Produktdetails
  • Verlag: Atrium Zürich
  • ISBN-13: 9783855359387
  • ISBN-10: 3855359385
  • Artikelnr.: 23929074
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.12.2000

Am falschen Ort
zur falschen Zeit
Anita Lobel erinnert sich
an ihre Kindheit
Alle Erinnerungen von Überlebenden der Shoa ähneln einander, jede von ihnen ist auf ihre eigene Art unglaublich. Als Lektüre sind sie eine Belastung, aber zumutbar auch für junge Leser. Ruth Klüger, Cordelia Edvardson und jüngst (in einer späten Übersetzung) Uri Orlev machten beachtete Literatur aus ihren Kindheits- und Jugenderinnerungen. Sie überlebten die Lager und gehörten damit zu den Ausnahmen, wie auch Anita Lobel. Das Versteck auf dem Dachboden heißt ihr Buch, „Eine Kindheit in Polen” der Untertitel. Bisher wusste man von Anita Lobel nur, was aus den Klappentexten ihrer Bilderbücher, von denen einige auch ins Deutsche übersetzt wurden, zu lesen war: „1934 in Krakau geboren, als Malerin und Erzählerin in den USA bekannt und beliebt”, oder, „kam auf der Flucht über Schweden nach Amerika, wo sie heute mit dem Künstler Arnold Lobel verheiratet ist, zwei Kinder hat und in Brooklyn lebt”. Und nirgends ein Wort von Niania!
Niania! Es reicht nicht, sie in Yad Vashem zu ehren. Ein Denkmal müsste her, mitten in Krakau. Wenn ein Denkmal nur auch einen Wert hätte. Niania starb, alt und ewig an Kopfweh leidend, an einem Gehirntumor, irgendwo in Polen Ende der vierziger Jahre, weit weg von Anita. Die war da ein Teenager, wieder zu Kräften gekommen in Stockholm. Monate der Verfolgung lagen hinter dem Mädchen, die „am falschen Ort, zur falschen Zeit” geboren worden war. 1939 waren die Nazis zum ersten Mal in ihre Wohnung eingedrungen, „ihre Gewehrläufe” noch „höflich zur Decke gerichtet”. Die Mutter tauchte mit falschen Papieren unter, der Vater verschwand nach Russland. Das katholische Kindermädchen Niania übernahm die Sorge für die kleine Anita und den noch kleineren Bruder. Sie gehen aus der Stadt zu Verwandten aufs Dorf. Als auch dort Juden abgeholt werden, flüchten sie in Nianias Dorf. Dort gibt sich Niania als Mutter der Kinder aus. Für die Kinder war sie dazu schon längst geworden. Sie betteln und tauschen bei den Bauern, bis es auch hier zu unsicher wird. Anita geht mit ihrem Bruder ins Krakauer Ghetto. Niania holt sie wieder heraus, nimmt sie mit in ein Benediktinerinnen-Kloster, wo sie entdeckt werden.  Niania rennt hinter dem Laster her. Das letzte Bild von ihr. Lange Märsche, Lager folgen, Auschwitz, Ravensbrück . . . Anita beginnt es „schnell als selbstverständlich anzusehen, dass sich das Leben immer am Abgrund . . . abspielte”. Die Kinder treiben einfach mit in den Todeslagern ohne Orientierung und ohne Schutz, und dann endlich: „Wir sind in Auschwitz. Es hat etwas Großartiges, das zu wissen. ” Die schreckliche Gewissheit als Erleichterung. Als die Körper nur noch Bündel sind, aus denen Durchfall tropft, kommt ein Bus vom Roten Kreuz.
Stockholm, alles weiß, alles sauber, alles kräftig und gesund. Anita will immer in diesem Sanatorium bleiben, bei den blonden Mädchen. Mit ihnen singen im Kirchenchor. Zu den christlichen Heiligen beten, an Niania denken. Und dann tauchen plötzlich Eltern auf, hilflose, geduckte, schwarzhaarige, jüdische Eltern. Anita schämt sich – Scham, das Grundgefühl der Überlebenden, wie Primo Levi schrieb. Sie hat Identitätsprobleme, die sie dann einigermaßen meistert. Irgendwie meistern sie den Alltag alle, die Überlebenden. Anita Lobel, heute eine anerkannte Kinderbuchillustratorin aus Brooklyn, beschwört künstlerisch Krisen herauf, wenn ihr das Leben zu harmonisch abläuft. Mit Worten setzt sie Niania ein Denkmal: „Sie betete die Heilige Mutter Gottes an, misstraute Juden, aber beschützte meinen Bruder und mich mit dem Flügelschlag eines wahnsinnigen Engels. ” (ab 12 Jahre)
KATRIN DIEHL
ANITA LOBEL: Das Versteck auf dem Dachboden. Eine Kindheit in Polen. Aus dem Amerikanischen von Ilse Strasmann. Atrium Verlag 2000. 208 Seiten, 12 Seiten Fotos, 29,80 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Das Buch erzählt die wahre Geschichte der Jüdin Anita Lobel, die als Kind Auschwitz überlebte. Vor allem ihrem Kindermädchen Niania setzt die Geschichte ein Denkmal. Denn Anitas Eltern waren untergetaucht, Niania brachte Anita zu Verwandten aufs Dorf, gibt sich als ihre Mutter aus, nimmt sie mit in ein Benediktiner-Kloster. Dort werden sie und ihr Bruder entdeckt, kommen nach Auschwitz, überleben. Die Rezensentin Katrin Diehl erzählt im wesentlichen die Geschichte des Buches nach und liefert die Information, dass Anita Lobel heute als erfolgreiche Kinderbuchautorin in New York lebt.

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