eydtkau am östlichen Ende der Reichsstraße 1 beiseitegeholzten Grenzschlagbaum, kurz nach drei Uhr, pünktlich aufs Codewort „Dortmund“ aus Hitlers Berlin; an deutsche Bombenteppiche auf Kiew, Riga, Sewastopol.
In Merkels Berlin und darum herum ist der „Plan Barbarossa“, der Überfall auf die Sowjetunion 1941, keine stark nachgefragte Vergangenheit. Auch in Russland, das damals drei Jahre und zehn Monate lang gegen Fremdbestimmung, Liquidierung und Versklavung ankämpfte, sind die Enkel nur noch schwer zum Gedenken zu bewegen. Veteranen, die noch vor zehn Jahren leicht als Zeitzeugen mobilisiert werden konnten, zählten am Rande der diesjährigen Jubiläumsparade zum Siegestag im Großen Vaterländischen Krieg gerade noch nach Hunderten.
In dieser ost-westlichen Gemengelage allmählichen Vergessens ist es verdienstvoll, dass zwei Veteranentitel der zeitgeschichtlichen Forschung über Hitlers Russlandfeldzug wieder publiziert wurden. Das Lob gilt dem Fischer-Verlag, der sowohl den Sammelband der Militärhistoriker Gerd R. Ueberschär und Wolfram Wette „Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion“ als auch eine von der Konstanzer Historikerin Bianka Pietrow-Ennker herausgegebene Aufsatzsammlung neu aufgelegt hat. Beide Bücher vereinen ein großes Spektrum zeitgeschichtlichen Sachverstandes mit enormer Datenfülle.
Zwar sind seither gewiss Schlachtenverläufe plausibler ausgedeutet worden, vor allem durch die 2008 abgeschlossene Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam. Gleichwohl ist bei neuerlicher Lektüre bemerkenswert, wie frisch fast alle Beiträge der älteren Bücher sich immer noch ausnehmen, wie unbeschadet Forschungs- und Denkansätze ihrer Autoren sämtliche Beben und Nachbeben von Historikerstreit, Wehrmachtsausstellung und Präventivkriegdebatte überstanden haben.
Der Band von Ueberschär und Wette geht den ideologischen und propagandistischen Legitimationsversuchen des Ostkrieges nach: den nazistischen Pseudobegründungen von der „Lebensraum“-Suche bis zur militärischen Prävention gegen ein angebliches „jüdisch-bolschewistisch-plutokratisches Komplott“. Besonders eindrucksvoll ist Christian Streits pointierte Zusammenfassung seines Ende der siebziger Jahre erschienenen, damals aufsehenerregenden Buches über den erbärmlichen Hungertod Hunderttausender sowjetischer Kriegsgefangener – hart am kalkulierten Massenmord durch die Wehrmacht.
Die von Bianka Pietrow-Ennker edierte Streitschrift richtet sich gegen „das Märchen vom ‚Präventivkrieg‘“, das sie schon vor elf Jahren als „endgültig widerlegt“ beschrieb. Besonders der Bochumer Historiker Bernd Bonwetsch machte sich die Mühe sorgfältiger Quellenprüfung: Er fand nicht einen überzeugenden Beleg für einen von Stalin terminierten Angriff auf das Deutsche Reich. Doch vermochte das bis heute wenig an Bonwetschs Diagnose zu ändern, dass am rechten Rand der Historikerzunft und mehr noch in Kreisen nationaler Hobby-Geschichtsdeuter nach wie vor „Spekulationen, Vermutungen, Behauptungen und Tatsachen geradezu bedenkenlos vermischt“ werden, um die Überfallenen als wahre Angreifer zu decouvrieren – und damit wieder in den Endlosschleifen Goebbels’scher Schuldzuweisungen von 1941 anzukommen.
Dass dagegen Hitler lange vor Kriegsbeginn in Polen den idealen „antirussischen Schützengraben“ sah, hat nun der Berliner Historiker Rolf-Dieter Müller in seinem neuesten Buch „Der Feind steht im Osten“ überzeugend dargestellt. Solange Warschau eine gegen Russland gerichtete Komplizenschaft mit dem Reich nicht endgültig abgelehnt hatte, sei ein „Barbarossa (bereits) 1939“, so Müller, durchaus erwogen worden. Seiner Militärführung schärfte Hitler im Mai jenes Jahres ein: „Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten.“ Und, noch deutlicher, im Juli 1940: „Russisches Problem in Angriff nehmen. Gedankliche Vorbereitungen treffen.“
Warum jedoch hatte Stalin, den Umfragen im heutigen Russland noch immer in die Spitzengruppe historischen Führungspersonals wählen, gut 80 teils hochexakte Warnungen vor dem Angriff in den Wind geschlagen, warum war der Feind auf eine unvorbereitete Rote Armee getroffen? Warum hatte die Wehrmacht sie 1941 monatelang bis Moskau vor sich her treiben und dabei Hunderttausende töten und gefangennehmen können? Diese Fragen treiben russische Geschichtsforscher um.
Der Moskauer Militärhistoriker Ruslan Irinarchow stellt in gleich zwei neuen populärwissenschaftlichen Büchern (über den „Versäumten Schlag“ und die „Blutigen Straßen des Rückzugs“) ein detailliertes Ursachen-Cluster der Katastrophe vor: Viele Militärverbände waren nicht komplett; das Offizierskorps war beherrscht von der Furcht aus der Säuberungszeit 1937/38 und verharrte in Hab-Acht-Stellung vor der Moskauer Zentrale. Stalin selbst habe Zeit fürs eigene militärisch-politische Diktat gewinnen und deshalb dem deutschen Feindfreund ums Verrecken glauben wollen. Hinzu kamen die absurden, im Krieg verheerenden Ungereimtheiten einer auf Befehl und Gehorsam gestellten angeblichen „Diktatur des Proletariats“. Diese Fiktion sollte noch weitere 46 Jahre lang falsche Annahmen produzieren – bei den Oberen über die unten und umgekehrt.
Stalin hat kein eigenes Bild vom Zustand der Armee. Er vertraut seinen Berichterstattern und darauf, dass die mehr als fünf Millionen Mann unter Waffen jedem Angreifer standhalten könnten. Vor allem vertraut er darauf, dass sein bloßer Befehl im Handumdrehen die komplizierte Militärmaschinerie auf höchste Touren bringen werde. Ein schönes Beispiel für diesen grandiosen Selbstbetrug der Sowjetführung liefert das formelle Staatsoberhaupt Michail Kalinin noch 17 Tage vor Kriegsbeginn, als er angehende Offiziere belehrt: „Wir warten darauf (dass die Deutschen uns angreifen): je schneller, desto besser, weil wir ihnen dann ein für alle Mal den Hals umdrehen werden.“
Erst am frühen Morgen des 22. Juni 1941, keine drei Stunden vor dem Angriff, trifft bei den westlichen Wehrkreisen das Moskauer Telegramm mit dem Mobilmachungsbefehl ein. Bis dahin hatten vorgeschobene Einheiten den Grenzstreifen ohne besondere Genehmigung nicht einmal betreten dürfen. Dass angesichts solcher gravierender Fehler und Versäumnisse der stark demoralisierten Sowjetarmee vor Moskau die Wende gelingt, der deutsche Angriff steckenbleibt und, so Müller, „der Plan ,Barbarossa‘“ praktisch bereits „im August 1941 scheitert“, ist Futter für die postsowjetische Zeitgeschichtsforschung – freilich eher für die traditionelle, die es auf das Heldentum und Aufopferung im „Großen Vaterländischen Krieg“ abgesehen hat. Davon hat es gewiss reichlich gegeben. Aber auch auf diesem Feld harren, bis zum nächsten runden Datum, noch viele patriotische Mythen nüchterner Überprüfung.
JÖRG R. METTKE
GERD R. UEBERSCHÄR, WOLFRAM WETTE (Hrsg.): Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion „Unternehmen Barbarossa“ 1941. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011. 429 S., 13,40 Euro.
BIANKA PIETROW-ENNKER (Hrsg.): Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011. 252 S., 13,40 Euro.
ROLF-DIETER MÜLLER: Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939. Ch. Links Verlag, Berlin 2011. 296 S., 29,90 Euro.
RUSLAN IRINARCHOW: Agonia 1941. Krowawije dorogi otstuplenija. Jausa/Eksimo, Moskau 2011. 540 S., 187 Rubel.
RUSLAN IRINARCHOW: 1941. Propuschtschennyj udar. Jausa/Eksimo, Moskau 2011. 573 S., 205 Rubel.
Der Journalist Jörg R. Mettke arbeitet seit 1987 als Russland-Korrespondent, er lebt teils in Moskau, teils in Berlin.
Das Märchen vom deutschen
„Präventivkrieg“ ist widerlegt.
„Der Plan ,Barbarossa‘“ scheiterte
schon „im August 1941“.
Hier sehen wir die sowjetische Raumstation „Mir“, die viele Jahre lang und über den Systembruch 1991 hinweg um die Erde kreiste. 1997 gab es eine Katastrophe. Unser Künstler zeigt, wie die Kosmonauten – sie wurden damals weltweit für ihre „Entschlossenheit“ gepriesen – ohne Funkkontakt zur Erde die „Mir“ reparierten. Mit derselben Entschlossenheit ist die „Rote Armee“ dem Überfall der Deutschen 1941 begegnet: vom Kreml schlecht informiert, teils chaotisch, ohne Rücksicht auf Menschenleben – aber erfolgreich. (aug) Zeichnung: Haderer
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Studie Rolf-Dieter Müllers, eines langjährigen Mitarbeiters des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und, wie Rainer Blasius weiß, großen Kenners des Zweiten Weltkriegs, hält der Rezensent für einen "frischen Blick" auf das Unternehmen "Barbarossa". Dass sich der Autor nicht nur Freunde macht, wenn er die These infrage stellt, Hitler sei allein für den Feldzug gegen die Sowjets verantwortlich gewesen, ist Blasius auch klar. Dennoch oder gerade drum folgt er dem Autor bei seinen Nachforschungen bis zur Wiedergeburt Polens im Ersten Weltkrieg, in die von Hitlers Generalstäblern initiierten Verwirrspiele um Verantwortlichkeiten und Daten und stellt fest: Diese hatten Methode. Den Antrieb zur Invasion sieht Blasius nach der Lektüre mit dem Autor nicht so sehr in der NS-Ideologie, sondern in "militärischer Routine". Zwar bewegt sich der Autor "quellenmäßig" auf dünnem Eis, wie der Rezensent kritisch anmerkt, das von Müller resümierte moralische und professionelle Versagen der Militärs steht für den Rezensenten jedoch außer Frage.

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