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Nietzsche, Hofmannsthal und viele andere haben das Tagebuch von Henri-Frédéric Amiel gelesen, bewundert und diskutiert. Erst nach dem Tod des Genfer Philosophieprofessors sind Auszüge aus dem fast 17000 Seiten umfassenden und über 30 Jahre geführten Tagebuch publiziert worden. Es ist das Zeugnis einer bewegten Epoche und ihres Zeitgeistes. Und es ist eines der wichtigsten Werke der europäischen Literatur. Tolstoi war so begeistert, dass er eine Auswahl getroffen und sie auf russisch herausgebracht hat, übersetzt von seiner Tochter. Der renommierte Übersetzer und Herausgeber Felix Philipp…mehr

Produktbeschreibung
Nietzsche, Hofmannsthal und viele andere haben das Tagebuch von Henri-Frédéric Amiel gelesen, bewundert und diskutiert. Erst nach dem Tod des Genfer Philosophieprofessors sind Auszüge aus dem fast 17000 Seiten umfassenden und über 30 Jahre geführten Tagebuch publiziert worden. Es ist das Zeugnis einer bewegten Epoche und ihres Zeitgeistes. Und es ist eines der wichtigsten Werke der europäischen Literatur. Tolstoi war so begeistert, dass er eine Auswahl getroffen und sie auf russisch herausgebracht hat, übersetzt von seiner Tochter. Der renommierte Übersetzer und Herausgeber Felix Philipp Ingold macht die von Tolstoi getroffene Auswahl nun erstmals dem deutschsprachigen Publikum zugänglich.

Autorenporträt
Eleonore Frey, geboren 1939 in Frauenfeld, lebt in Zürich. Von ihr erschienen die Erzählungen Notstand (1989), Schnittstellen (1990), Gegenstimmen (1994), Das Siebentagebuch (1996) und der Roman Lipp geht (1998). Außerdem übersetzt sie aus dem Französischen und Englischen (z. B. Henri Michaux, Von Sprachen und Schriften, 1998).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2003

Ach, Wassergeist, verfliege nicht!
Die unerhörten Tagebücher von Henri-Frédéric Amiel, wie Leo Tolstoi sie las
Im Revolutionsjahr 1848 sitzt ein junger Mann aus Genf in Berlin und horcht auf die Stimmen aus seinem Inneren. Draußen diskutieren die Bürger über Republik und konstitutionelle Monarchie, über die Frankfurter Nationalversammlung, über das künftige Schicksal Preußens. Der junge Mann aus Genf, der den Geist der Hegelschen Philosophie in sich aufgenommen und in den Vorlesungen des alten Schelling gesessen hat, schreibt an seinem Tagebuch. Den Eintrag vom 16. Juli 1848 eröffnet er mit dem Satz: „Es gibt nur eines, das notwendig ist: Gott besitzen.”
Das klingt wie eine Gewissheit. Aber es gibt für diesen jungen Mann keine verlässlichen Gewissheiten, nur die Sehnsucht danach. Gern beschwört er die Ruhe, die es für den Geist nur im Absoluten, für das Gefühl nur im Unendlichen, für die Seele nur im Göttlichen gibt. Aber er ist für diese Ruhe nicht gemacht, und sie nicht für ihn. So wie auch die Hoffnung nicht für ihn gemacht ist: „Jede Hoffnung ist ein Ei, aus dem ebensogut eine Schlange wie eine Taube ausschlüpfen kann.”
Henri-Frédéric Amiel, geboren im Jahre 1821, Jahrgangsgefährte von Charles Baudelaire und Gustave Flaubert, gestorben nach einem ereignislosen Leben im Frühling 1881 in seiner Heimatstadt Genf, war früh mit dem Tod in Berührung gekommen. Seine Mutter starb an Tuberkulose, sein Vater beging Selbstmord. Schon als Jugendlicher verschlang er die 1833 von Sainte-Beuve herausgebrachte Neuauflage von Senancours „Oberman” (1804), einem Grundbuch des Lebens, das mit sich selber hadert, der rousseauistischen Klagen und Selbstanklagen.
Amiel hatte in seiner beruflichen Laufbahn Glück. Mit 28 Jahren übernahm er, aus Berlin zurückgekehrt, eine Dozentur für französische Literatur und Ästhetik an der Genfer Universität, 1854 wurde er Professor für Philosophie. Es war eine schnelle, aber glanzlose Karriere. Große rhetorische oder pädagogische Gaben scheint er nicht besessen zu haben. Seine wissenschaftlichen Arbeiten sind ebenso vergessen wie seine Gedichtsammlungen. Das Gleichmaß aus Vorlesungen und Prüfungen, in dem sein äußeres Leben verging, unterbrachen allenfalls gelegentliche Ausflüge in die Umgegend von Genf oder spärliche Reisen wie die nach Scheveningen im Sommer 1873, der erfolglose Versuch einer Badekur am Meer gegen das Asthma.
Zu einer der sonderbarsten Gestalten des neunzehnten Jahrhunderts wird Amiel allein durch sein postum veröffentlichtes Tagebuch. Seit 1839, da war er knapp achtzehn, machte er sporadische Aufzeichnungen, ab Ende 1847 bis wenige Tage vor seinem Tod schrieb er, oft in den Morgenstunden, täglich mehrere Seiten. Am Ende hatte er 16 840 Seiten in 174 Heften gefüllt. Erste Auszüge erschienen 1882, eine zweibändige Auswahl folgte 1883/84 und erlebte zahlreiche Auflagen. Das gesamte Textcorpus wurde erst zwischen 1976 und 1994 veröffentlicht und ist bisher nicht aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt.
Wie ein riesiger Fuchsbau erstreckt sich dieses Tagebuch unter dem ereignislosen Leben des Genfer Professors. Die Götter des neunzehnten Jahrhunderts – der Fortschritt, die Evolutionslehre, die exakten Wissenschaften – spuken darin als Dämonen. Ein Ich, das seine Prägung durch das calvinistisch-protestantische Genf nicht verleugnen kann, pocht darin unablässig auf die Pflicht und die höchsten Ideale der Moral und des Geistes, aber die Appelle der Rückkehr zum einfachen, kindlich-elementaren Christentum erweisen sich eins ums andere Mal als machtlos gegenüber den Gespenstern des Nihilismus und Satanismus.
Eine unablässige, hartnäckig kreisende, den Zeitpfeil des Fortschritts dementierende Reflexion öffnet den Hohlraum, den Amiel mit dem Schreiben am Tagebuch füllt. Hegels Geschichtsphilosophie des Geistes als Annäherung zum Absoluten fasziniert ihn vielleicht auch deshalb so sehr, weil sie dem eigenen Lebensgefühl diametral widerspricht, dem Bewusstsein der fortlaufenden Selbstauflösung: „Ich kann ebensowenig einen meiner Tage in meinem Gedächtnis wiederfinden wie ein Glas Wasser, das in den See gegossen ist... Ich bin flüssig, damit muß ich mich abfinden.” Liquidierung – im Doppelsinn von ,Verflüssigung- und ,Vernichtung‘ – des Lebens, das ist eine der denkbaren Formeln für Amiels auswegloses Tagebuch.
Zu den frühen Lesern dieses Tagebuches gehörte Leo Tolstoi. Im Jahre 1894 publizierte er die Stellen, die er bei der Lektüre angestrichen und die seine Tochter Marja ins Russische übersetzt hatte. Der Schweizer Kulturhistoriker Felix Philipp Ingold hat jetzt Tolstois Auswahl erstmals auf Deutsch herausgebracht. Die Übersetzung folgt der französischen Ausgabe, die Tolstoi benutzte. Ihren Reiz gewinnt die Ausgabe vor allem dadurch, dass sie jeweils – in Klammern – den gesamten Eintrag druckt, wenn Tolstoi nur einen Passus entnimmt, und so seine Streichungen kenntlich macht.
So treten hier beide zusammen vors Publikum: Amiel, der Autor des Tagebuchs, und Tolstoi, sein Leser und russischer Herausgeber. Im erhellenden Kommentar Ingolds wird das Hauptmotiv des Amiel-Lesers Tolstoi deutlich akzentuiert: Er suchte einen Bundesgenossen bei der Abkehr von der Kunst und glaubte ihn in dem Genfer Bürger gefunden zu haben. Scharf setzt er in seinem Vorwort, das hier erstmals übersetzt ist, Amiels Tagebuch in Gegensatz zu aller Belletristik, von der er argwöhnt, ihre Zeit gehe zu Ende – auch die seiner eigene Romane und Erzählungen. Sein großes Formbewusstsein verleugnend, präsentierte Tolstoi das Tagebuch Amiels als kunstlose Äußerung des Lebens selbst, als Dokument beispielhafter „Aufrichtigkeit” und vorbildlichen Gottsuchertums zugleich.
Der alternde Tolstoi ist der Widerpart des jungen Hugo von Hofmannsthal, der 1891 in seinem Essay über dieses „Tagebuch eines Willenskranken” die Umrisse des ästhetischen Dilettantismus und einen Stichwortgeber der abgründigen Aporien des Fin de Siècle entdeckt hatte. Aber so sehr Tolstoi die Sentenzen und Trostsprüche des Gottsuchers, sein Sich-Anklammern an das ständig entgleitende Absolute in den Vordergrund rückte, so wenig gelang es ihm, Amiel den ausweglosen Reflexionsspiralen und ihrer Macht der Liquidierung zu entziehen. Der Bürger aus Genf blieb ein ungreifbarer Wassergeist.
LOTHAR MÜLLER
HENRI-FRÉDÉRIC AMIEL: Tag für Tag. Intime Aufzeichnungen. Textauswahl und Vorwort von Leo Tolstoi. Aus dem Französischen von Eleonore Frey. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Felix Philipp Ingold. Pendo Verlag, Zürich 2003. 309 Seiten, 24, 90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Wir erfahren, erläutert Dieter Hildebrandt, in diesem "schönen" Band nicht nur etwas über den Genfer Philosophieprofessor und Schöngeist Henri-Frederic Amiel, sondern auch, anhand der hier beibehaltenen Auswahl, viel über ihren einstmaligen Herausgeber Leo Tolstoi. Der, weiß Hildebrandt, hatte 1894 - Amiel war da bereits tot - gerade beschlossen, selber nichts mehr zu schreiben und entdeckte in Amiel einen seiner Säulenheiligen. Einer, der sich gerade zurückzieht, findet zu einem, der "nie im Leben aus sich herausgegangen war"? Paradox, meint Hildebrandt, der Tolstois unbedingte Begeisterung für die penibel geführten Aufzeichnungen des einsamen Pflichtmenschen Amiel zwar nicht ganz nachvollziehen kann, der aber zugesteht: "Immerhin gelingen ihm aus der Position dessen, der vor sich selbst zum kritisch beäugten Außenseiter wird, Zeitdiagnosen, die auch noch nach hundert Jahren Aktualität besitzen (...); in manchem erinnert er dann an die Verve eines Karl Kraus."

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